Hasen, Monster, Prinzen
Wenn nachts die tote Schwester umgeht und nach ihrem Kind fragt, ist der Gedanke an das Märchen »Brüderchen und Schwesterchen« der Gebrüder Grimm nicht weit. Aber in den Erzählungen der koreanischen Autorin Bora Chung geht es hochmodern zu und deshalb ruft die Schwester nicht »Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?«, sondern »Was macht mein Baby?« Was der Bruder derweil treibt? Wird nicht verraten.
Bora Chung bedient sich in ihren unter dem Titel »Der Fluch des Hasen« veröffentlichten Geschichten munter am internationalen Märchenschatz, immer wieder findet sich Vertrautes, Anlehnungen an Grimms Märchen, an Hans Christian Andersen, »Tausendundeine Nacht«, und immer wieder fallen wir aus allen Wolken, weil es doch ganz anders ausgeht als erwartet. Von wegen »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«
Es geht hier aber nicht nur um Märchen im klassischen Sinne, auch Science-Fiction-Geschichten können Märchenelemente enthalten.
Aber nicht alle Erzählungen nehmen ein bitteres Ende und oft stellt sich auch die Frage, was denn überhaupt ein märchenhaft schöner Abschluss wäre. Ist es wirklich so gut für das Dorf, von der Bestie befreit zu werden, der sie alle sieben Jahre ein Kind opfern müssen? Ist der Prinzessin tatsächlich damit gedient, den geliebten Prinzen unter unendlichen Anstrengungen von seinem Fluch zu befreien? Hat sich da schon mal irgendwer Gedanken gemacht?
Bora Chung tut es, und ihre Antworten sind umwerfend. Es geht hier aber nicht nur um Märchen im klassischen Sinne, auch Science-Fiction-Geschichten können Märchenelemente enthalten – denn ist die unglücklich liebende Künstliche Intelligenz auf ihre Weise nicht auch eine Art verwunschener Prinz?
Und der Hase aus dem Titel des Erzählbandes? Der ist kein Prinz, aber niedlich ist er auch nicht, und wer immer schon einmal etwas über die noble Art des Verfluchens erfahren wollte, wird bei Bora Chung unschätzbares Wissen erwerben.
Bora Chung: Der Fluch des Hasen. Erzählungen. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Culturbooks, Hamburg 2023, 264 Seiten, 24 Euro