Samia Mohammed, Universität Bremen, im Gespräch über den Nutzen von Künstlicher Intelligenz für die Planwirtschaft

»Sozialistische Planwirtschaft geht ohne reale Machtbasis nicht«

Ein Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Samia Mohammed darüber, welche Möglichkeiten der Fortschritt in der Informations­technologie und bei Künstlicher Intelligenz eröffnet, planvoller als der Kapitalismus zu produzieren.
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In der Debatte über sozialistische Wirtschaftsrechnung standen sich seit den zwanziger Jahren Marktliberale und Sozialist:innen unversöhnlich gegenüber. Bürgerliche Ökonom:innen wie der österreichisch-amerikanische Ludwig von Mises bestritten, dass eine sozialistische Wirtschaftsrechnung funktionieren könne, da ohne den Marktmechanismus die Informationen über Kosten und Preise mangelhaft bleiben müssten. Was war ihr Argument für Preise und Märkte?
Friedrich Hayeks Informationsargument unterstellt dem Vorhaben einer geplanten Wirtschaft, dass sie Informationen zentralisieren müsse, die eigentlich nur verteilt vorlägen, und dass dies mit einer demokratischen und freien Form des Wirtschaftens nicht vereinbar sei. Preise und Märkte hingegen würden es ermöglichen, diese Form der verteilten Information kommensurabel zu machen, so dass man nicht jede Information über die Ökonomie braucht, um innerhalb dieser rationale Entscheidungen treffen zu können. Mises geht grundsätzlich davon aus, dass eine sozialistische Planwirtschaft irrational sein müsste. Der Einsatzpunkt der Planungsdebatte damals wie heute ist, dass die eigentliche irrationale Wirtschaftsweise die kapitalistische Produktionsweise ist.

In Anbetracht technologischer Fortschritte wie Künstlicher Intelligenz und verbesserter Informationstechnologie stellt sich die Frage nach Möglichkeiten zur Koordinierung der Wirtschaftstätigkeit in großem Maßstab neu. Linke verweisen häufig darauf, dass auch in kapitalistischen Unternehmen schon viel geplant werde. Wünschen sich diejenigen, die so argumentieren, also Planung, nur eben bedürfnis- und nicht profitorientiert?
Die Frage spielt auf das Buch »The People’s Republic of Walmart« von 2019 an. In ihm zeigen Leigh Phillips und Michal Rozworski, dass Großkonzerne wie Amazon oder Walmart intern riesige Planungsinfrastrukturen aufweisen. Damit ist das Argument der Liberalen hinfällig, weil Großkonzerne Tag für Tag beweisen, dass Planung durch­aus in der Größenordnung von Nationalökonomien möglich ist. Aber es kann nicht darum gehen, die Form der Planung, wie sie heute stattfindet, zu übernehmen. Die Planungsdebatte tritt sehr dezidiert für eine demokratisch-sozialistische Planung ein. Bei den Technologien, die uns zur Verfügung stehen, müsste im Einzelnen beurteilt werden, ob ihnen ihr Zweck innerhalb einer kapitalistischen Ökonomie eingeschrieben ist und ob sie sich umwidmen lassen.

Wie sehr bleibt die Debatte über eine sozialistische Wirtschaftsrechnung dem Bestehenden verhaftet und reproduziert Industrialismus und Produktivismus? Spielen Themen wie Reproduktion und Sorgearbeit eine Rolle?
Die Planungsdebatte in ihrer derzeitigen Form ist gut darin, alternative Imaginationen erst mal zu entwerfen und damit zu brechen, dass es nicht anders sein kann. Gleichzeitig ist sie der Gefahr ausgesetzt, das Bestehende einfach nur zu verlängern. Den Fokus auf Produktion kennen wir auch aus sozialistischen Zukunftsvisionen, da gibt es eine lange Tradition feministischer Kritik. Die Planungsdebatte ist dem Produktivismus definitiv unterworfen, einzelne Akteur:innen versuchen aber auch, eine radikal andere Form der Zukunft zu entwerfen.

»Die Chancen, der Klimakrise mit demokratisch-sozialistischer Planung entgegenzuwirken, stehen deutlich besser als mit einer so kopflosen Form des Wirtschaftens wie dem Kapitalismus.«

Die Planungsdebatte könnte zeigen, wie es möglich wird, die Grenze zwischen Produktion und Reproduktion aufzuweichen, indem sie eine bedürfnisorientierte Form des Wirtschaftens in den Mittelpunkt stellt und fragt, welche Tätigkeiten eine Gesellschaft am Laufen halten. Das passiert noch zu wenig. Aber diese Idee hält ganz viel Potential dafür bereit, Arbeiten nicht mehr nach der herrschenden Logik von vornherein einzuteilen und dadurch die eine Seite tendenziell unsichtbar zu machen, sondern Produktion und Reproduktion stärker zusammenzudenken.

Der belarussisch-amerikanische Publizist Evgeny Morozov plädiert in seinem einflussreichen Artikel »Digital Socialism« im britischen Magazin New Left Review 2019 dafür, politische Kämpfe um die »Feedback-Infrastruktur« zu führen. Was meint er damit?
Bei Morozov wird deutlich, dass sich die Planungsdebatte stark auf digitale In­frastrukturen und die Möglichkeiten von Informationstechnologie bezieht. Er versucht, systematisch aufzuarbeiten, was das eigentlich bedeutet, auch für ein zukunftsfähiges sozialistisches Projekt. Morozov nimmt Hayeks Informationsargument, dass nicht jede Form von Wissen in einer kommunizierbaren Form vorliegt, die an eine höhere Ebene einfach verlustfrei weitergegeben werden kann, sehr ernst. Er versucht aber zu zeigen, wie digitale Instrumente uns helfen können, dieses Argument zu widerlegen oder Lösungen dafür zu formulieren.
Er zeigt, wie die Kommunikation über digitale Foren oder Netzwerke es ermöglichen kann, dass wir im Bereich der Ökonomie ohne Preise und Märkte trotzdem Informationen darüber bekommen, wer was konsumiert oder zur Verfügung stellen kann. Morozov argumentiert dafür, dass eine linke Bewegung um diese Feedback-Infrastruktur, also die Infrastruktur, die Daten überhaupt hervorbringt, Kämpfe führen und die digitalen Produktionsmittel genauso in den Blick nehmen muss wie die klassischen.

Morozov spricht sich auch für »dezentralere, automatisierte und apparatschikfreie« Alternativen zur zentralen Planung aus. Welche Rolle spielen zentralstaatlich und technokratisch orientierte Konzepte in der Planungsdebatte?
Die Frage der Zentralisierung ist umstritten. Argumenten für Zentralität, wie ein Koordinationsvorteil oder Interdependenzen in einer globalisierten, vernetzten Welt, stehen Argumente für Dezentralität gegenüber, die auch nicht von der Hand zu weisen sind, wie das, dass sie mehr Unmittelbarkeit bewahren kann. Es ist eventuell demokratischer, wenn eine stärkere Basisbeteiligung ermöglicht wird.
Wenn man Hayeks Informationsargument ernst nimmt, ist das auch indirekt ein Argument für eine dezentralere Organisierung. Wenn zum Beispiel Arbeiter:innenräte selbst an Ort und Stelle bestimmte Entscheidungen treffen, können sie ihre Erfahrung und ihr Wissen direkt mit einfließen lassen. Ein Trend geht zu kybernetischen Ansätzen, die die zentrale und dezentrale Ebene möglichst funktional verbinden wollen. Übergreifende Feedback-Schleifen sorgen beständig für den Informationsfluss und ermöglichen es, möglichst dezentral zu arbeiten und trotzdem die notwendigen Informationen an die zentrale Ebene zu übermitteln und Interdependenzen zu berücksichtigen.

Geht mehr Planung zwangsläufig mit mehr Naturbeherrschung einher oder eröffnet eine sozialistische Planwirtschaft auch die Möglichkeit einer Befriedung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses?
Tatsächlich wird die Klimakrise als ein Motivator angeführt, sich wieder stärker mit Planung zu beschäftigen. Auch wenn die Planungsdebatte das gesellschaftliche Naturverhältnis oft nur sehr instrumentell einbezieht oder auf Ressourcenverbrauch reduziert, glaube ich, dass das nicht zwangsläufig so sein muss.
In einer sozialistischen Planwirtschaft wäre es möglich, Ressourcen in den Dienst der Bedürfnisbefriedigung zu stellen. Planung ist dafür notwendig, reicht aber nicht aus. Wenn Grund und Boden vergesellschaftet werden, könnte man demokratisch entscheiden, dass bestimmte Ökosysteme sich wieder regenerieren sollen, und sich einem kollektiven Kampf gegen die Klimakatastrophe verschreiben. Eine bewusste Koordinierung der Ökonomie hält die Möglichkeit bereit, natürliche Ressourcen effizienter zu nutzen, weil sich aus Kooperation kein Wettbewerbsnachteil mehr ergibt.
Die Planungsdebatte lässt sich also nicht auf Planung als Instrument verengen, sondern sozialistische Eigentumsverhältnisse hängen damit unmittelbar zusammen und müssen mitgedacht werden. Die Chancen, der Klimakrise mit einer Form von demokratisch-sozialistischer Planung entgegenzuwirken, stehen deutlich besser als mit einer so kopflosen Form des Wirtschaftens wie dem Kapitalismus.

In Büchern wie »Reinventing Capitalism in the Age of Big Data« (»Das Digital: Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus«) plädieren Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge 2018 dafür, den Kapitalismus mittels Big Data zu reformieren. Ist ein Szenario, in dem technische Innovationen die bestehende Produktionsweise stärken, in Anbetracht der politischen Kräfteverhältnisse nicht viel wahrscheinlicher als eine demokratisch-sozialistische Planwirtschaft?
Leider ja. Die Frage zeigt einmal mehr, dass eine sozialistische Planwirtschaft ohne reale Machtbasis nicht möglich ist. Big Data wird ja die ganze Zeit schon im Sinne des Bestehenden nutzbar gemacht. Aber viele Innovationen müssen nicht inhärent kapitalistisch sein, sondern können auch einen Ausweg weisen. Es ist ja ein altes sozialistisches Argument, dass der Kapitalismus die Mittel zu seiner Überwindung selbst hervorbringt. Ein Computer als Rechenmaschine kann für sozialistische Zwecke genutzt werden, indem seine Rechenkapazität für eine komplexe Form von demokratischer Planung verwendet wird.
Es ginge auch darum, mit mehr technischem Know-how im Einzelnen zu eruieren, welche Technologien ein emanzipatorisches Potential haben. Ich glaube nicht, dass jeder Algorithmus oder jede KI sozialistisch genutzt werden kann. Aber die Möglichkeiten, die uns damit eröffnet werden, sollten wir ernst nehmen, auch wenn es gegenwärtig danach aussieht, als würde alles erst mal im Sinne des Bestehenden weiterlaufen.

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Samia Mohammed ist seit 2022 Doktorandin im interdisziplinären Graduiertenkolleg »Contradiction Studies« der Universität Bremen und Mitglied in der AG Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien im Fachbereich Sozialwissenschaften. Sie hat an der Universität Bielefeld im Bachelor Politik- und Literaturwissenschaft und im Master Politik­wissenschaft mit Aufenthalten in Bordeaux und Frankfurt am Main studiert und ihr Studium mit einer Arbeit zur sozialistischen Planwirtschaftsdebatte abgeschlossen.