Der israelische Werder-Fan Hersh Goldberg-Polin wurde von der Hamas entführt

Bring Hersh back home!

Unter den Geiseln der Hamas befindet sich auch ein 23jähriger Israeli, der Fan von Werder Bremen ist. Wie es dazu kam, weiß unser Autor zu berichten, der den Fan-Austausch zwischen Werder und Hapoel Jerusalem mit in Gang gebracht hat.

Hersh Goldberg-Polin ist einer der jungen Menschen, die von der Hamas am frühen Morgen des 7. Oktober auf dem Musikfestival des Veranstalters »Tribe of Nova« in der Nähe der Grenze zum Gaza-Streifen angegriffen und als Geisel nach Gaza-Stadt verschleppt wurden. Der Grund, warum ich über ihn schreibe, liegt darin, dass er nicht nur ein Musik- sondern auch Fußballfan ist. Genauer: Anhänger des Vereins Hapoel Jerusalem und von Werder Bremen. Was sich ungewöhnlich anhört, hat eine längere Vorgeschichte, die auf einem geförderten Jugendaustausch zwischen Werder-Fans und Fans aus Israel basiert.

Es war für mich als damaligem Mitarbeiter des Fanprojekts Bremen gar nicht so einfach, im Jahr 2007 Werder-Fans davon zu überzeugen, nach Israel zu reisen und die dazu benötigten Mittel zu erhalten. Auch nach dem offiziellen Ende der »Zweiten Intifada« im Februar 2005 wurden in Israel immer wieder Anschläge verübt – bis zum 30. April 2008 sollten durch diesen Terror insgesamt 1.053 Israelis, darunter mindestens 119 Kinder, sterben. Immerhin fand sich eine kleine Schar zusammen, die die Reise, unterstützt von dem israelischen Bildungsträger »Dialog« aus Haifa, nach Jerusalem wagten.

Opfer der Hamas: Aner Shapiro und Hersh Goldberg-Polin (r.)

Opfer der Hamas: Aner Shapiro und Hersh Goldberg-Polin (r.)

Bild:
privat

Würden wir Fußballvereine finden, mit denen man sich austauschen kann? Und was ist mit ihren Fans? In Israel angekommen, trafen wir die Fans von Hapoel Katamon, die den Verein Hapoel Jerusalem verlassen hatten, weil er von einem Baumogul gekauft worden war und dieser die demokratische Vereinsstruktur zerstört hatte. Als Ersatz hatten sie Hapoel Katamon gefunden, einen alten Arbeiterverein, der seine besten Jahre schon hinter sich hatte und kurz vor der Auflösung stand. Den übernahmen sie, mit Unterstützung des alten Vorstands, und machten ihn zum Fan-Verein, der es bis in die Erste Liga schaffte. Mittlerweile haben diese Fans ihren Ursprungsverein Hapoel Jerusalem übernommen, denn der Bauunternehmer war am Ende gescheitert.

Werder-Fans baten die Bremische Bürgerschaft um Hilfe, starteten mehrere Stadionchoreographien für Hersh und organisierten einen Spendenaufruf, der Hamas-Opfern aus der Fanszene direkt helfen soll.

Diese engagierten und fortschrittlichen Fans hatten es den Bremern angetan – und auch die Katamon-Anhänger mochten die Werder-Fans. Und so ergaben sich weitere vom Zentrum für deutsch-israelischen Jugendaustausch Conact finanzierte Begegnungen in Bremen und Jerusalem. Mit dazu gehörten auch Besuche bei palästinensischen Fußballclubs in der Westbank. Die Katamon-Fans legten großen Wert auf den Austausch mit arabischen Fans und hatten in Jerusalem einen jüdisch-arabische Spielbetrieb aufgebaut, die Begegnungen fördern und Kindern und Jugendlichen helfen sollte.

Irgendwann verselbstständigte sich der Jugendaustausch, was besonders der Bremer Ultragruppe Infamous Youth zu verdanken ist. Es entstand eine Fanfreundschaft, die bis heute anhält. Immer wieder reisen Gruppen entweder nach Israel oder nach Bremen, ganz ohne die Fördermittel und meine Unterstützung, denn die ist schon lange nicht mehr notwendig. Und so war auch Hersh einer derjenigen, die zu Werder-Spielen nach Bremen kamen. Er traf dort auf Freunde und Gleichgesinnte, auch die Stadt schien ihm zu gefallen. Noch Anfang dieses Jahres war er in der Ostkurve des Weserstadions und feuerte die Heimmannschaft an.

Und dies war dann auch der Grund, warum die Ultras den Werder-Präsidenten Hubertus Hess-Grunewald um Hilfe baten: »Das war für mich selbstverständlich, sofort zuzusagen«, sagte er etwas später. »Ich habe dann alle Kanäle genutzt, wie zum Beispiel Amnesty International, um zu helfen.« Werder machte auf die Geiselnahme aufmerksam. Zuletzt war Hersh auf der Videowand im Weserstadion zu sehen, zusammen mit einer weiteren Geisel aus der Fanszene von Maccabi Haifa.

Hersh im Werder-Shirt

Hersh im Werder-Shirt

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Außerdem baten die Fans die Bremische Bürgerschaft um Hilfe, starteten mehrere Stadionchoreographien für Hersh und organisierten einen Spendenaufruf, der ihn und weiteren Hamas-Opfern aus der Fan-Szene direkt helfen soll. Der Spen­denaufruf ist unter der Überschrift »Solidarität mit unseren Freund:innen in Israel!« auf der Website Gofundme zu finden.

Aber es gibt mittlerweile nicht nur eine Freundschaft mit Werder-Fans und Anhängern von Hapoel Jerusalem, sondern auch eine zweite, die noch zur Zeit des Jugendaustauschs entstand. Denn andere Bremer Ultras nahmen sich ein Beispiel und fanden Freunde bei Maccabi Haifa. Dort fand sich eine etwas andere Szene als bei Katamon, die besser zur Fan-Gruppe Ultra Boys passte.

Hershs Freunde berichten, dass er sich für den Frieden zwischen den Palästinensern und Israelis einsetzte. Er wird als weltoffener Mensch beschrieben, der Stadionchoreographien gegen Rassismus und Homophobie entwickelte. »Ich vermisse ihn sehr. Ich möchte, dass er schnell wieder zurück kommt«, sagt Arturo, einer von Hershs engsten Freunde aus seiner Ultragruppe, der Jungle World.

Hershs Eltern, Jon Polin und Rachel Goldberg, hatten sich in Chicago kennengelernt, wo sie auch aufgewachsen waren. Bevor die Familie 2008 nach Israel zog, lebte sie in Richmond, Virginia. Rabbiner Daniel Yolkut von der Gemeinde Poale Zedeck erinnerte sich in einem Gespräch mit dem Pittsburgh Jewish Chronicle Anfang November noch gut an sie. Rachel Goldberg habe regelmäßig aus Israel geschrieben, sagte er, besonders im Gedächtnis war ihm ihre Schilderung einer Veranstaltung für den im Juni 2006 von Hamas entführten Soldaten Gilad Shalit geblieben. Als sie mit den Eltern von Gilad Shalit gesprochen habe, sei sie in Tränen ausgebrochen, schrieb sie, »denn ich sah meinen schlimmsten Alptraum«.

Heute engagiert sich Rachel Goldberg unermüdlich für die Freilassung der am 7. Oktober entführten Geiseln. In einer Reportage zeigten sie und ihr Mann das Domizil ihres Sohnes – ein typisches Zimmer eines Fußballfans: Es ist voller Devotionalien von Hapoel Jerusalem und Aufklebern seiner Ultragruppe Brigade Malcha. Auf einem Bügel hängen Werder-Schals.

»Stellen Sie sich Ihre eigene Mutter vor und dann stellen Sie sich vor, wie ihr gesagt wird, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder bist du tot oder dir wurde der Arm weggeschossen und du wurdest mit vorgehaltener Waffe nach Gaza entführt, und niemand weiß, wo du bist, oder dass du vor 18 Tagen in diesem Pick-up verblutet bist.«

Am frühen Morgen des 7. Oktobers, um elf Minuten nach acht Uhr, hatte Hersh seinen Eltern zwei kurze Textnachrichten gesendet. »Ich liebe euch«, lautete die eine, in der anderen schrieb er: »Es tut mir leid.« Ihr Sohn hatte sich gemeinsam mit anderen Festivalbesuchern in einen Schutzbunker auf einem Feld geflüchtet, der jedoch von den Terroristen mit Handgranaten attackiert wurde. Seinem besten Freund Aner Shapiro war es noch gelungen, sieben davon wieder zurückzuwerfen, bevor sie explodierten, dann wurde er getötet.

Hersh Goldberg-Polin wurde mutmaßlich durch eine der Detonationen verletzt. Der CNN-Moderator Anderson Cooper zeigte seiner Mutter einen kurzen Filmausschnitt, in dem sie ihn zweifelsfrei identifizierte. Ein Teil seines linken Armes war abgerissen, er hatte sich offenkundig selbst eine Art Druckverband angelegt – während seines erst im April beendeten Militärdienstes hatte er unter anderem als Sanitäter gearbeitet. Bilder zeigen, dass er es trotz seiner schweren Verletzung noch schaffte, sich mit nur einer Hand auf einen der Trucks zu hieven, mit denen die Terroristen ihre Opfer in den Gaza-Streifen brachten.

Hershs Zimmer in Israel

Hershs Zimmer in Israel

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privat

Rachel Goldberg reiste schließlich zur Uno, die es ihr gestatteten, eine Rede zu halten: »Die grausamste Frage, die jedem von uns jeden Tag gestellt wird, ohne dass es böse gemeint ist, ist: ›Wie geht es dir?‹« beschrieb Goldberg in dieser Rede die Gefühle der Familien der Verschleppten. »Stellen Sie sich Ihre eigene Mutter vor und dann stellen Sie sich vor, wie ihr gesagt wird, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder bist du tot oder dir wurde der Arm weggeschossen und du wurdest mit vorgehaltener Waffe nach Gaza entführt, und niemand weiß, wo du bist, oder dass du vor 18 Tagen in diesem Pick-up verblutet bist.«

Goldberg fordert unter anderem, dass das Internationale Rote Kreuz Zugang zu den Geiseln erhält und die Familien der Verschleppten endlich Klarheit über ihr Schicksal erhalten. Ihr Sohn ist nicht der einzige israelische Fußballfan unter den Hamas-Geiseln. Inbal Heyman, Fan von Maccabi Haifa, war auch auf dem Musikfestival. Sie wurde ebenfalls von der Hamas in den Gaza-Streifen verschleppt. Ihr Freund gab dem Sender Deutsche Welle ein Interview und sagte: »Diese Situation bringt mich um. Ich möchte sie einfach nur wiedersehen, meine Liebe zurückhaben.«