Frauen mit Behinderung sind besonders gefährdet durch häusliche Gewalt

Nicht alle können in Sicherheit leben

Neue Statistiken zeigen einen signifikanten Anstieg häuslicher Gewalt im Vergleich zum Vorjahr. Frauen mit Behinderung sind besonders gefährdet.

Häusliche Gewalt ist eine düstere Realität. Die Landeskriminalämter haben im vergangenen Jahr bundesweit fast 180.000 Fälle registriert. Das ist ein Anstieg um 9,3 Prozent im Vergleich zum ersten Pandemiejahr 2021. Zwei Drittel der Opfer sind demnach Frauen. Dabei wird eine besonders gefährdete Gruppe von Opfern oft übersehen: Frauen mit Behinderung.

Wie viele der Opfer eine Behinderung haben, wird von der Polizei nicht erfasst. Martina Puschke, Leiterin der Politischen Interessenvertretung behinderter Frauen im Weibernetz e. V., teilte der »Tagesschau« mit, dass für Frauen mit Behinderung die Gefahr, Opfer sexueller Gewalt zu werden, jedoch zwei- bis dreimal so hoch sei wie für Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Jede zweite Frau mit Behinderung erlebe sexualisierte Gewalt. Studien unterstützen Puschkes Einschätzungen.

Hierfür benennt Puschke verschiedene Gründe. Die Abhängigkeit von Betreuern, Pflegepersonal oder Familienmitgliedern und Partnern könne Ausbeutung und Machtmissbrauch begünstigen. Solche Beziehungen ermöglichten es Tätern, sexuelle Gewalt ohne effektive Gegenwehr auszuüben.

Zudem kann die Kommunikation über sexuelle Gewalt für Frauen mit kognitiven oder sprachlichen Einschränkungen erschwert sein und sich als eine weitere große Hürde herausstellen. Ihre soziale Isolation kann zu Informations-, Wissens- und Erfahrungsdefiziten führen. Und sie gelten oft als weniger glaubwürdig. Dies gestaltet eine rechtliche Verfolgung der Täter noch schwieriger. Ein weiteres Hindernis bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen mit Behinderung ist zudem die mangelnde Sensibilisierung für das Thema. Das kann dazu führen, dass Hinweise auf Vergehen übersehen werden oder die Betroffenen ihre Notlage aus Angst vor Ablehnung oder Unverständnis verschweigen.

»Die allererste Bedingung, die die Frauen erfüllen müssen, um in einer Schutzeinrichtung wohnen zu können, ist, dass sie ihren Alltag eigenständig stemmen können.« Ida, Sozialarbeiterin in einem Leipziger Frauenhaus

Frauenhäuser sollen Frauen einen sicheren Zufluchtsort bieten. Für Frauen mit Behinderung sind sie das aber nur, wenn diese Häuser deren spezifische Bedürfnisse berücksichtigen. »Die allererste Bedingung jedoch, die die Frauen erfüllen müssen, um in einer Schutzeinrichtung wohnen zu können«, teilt die Sozialarbeiterin Ida Möller* der Jungle World mit, »ist, dass sie ihren Alltag eigenständig stemmen können.« Denn außerhalb der Bürozeiten seien die Sozialarbeiterinnen nur telefonisch erreichbar. Ida arbeitet in einem Leipziger Frauenhaus. Zusätzliches Pflegepersonal zu engagieren, sei schwierig: »Je mehr Personen Zugang zu diesen anonymen Schutzeinrichtungen haben, desto bekannter wird die Adresse und umso mehr steigt die Gefahr, dass die Frauen gefunden werden.«

Die Kapazitäten von Frauenhäusern in Deutschland reichen nicht aus, den Bedarf zu decken. Während häusliche Gewalt zunimmt, gibt es kaum freie Plätze. Noch schlechter sieht die Situation in barrierefreien Einrichtungen aus. In Berlin beispielsweise gibt es erst seit 2021 ein barrierefreies Frauenhaus. Der angespannte Wohnungsmarkt erschwert einen Umzug obendrein. Viele Frauen mit Behinderung sind daher gezwungen, bei ihrem gewalttätigen Partner zu bleiben.

Selbst in barrierearmen Frauenhäusern ergeben sich Alltagsprobleme. Idas Einrichtung verfügt über eine barrierefreie Wohnung. Sie ist mit einem Rollstuhl gut erreichbar – der Rest des Hauses jedoch nicht. »Wir können zwar in der Schutzwohnung die Beratung geben, allerdings ist die Bewohnerin von den Gemeinschaftsräumen ausgeschlossen«, teilt Ida mit. Ida zufolge ist der Wille zum Umbau vorhanden, »allerdings sind die Häuser meist auch so schon in einem schlechten Zustand und wurden seit Jahren nicht mehr renoviert«. Meist sei es eine Frage des Geldes, denn »die Umrüstung auf eine barrierearme Einrichtung ist sehr aufwendig«. Erst im September beschloss der Bundestag, den Gesundheitsetat, aus dem die Angestellten der Frauenhäuser finanziert werden, für das Jahr 2024 um rund acht Milliarden Euro zu kürzen.

* Name von der Redaktion geändert.