Fotografieren unter Lebensgefahr
»Wollen Sie sehen, wie ich es gemacht habe? So, das war’s.« Nur für den Bruchteil einer Sekunde blitzt die Kamera aus einem langen Mantel hervor, bevor sie wieder hinter dem Stoff verschwindet. In einem kurzen Videoausschnitt aus dem Jahr 1987 stellt der polnisch-israelische Fotograf und Shoah-Überlebende Henryk Ross nach, wie er unter Lebensgefahr heimlich Tausende von Bildern im Ghetto Łódź aufnahm.
Die Sequenz ist Teil der Ausstellung »Flashes of Memory. Fotografie im Holocaust«, die noch bis zum 28. Januar 2024 im Museum für Fotografie in Berlin zu sehen ist. Kuratiert hat sie Vivian Uria, die Direktorin des Museums der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Die gesamte Ausstellung ist eine Leihgabe, die in Yad Vashem bereits 2018 gezeigt wurde und nun erstmals im Ausland zu sehen ist.
Im Zentrum der Ausstellung steht die kritische Auseinandersetzung mit der nach wie vor verbreiteten Annahme, Fotografie gebe weitestgehend die Realität wieder, sei ein »Spiegel der Wirklichkeit«. Wie groß jedoch die Möglichkeit zur Manipulation sowie der Einfluss von Ideologie und Weltanschauung, von Empathie und Widerstandskraft bei der Objektwahl und Darstellungsweise sind, hebt die Ausstellung auf bemerkenswerte Weise hervor, indem sie sich in drei Abschnitte gliedert, welche jeweils einen für die visuelle Dokumentation der Shoah bedeutenden Aspekt des Themas behandeln: Fotografie als mächtiges Instrument für nationalsozialistische und damit insbesondere radikal antisemitische Propaganda, die die Massen mobilisieren sollte; als Akt des Widerstands und Beweismittel von Juden; und als Mittel zur Dokumentation und Selbstinszenierung, wie es insbesondere die alliierten Streitkräfte nach der Befreiung einsetzten – diese Bilder wurden später beispielsweise bei den Nürnberger Prozessen gezeigt.
Fotografieren in den Ghettos war nicht nur der verzweifelte Versuch, Beweise für die unmenschlichen Zustände zu bewahren, sondern auch ein Werkzeug, um den jüdischen Widerstand zu dokumentieren.
Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Grenze zwischen privater und offizieller Fotografie. Die NS-Politik verwischte diese Grenze nämlich, indem sie die offiziellen Fotografinnen und Fotografen, die im Auftrag der Regierung arbeiteten, die Filmindustrie und schließlich auch die Amateurfotografie dazu verpflichtete, in ihrem Sinne zu handeln. Vor allem auch die Amateurfotografie wurde gezielt für die massenhafte Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda und antisemitische Hetze genutzt. So rief das nationalsozialistische Hetzblatt Der Stürmer seine Leserschaft und damit auch Privatpersonen dazu auf, ihre Aufnahmen von Jüdinnen und Juden einzusenden, um antisemitische Stereotype hinsichtlich vermeintlich typischer physiognomischer Merkmale zu festigen – zahlreiche Amateurfotografen kamen dem nach.
Doch auch die in der Ausstellung gezeigten Aufnahmen jüdischer Fotografen, insbesondere aus dem Warschauer Ghetto und dem Ghetto Łódź, stellen die beiden Dimensionen »privat« und »offiziell« heraus. Der Besitz von Kameras war Jüdinnen und Juden verboten; es gab jedoch wenige Ausnahmen. »Da ich offiziell über eine Kamera verfügte, konnte ich die gesamte tragische Zeit im Ghetto Łódź festhalten. Mir war bewusst, dass meine Familie und ich gefoltert und getötet würden, wenn sie mich dabei erwischen«, erzählte Henryk Ross 1987. Er war neben Mendel Grossman offizieller Fotograf im Statistischen Amt des »Judenrats« im Ghetto. Neben seinen offiziellen Auftragsarbeiten für das nationalsozialistische Regime, welche die wirtschaftliche Effizienz des Ghettos belegen sollten, dokumentierte Ross heimlich auch das wahre Elend der Lebensumstände von Jüdinnen und Juden im Ghetto – einige seiner Fotografien wurden später im Eichmann-Prozess als Beweismittel angeführt.
Außer dem offensichtlichen Gräuel sind jedoch auch zahlreiche Aufnahmen zu sehen, die den Alltag der eingesperrten Menschen zeigen. Kleinste Details geben hier auch berührende Einblicke: Auf einigen wenigen Bildern ist ein fragiles Aufrechterhalten von jüdischer Kultur zu erkennen, andere zeigen Widerstandskämpfer im Untergrund des Ghettos. Fotografieren war hier nicht nur der verzweifelte Versuch, Beweise für die unmenschlichen Zustände in den Ghettos zu bewahren, sondern auch ein Werkzeug, um den jüdischen Widerstand zu dokumentieren.
Die Fotografie als Beweismittel gewann mit den von den alliierten Befreiern angefertigten Dokumentationen nochmals an Bedeutung. Auch diese Bilder flossen unter anderem in die Nürnberger Prozesse ein. Sie dienten außerdem dazu, der internationalen Öffentlichkeit die Gräuel bekannt zu machen, die die Soldaten beim Eintreffen in den Lagern vorfanden, und auch die deutsche Bevölkerung mit ihnen zu konfrontieren.
Nicht zuletzt geht die Ausstellung auch der Frage nach, in welchem Verhältnis die Fotografen, die Fotografie und das Fotografierte im Kontext der Verbreitung antisemitischer NS-Propaganda stehen, wobei sie treffend Fotografie als »Spiegel des Antisemitismus« bezeichnet. Zahlreiche Aufnahmen deutscher Fotografinnen und Fotografen von Jüdinnen und Juden insbesondere in den Ghettos wurden arrangiert, um vermeintliche Authentizität mit antisemitischen Stereotypen zu kombinieren.
Die Ausstellung ist auch deshalb sehenswert, weil sie die enorme Wirkmacht von Fotografie nachvollziehbar macht. Zu diesem Zweck wurden viele Objekte mit Kommentaren versehen, die Hintergrundinformationen liefern und so helfen, die Bilder einzuordnen. Warum ging Leni Riefenstahl während des Drehs zu ihrem Propagandafilm »Olympia« (1938) vor einer Glasscheibe in die Knie, welche Aufnahmen wurden wie und mit welcher Intention arrangiert, welchen Nutzen hatten die rekonstruierten Bilder nach der Befreiung von Auschwitz durch die sowjetische Armee?
Auch der besondere Aufbau der Ausstellung verstärkt ihre Wirkung. Durch den Raum winden sich wellenartig geschwungene schwarze Wände, ihr oberer Teil erinnert an die für alte analoge Kameras so typischen ledernen Schutzriemen, die Jahreszahlen zur historischen Orientierung lassen an die feingliedrig aufgedruckten Maßangaben für Abstand und Belichtung denken. Die Wände sind pechschwarz, wie hinter einer lichtundurchlässigen Verschlussklappe. Dabei ist das Ausstellungsdesign – welches an das Durchwandern des Inneren einer analogen Kamera erinnert – doch überraschend unaufdringlich.
In der Mitte des Raums wird dagegen mit diesem Konzept gebrochen. Auf drei Tischen liegen hier Hunderte sich überlagernde Kopien von Fotografien von NS-Propaganda, Aufnahmen jüdischer Fotografen und jenen der alliierten Streitkräfte, hell erleuchtet und ohne jegliche Beschriftung. Sie können als Aufforderung verstanden werden, insbesondere bei visuellen Dokumenten des Holocaust und allgemein bei Bildmaterial, das als historische Quelle dient, immer wieder genau hinzuschauen.
Die Ausstellung »Flashes of Memory. Fotografie im Holocaust« im Museum für Fotografie in Berlin läuft noch bis zum 28. Januar 2024.