Wes Anderson verfilmt für Netflix den zarten Roald Dahl

Kleine große Filme

Wes Anderson hat für Netflix vier Geschichten von Roald Dahl verfilmt und dabei den wunderbaren Erzähler vor dem hasserfüllten Schwätzer, der Dahl auch war, in Schutz genommen.

Auch die größten Fans mussten zugeben, dass es in den vergangenen Jahren schwer wurde, Wes Andersons Regiearbeiten uneingeschränkt gut zu finden. Nach so wunderbaren Filmen wie »Die Tiefseetaucher« (2004), »Darjeeling Limited« (2007) und »Moonrise Kingdom« (2012) schien die Sache abgemacht: Anderson hatte sich bis zur Selbstparodie auf einen sofort erkennbaren modus operandi festgelegt.

Aber zum Glück hat er jetzt doch einen Ausweg gefunden. Zum einen hat er sich dieses Mal an Kurzfilmen versucht, die nicht gleich den großen Erzählbogen aufspannen. Mit dem hatte er immer gewisse Schwierigkeiten – Anekdote, Setting und Situationskomik sind ihm viel wichtiger als eine bis in jeden Nebenstrang stimmige Narration. Es erweist sich, dass die kürzere, konzentrierte Form mehr Konsistenz, man möchte beinahe sagen: Effizienz mit sich bringt.

Anderson hat sich nicht neu erfunden, radikal das Genre oder den Stil gewechselt. Er hat im Gegenteil bestimmte altbekannte Kunstgriffe so auf die Spitze getrieben, dass etwas faszinierend Neues daraus entstanden ist.

Die vier neuen Kurzfilme, die Anderson für Netflix gemacht hat, haben zudem von Anfang an eine solide Grundlage – nämlich je eine Erzählung von Roald Dahl (»Ich sehe was, was du nicht siehst«, »Der Schwan«, »Der Rattenfänger« und »Gift«). Schon bei »Der fantastische Mr. Fox« (2009) hatte Anderson eine glückliche Hand bei der Adaption von Dahls Stoffen bewiesen. »Der Rattenfänger« schlägt auch eine Brücke zu dem älteren Film – an entscheidender Stelle tauchen plötzlich Stop-Motion-Sequenzen auf, die überdeutlich an die seinerzeitigen Gegner von Mr. Fox erinnern.

Die zweite formale Neuerung, die sich Anderson auferlegt hat, kann man nur als Geniestreich bezeichnen. Dabei hat er sich nicht neu erfunden, radikal das Genre oder den Stil gewechselt. Er hat im Gegenteil bestimmte altbekannte Kunstgriffe so auf die Spitze getrieben, dass etwas faszinierend Neues daraus entstanden ist.

In seinen früheren Filmen war die Kulissenhaftigkeit der Filmbauten immer wichtig; dass die Schauspieler sich »wirklich« durch einen fahrenden Zug, ein Schiff oder ein Hotel bewegten, sollte nie mit der illusionistischen Beharrlichkeit behauptet werden, die herkömmliche Filme auszeichnet. Die Dekonstruktion der Illusion aber, die man früher als augenzwinkernde Marotte konsumieren konnte, ist bei den neuen Filmen zum bestimmenden Element geworden. Immer wieder werden die Außenwände von Häusern hoch- oder weggeschoben, um den Blick auf das Innere freizugeben, Menschen betreten ein Getreidefeld, indem sie eine Tür öffnen, auf der das Getreide nur aufgeklebt ist, Bühnenarbeitern werden bei laufender Handlung Requisiten übergeben und so weiter.

Damit schließt Anderson an Inszenierungsarten an, wie man sie aus dem frühen Kino kennt. Man kann sogar vermuten, dass er auf eine Ästhetik abzielt, wie sie entstünde, wenn Georges Méliès mit heutigen technischen Möglichkeiten wieder Filme machen würde.

Während Brecht seinem Publikum »Glotzt nicht so romantisch!« zuruft, beharrt Anderson auf der Wirkmacht der rational eingehegten, oft ironisch gebrochenen Emotion, deren Fehlen unweigerlich zu Erstarrung und Zynismus führt.

Die Schauspieler leisten bei all dem Schwerarbeit. Denn Anderson hat sie zu etwas fast Unmöglichem genötigt: Sie spielen jeweils ihre Figur, deren Geschichte sie gleichzeitig im Stil einer szenischen Lesung vortragen. Wenn die Schauspieler nicht aus der allerersten Liga stammen würden (unter anderem Ben Kingsley, Ralph Fiennes, Benedict Cumberbatch und Rupert Friend), könnte das peinlich und bemüht wirken, aber das Gegenteil ist der Fall. Kingsley zum Beispiel ist als indischer Wundermann in »Ich sehe was, was du nicht siehst« genauso stark wie als Arzt in »Gift«, während Cumberbatch in beiden Filmen als reicher, aber läuterungsbereiter Schnösel beziehungsweise als eingebildeter Kranker brilliert.

Die synergetische Wirkung von Spiel und Kulisse ist hier enorm. Es geht Anderson nicht um einen Verfremdungseffekt wie bei Brecht, der das Publikum vom sentimentalen Herumfühlen zum Denken über die Verhältnisse und seine eigene Lage bringen soll. Viel eher ist das Publikum angehalten, nicht so gleich­gültig gegenüber dem zu sein, was es schon lange zu kennen glaubt. Während Brecht seinem Publikum »Glotzt nicht so romantisch!« zuruft, beharrt Anderson auf der Wirkmacht der rational eingehegten, oft ironisch gebrochenen Emotion, deren Fehlen unweigerlich zu Erstarrung und Zynismus führt. »Tut nicht so überlegen!« rufen die vier Geschichten, und zwar ziemlich laut.

Also wird ein britischer Oberklassendummkopf in »Ich sehe was, was du nicht siehst« durch die Geschichte von einem indischen Wundertäter so erschüttert, dass er seine Fähigkeiten im Glücksspiel von nun an in den Dienst einer guten Sache stellt. Er verändert nicht die Gesellschaft, die Casinos ermöglicht, aber er nimmt sie aus und wird zum Verbündeten von Unterprivilegierten, die sonst keine Verbündeten haben. Die Ideologie der Wohltätigkeit, die allzu oft auf Steuersparmodelle hinausläuft, kann immer kritisiert werden, aber man stelle sich einmal einen Elon Musk vor, der auf ähnliche Weise erschüttert würde wie der Oberklassendummkopf in Dahls Geschichte – was für eine wohltuende Idee!

Auch in »Gift« geht es um eine Form der Dummheit, die allerdings nicht gezähmt und überwunden wird, sondern die sich in einem Moment emotionaler Anspannung un­gehindert Bahn bricht. Zur Zeit der Kolonialherrschaft in Indien wähnt sich ein britischer Soldat in einer Notlage. Der indische Arzt, der alles gibt, um ihn aus dieser Notlage zu befreien, erkennt schließlich, dass sie nur eingebildet ist, sieht sich aber, als er den Soldaten darauf hinweist, mit krassestem Undank und gröbsten rassistischen Beschimpfungen konfrontiert. Die Art, wie in diesem Film von nur 17 Minuten Länge Spannung generiert und dann, bei ihrer Entladung, in eine blitzhafte Erkenntnis über Machtverhältnisse transformiert wird, ist schon sehr ­bemerkenswert.

Den Hass auf Israel und die Juden, den Dahl vor allem in späteren Jahren geäußert hat, kann man fast als Blaupause für die derzeit wieder einmal aufblühende antisemitische Hetze sehen.

Das gilt noch mehr für »Der Schwan«, den stärksten der vier Filme. Rupert Friend, der hier ein erwachsen gewordenes Mobbing-Opfer gleichzeitig dar- und vorstellt und dazu sein gequältes jugendliches Ich durch die Handlung begleitet, spielt mit hoher Intensität. Das rasante Tempo der Darstellung und die Hoffnung, dass alles doch nicht so schlimm werden möge, wie man es sich ausmalen kann, machen diesen Film so packend wie einen guten Thriller. Aber der Horror ist ein gewöhnlicher, er findet so oder ähnlich millionenfach jeden Tag statt, und dadurch wird aus dem kleinen Drama auf der Grenze zwischen Theater und Film doch ein Lehrstück, eine Kritik der Grausamkeit, wie man sie so konzentriert selten zu sehen bekommt.

Kritik an Klassendünkel, Rassismus und Grausamkeit? Wurde Roald Dahl in den vergangenen Jahren nicht vorgeworfen, er habe in seinen ­Geschichten und in Interviews selbst Rassismus, Antisemitismus und ­Sexismus verbreitet? In der Tat, und die Vorwürfe lassen sich gut begründen. Den Hass auf Israel und die Juden, den Dahl vor allem in späteren Jahren geäußert hat, kann man fast als Blaupause für die derzeit wieder einmal aufblühende antisemitische Hetze sehen.

Wes Anderson ist mit seinen neuen Dahl-Verfilmungen eine schwierige Mission geglückt: Er hat den wunderbaren Erzähler vor dem hasserfüllten Schwätzer Dahl in Schutz genommen und das an Dahl gerettet, was gerettet werden konnte und sollte. Bleibt zu hoffen, dass er jetzt nicht regelmäßig weitere Geschichten Dahls auf die gleiche Weise zu retten versucht. Denn wenn beide Geschichtenerzähler ein Problem verbindet, dann die Tendenz zur Wiederholung einer erfolgreichen Formel. Wes Anderson sollte sich gerade jetzt eine Dahl-Pause gönnen und den Umgang mit den Geschichten des großen, fehlerhaften Erzählers nicht zur Masche verkommen ­lassen.

Die Filme »Ich sehe was, was du nicht siehst«, »Der Schwan«, »Der Rattenfänger« und »Gift« können bei Netflix gestreamt werden.