Israel ringt um die Freilassung der Verschleppten und die Zerschlagung der Hamas

Geiseln im Gaza-Streifen: Harte Verhandlungen

Israel ringt um die Freilassung weiterer Geiseln. Außerdem hat Ministerpräsident Netanyahu Pläne für den Gaza-Streifen ohne die Hamas vorgelegt.

Jerusalem. Eine Übereinkunft über ein Geiselabkommen und einen vorübergehenden Waffenstillstand ist nach wie vor unsicher. In Paris begannen am Wochenende Verhandlungen zur Freilassung der israelischen Geiseln, die seit dem Überfall der Hamas auf Israel vom 7. Oktober von der palästinensischen Terrororganisation im Gaza-Streifen festgehalten werden. Am Montag wurden die Gespräche im katarischen Doha fortgesetzt. Von den 253 aus Israel Entführten befinden sich nach Angaben israelischer Medien noch 134 in Gefangenschaft, 105 Geiseln waren unter der Vermittlung der USA, Ägypten und Katars Ende November im Austausch für 240 palästinensische Gefangene während einer Feuerpause freigekommen.

Nachdem sich Vertreter Israels und der USA zunächst optimistisch zeigten, dass es noch vor Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan, am Vorabend des 11. März, zu einer erneuten Einigung kommen könnte, scheint der Abschluss eines Abkommens nun doch wieder ungewiss. »Es gibt keinen Durchbruch«, verlautbarte das katarische Außenministerium am Dienstag und distanzierte sich von einer Äußerung des US-Präsidenten Joe Biden am Tag zuvor, wonach dieser hoffe, dass es bereits in der kommenden Woche einen Deal geben werde, wie das israelische Nachrichtenportal N12 berichtete. An den Verhandlungen beteiligt sind Israel, die USA, Katar und Ägypten. Die Hamas ist nicht direkt vertreten, ihre Position wird über die Unterhändler Katars und Ägyptens kommuniziert. Zu einem bei dem Treffen in Paris ausgehandelten Vorschlag habe sich die Führung der Terrororganisation noch nicht geäußert, heißt es in Medienberichten.

Die israelische Regierung betont, dass eine komplette Zerschlagung der Hamas, neben der Befreiung der Geiseln, das zentrale Ziel der Militäroperation sei.

Möglich wurden die Verhandlungen offenbar dadurch, dass die Hamas zunächst von ihrer Forderung nach einem kompletten Rückzug der israelischen Armee aus dem Gaza-Streifen als Bedingung für die Freilassung von Verschleppten abgerückt war. »Ansonsten hätte es überhaupt keine Perspektive gegeben, dass man bei den Verhandlungen irgendwie weiterkommen kann«, kommentiert Roi Kais vom Fernsehsender Kan 11 am Samstagabend. Der Journalist Ohad Hemo vom Fernsehsender Keshet 12 berichtete jedoch, dass die Hamas Anfang der Woche »ihren Ton geändert« habe. Eine Reihe ihrer Vertreter hätten sich dahingehend geäußert, dass sie nun doch auf einem Ende der Kriegshandlungen bestehen würden.

Die israelische Regierung hingegen betont, dass eine komplette Zerschlagung der Hamas, neben der Befreiung der Geiseln, das zentrale Ziel der Militäroperation sei. Ein Positionspapier zur Zukunft des Gaza-Streifens mit dem Titel »Der Tag nach der Hamas«, das Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu vergangene Woche Donnerstag seinem Kabinett vorlegte, bestätigt dies abermals. Im ersten Absatz des Dokuments heißt es: »Die israelische Armee wird den Krieg so lange fortsetzen, bis seine Ziele erreicht sind: die Vernichtung der militärischen Fähigkeiten sowie der administrativen Infrastruktur der Hamas und des Islamischen Jihad; die Rückkehr der Geiseln und eine dauerhafte Verhinderung einer Bedrohung aus dem Gaza-Streifen.«

Die Pläne sehen vor, dass »lokale Beamte« für die zivile Verwaltung des Gaza-Streifens eingesetzt werden, die nicht mit »Ländern oder Organisationen, die den Terrorismus unterstützen« verbunden sind. Israel will auch einen »Plan zur Deradikalisierung (…) in allen religiösen, erzieherischen und sozialen Einrichtungen im Gaza-Streifen« fördern. Langfristiges Ziel ist die Schließung des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), von dem Israel einige Mitarbeiter beschuldigt, an den Attacken vom 7. Oktober beteiligt gewesen zu sein.

Die IDF sollen demnach auch zukünftig »unbegrenzte Handlungsfreiheit« behalten, die Einrichtung einer Sicherheitspufferzone zum israelischen Staatsgebiet werde fortgesetzt. Dieser Plan steht in direktem Widerspruch zur Haltung der US-Regierung, die darauf besteht, dass das Gebiet des Gaza-Streifens nicht verkleinert wird. Die USA wollen, dass eine reformierte Palästinensische Autonomiebehörde (PA) nach dem Krieg die Verwaltung übernimmt, was Netanyahu bislang ablehnt. In seinem Grundsatzdokument wird die PA nicht genannt, ihre Beteiligung nach dem Krieg also nicht ausgeschlossen.

Am Montag kündigte der Ministerpräsident der PA, Mohammed Shtayyeh, seinen Rücktritt an, was als Zeichen dafür aufgefasst wird, dass die PA bereit sei, Reformen zu akzeptieren, um in Zukunft eine Rolle bei der Regierung des Gaza-Streifens zu spielen. Es wird erwartet, dass der PA-Präsident Mahmoud Abbas den Vorsitzenden des Palästinensischen Investitionsfonds, Mohammed Mustafa, zum neuen Ministerpräsidenten ernennt. Die Fatah-Partei, die die PA im Westjordanland kontrolliert, und die Hamas hatten sich in der Vergangenheit wiederholt erfolglos um eine Einheitsregierung bemüht.

Israels Finanzminister Bezalel Smotrich von der nationalreligiösen Partei sorgte für Empörung, als er sagte, dass die Befreiung der Geiseln für ihn nicht die höchste politische Priorität habe.

Gegenstand der laufenden Verhandlungen in Doha ist, wie viele israelische Geiseln freigelassen und wie viele der palästinensischen Straftäter im Gegenzug aus israelischen Gefängnissen entlassen werden sollen, außerdem gehe es um die Dauer einer von der Hamas geforderten Feuerpause und den Umfang humanitärer Hilfe für den Gaza-Streifen, berichten israelische Medien. Ferner fordert die Hamas, dass Israel eine Rückkehr der palästinensischen Bevölkerung in die im Zuge der Kämpfe evakuierten Gebiete des Gaza-Streifens sowie den Wiederaufbau der zerstörten Zonen ermögliche. Der in Paris ausgehandelte Vorschlag, zu dem sich die Hamas bis Dienstag noch nicht geäußert hat, sehe die Freilassung von 35 bis 45 israelischen Geiseln vor. Für jede von ihnen sollten zehn palästinensische Gefangene entlassen werden.

Am Mittwoch vergangener Woche sorgte Israels Finanzminister Bezalel Smotrich von der nationalreligiösen Partei für Empörung, als er dem Radiosender Reshet Bet sagte, dass die Befreiung der Geiseln für ihn nicht die höchste politische Priorität habe. In dem Interview sprach Smotrich zunächst über die Erfolge der israelischen Armee im Kampf gegen die Hamas im Gaza-Streifen. Als der Journalist Igal Gueta einhakte und sagte: »Es sind noch 134 Geiseln im Gaza-Streifen. Die haben wir noch nicht zurückgebracht. Das ist das Wichtigste«, widersprach Smotrich: »Nein, das ist nicht das Wichtigste.« Auf die ungläubige Rückfrage Guetas, »Die Befreiung der Geiseln ist nicht das Wichtigste?«, bestätigte Smotrich seine Position: »Alles ist wichtig. Es ist auch wichtig, den Krieg zu gewinnen und die Hamas zu zerstören.«

Protest gegen die Äußerung des Finanzministers kam vor allem von Angehörigen der Verschleppten. Bei einer Demonstration in Tel Aviv vergangene Woche Mittwoch rief der aufgebrachte Vater einer Geisel: »Herr Smotrich, ich wünsche Ihnen, dass Ihre Kinder gekidnappt werden. Dann werde ich auf die Straße gehen und rufen: Das ist nicht wichtig.« Bei einer weiteren Demonstration am Freitag sagte ein Angehöriger eines Entführten gegenüber Kan 11: »Ich bin mit dem Verständnis aufgewachsen, dass die Mitglieder dieser Gesellschaft Verantwortung füreinander übernehmen. Wenn der Finanzminister sagt, dass die Befreiung der Geiseln nicht das Wichtigste ist, dann verstößt er damit gegen die Grundwerte der israelischen Gesellschaft.«

Israels Oppositionsführer und ehemaliger Ministerpräsident, Yair Lapid, schrieb auf X: »Der Angriff Smotrichs auf die Familien der Verschleppten ist eine Schande. Herzlose Menschen dürfen diesen Staat nicht weiter in den Abgrund führen.« Ohne die Rückkehr der Entführten könne Israel nicht gewinnen.

Am Samstagabend setzte die Polizei in Tel Aviv Wasserwerfer und berittene Kräfte gegen Teilnehmer einer nicht genehmigten Protestkundgebung für vorgezogene Neuwahlen ein und nahm 21 Demonstranten fest. Vier Personen mussten verletzt ins Krankenhaus eingeliefert werden. In Mitleidenschaft gezogen wurden auch Teilnehmer einer gleichzeitig stattfindenden genehmigten Kundgebung von Angehörigen der Entführten. Die Mutter einer Geisel sowie die Lebensgefährtin einer freigelassenen Geisel wurden von den Wasserwerfern getroffen. Am Tag danach entschuldigte sich die Polizei für ihr Vorgehen.

»Sollten die Geiseln bis zum Ramadan nicht zu Hause sein, werden die Kampfhandlungen fortgesetzt und auf Rafah ausgeweitet werden.« Benjamin Gantz, ehemaliger Generalstabschef und Mitglied des israelischen Kriegskabinetts

Dass die Hamas offenbar zumindest anfänglich Bereitschaft signalisierte, über eine Freilassung der Entführten zu verhandeln, obgleich Israel ein Ende der Kriegshandlungen ohne eine Zerschlagung der Hamas kategorisch ausschließt, führt der Nahostexperte Uzi Rabi von der Universität Tel Aviv darauf zurück, dass die palästinensische Terrororganisation mit dem Rücken zur Wand stehe. Sie hoffe, durch die Aushandlung eines temporären Waffenstillstands Zeit zu gewinnen und eine drohende Ausweitung der israelischen Militäraktion auf die Stadt Rafah im Süden des Gaza-Streifens aufzuhalten.

Die israelische Armee hatte zunächst die nördlichen Teile des Gaza-Streifens unter ihre Kontrolle gebracht. Die palästinensische Zivilbevölkerung wurde Richtung Süden evakuiert und konzentriert sich nun rund um Rafah nahe der ägyptischen Grenze. International wird Israel für die Pläne kritisiert, auch dort militärisch vorzugehen. Man befürchtet eine Verschärfung der humanitären Krise im Gaza-Streifen, wo dem UN-Welternährungsprogramm zufolge immer mehr Menschen der Hungertod droht.

In einem Interview mit dem US-amerikanischen Fernsehsender CBS am Sonntag bezeichnete Netan­yahu die Stadt als die letzte Hochburg der Hamas, eine Militäroperation in Rafah sei daher unvermeidlich; sollte es zu einer Übereinkunft kommen, werde sie verschoben, jedoch nicht abgesagt. Zuvor hatte Benjamin Gantz, ehemaliger Generalstabschef und Mitglied des israelischen Kriegskabinetts, bei einer Konferenz in Jerusalem gesagt: »Sollten die Geiseln bis zum Ramadan nicht zu Hause sein, werden die Kampfhandlungen fortgesetzt und auf Rafah ausgeweitet werden.«