Nach dem Wahlerfolg der FPÖ liebäugelt die ÖVP mit einer Koalition beider Parteien

Anschwellende Nazi-Gesänge

Die rechtsextreme FPÖ ist erstmals stärkste Partei bei einer Nationalrats­wahl in Österreich geworden. Die Regierungsbildung hängt nun von der Koalitionsentscheidung der konservativen ÖVP ab.

Klagenfurt. Koalitionsverhandlungen sind in Österreich meist eine langwierige Angelegenheit, seit 1945 dauerten sie im Durchschnitt 68 Tage. Eine schnelle Einigung ist auch nach der Nationalratswahl vom 29. September nicht zu erwarten. Die FPÖ ist mit 28,9 Prozent der Stimmen erstmals seit ihrem Bestehen stärkste Partei in Österreich geworden, das sind 12,7 Prozentpunkte mehr als bei der Wahl 2019.

Nur zwei Tage vor der Wahl hatte die FPÖ noch einmal ganz offen gezeigt, was sie ist. Mehrere ihrer Spitzenfunktionäre besuchten das Begräbnis eines »Alten Herren« der rechtsextremen Burschenschaft Olympia in Wien. Dort erklang dann aus vielen Kehlen die SS-Hymne »Wenn alle untreu werden«. Keiner der anwesenden FPÖ-Politiker störte sich am Nazi-Gesang.

Die entscheidende Frage ist nun, ob sich die konservative ÖVP, die mit 26,3 Prozent zweitstärkste Partei wurde, für eine Koalition mit der FPÖ entscheiden wird. Es gibt andere Optionen. 

Die entscheidende Frage ist nun, ob sich die konservative ÖVP, die mit 26,3 Prozent zweitstärkste Partei wurde, für eine Koalition mit der FPÖ entscheiden wird. Es gibt andere Optionen. Möglich wäre eine Koalition mit der SPÖ (21,1 Prozent), mit zusammen 92 Abgeordneten hätte die Regierung dann allerdings nur eine Stimme Mehrheit. Um eine stabile Mehrheit zu erreichen, könnten die liberalen Neos (9,1 Prozent) oder die Grünen (8,2 Prozent) in eine Koalitionsregierung aufgenommen werden.

Am 1. Oktober forderte Kanzler Karl Nehammer (ÖVP), Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen solle die FPÖ mit der Regierungsbildung beauftragen. Auch den Posten des Nationalratspräsidenten solle die FPÖ bekommen. Es sei, so Nehammer, schließlich »Tradition«, die stärkste Partei so zu behandeln. Dass es die ÖVP mit solcherlei politischer Folklore nicht besonders eng sieht, bewies sie freilich nach der Wahl im Jahr 1999, als sie als damals drittstärkste Partei die Kanzlerschaft für sich aushandelte – in der ersten Koalition mit der FPÖ.

Nehammer beharrt allerdings bislang darauf, dass der FPÖ-Vorsitzende Herbert Kickl nicht der Regierung angehören dürfe. Kickl sei Populist, es fehle ihm an Verantwortungsgefühl, so Nehammer, ansonsten aber gebe es »sehr viele Vernünftige in der FPÖ«.

Homophobe Propaganda auf Face­book

Einflussreiche Kräfte innerhalb der ÖVP bevorzugen eine Koalition mit der FPÖ. Bevor Nehammer meinte, die FPÖ solle den Regierungsauftrag bekommen, war er mit der niederösterreichischen Landeshauptfrau (entspricht etwa einer Ministerpräsidentin eines deutschen Bundeslandes) Johanna Mikl-Leitner und dem oberösterreichischem Landeshauptmann Thomas Stelzer (beide ÖVP) in einer Sitzung gewesen.

Mikl-Leitner und Stelzer koalieren beide seit längerer Zeit in ihren Bundesländern mit der FPÖ. Beide lassen sich durch nichts abschrecken. Weder hatte es die oberösterreichische ÖVP gestört, dass der dortige FPÖ-Landesparteivorsitzende Manfred Haimbuchner auf Face­book unfreiwillig komische, aber dar­um nicht weniger widerliche homophobe Propaganda gepostet hatte (»Ich will nicht, dass der Franz den Lois heiratet, damit sie den Sepp adoptieren können«), noch stieß sich Mikl-Leitner daran, vom niederösterreichischen FPÖ-Vorsitzenden Udo Landbauer auf Plakaten als »Moslem-Mama« verhöhnt zu werden.

Die sogenannte Liederbuch-Affäre, in deren Zuge bekannt wurde, dass die rechtsextreme Burschenschaft Germania zu Wiener Neustadt, deren stellvertretender Vorsitzender Landbauer damals war, ein Liederbuch herausgegeben hatte, in dem es unter anderem hieß: »Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million«, konnte die niederösterreichische Partei ebenso wenig von einer Koalition mit Landbauer abhalten wie ein weiterer musikalischer Fauxpas, für den der offenbar sangesfreudige Mann mit iranischem Hintergrund verantwortlich war. 2010 hatte Landbauer Spenden für die neonazistische Organisation Junge Patrioten gesammelt, damit diese ein, man ahnt es schon, Liederbuch herausgeben konnte. Das taten die Neonazis dann auch und in dem Büchlein finden sich unter anderem »Und wenn wir marschieren«, das Bundeslied des Bundes Deutscher Mädel (BDM), sowie das rassistische Hetzlied »Negeraufstand ist auf Kuba«.

Besonders intensiv werden Organisationen verfolgt, die sich mit Migration oder LGBT-Rechten beschäftigen.

Nicht nur Mikl-Leitner und Thomas Stelzer wirken auf Nehammer ein, es ihnen gleichzutun und erneut mit der FPÖ zu koalieren (wie schon 2000 bis 2005 und von 2017 bis 2019). Eine ganze Reihe ehemals hochrangiger und immer noch einflussreicher ÖVP-Politiker riet zu einem solchen Bündnis. Der vormalige Landeshauptmann Tirols, Herwig van Staa, ließ vernehmen, eine Regierung aus ÖVP und SPÖ und eventuell auch den Neos wäre eine »Koalition der Verlierer«.
Von manchen vielleicht unerwartet, aber durchaus seinem bisherigen Wirken entsprechend sprach sich auch ein einflussreicher SPÖ-Politiker gegen eine Regierungsbeteiligung seiner Partei und somit für eine FPÖ-Regierung aus: Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil verlautbarte, das Wahlergebnis seiner Partei sei »kein Auftrag, in eine Regierung einzutreten«. Dass Dos­kozil, der vom Dorfpolizisten zum führenden Politiker aufgestiegen ist, weltanschaulich eher rechts als links blinkt, ist ebenso bekannt wie seine parteiinternen Intrigen, die Pamela Rendi-Wagner, die Vorgängerin des derzeitigen SPÖ-Vorsitzenden Andreas Babler, zu Fall brachten. Dass er so offen bekundet, den Rechtsextremisten das Land ausliefern zu wollen, ist dennoch verblüffend.

In den kommenden Wochen wird viel von Bundespräsident Alexander Van der Bellen abhängen. Ihm obliegt die Ernennung des Kanzlers, doch muss er die Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat berücksichtigen, sein Einfluss ist also letztlich begrenzt. Man kann davon ausgehen, dass er im Falle einer von ÖVP und FPÖ angestrebten Koalition den einen oder anderen allzu offen neonazistischen Minister verhindern dürfte, denn der Präsident hat das Recht, die Ernennung vorgeschlagener Minister zu verweigern; aber er kann eine solche Regierung nicht aufhalten, ohne eine Verfassungskrise auszulösen. Einer Front aus FPÖ, ÖVP, den Boulevardmedien und, wichtiger, Industrie- und Gewerbeverbänden wird sich Van der Bellen wohl nicht lange widersetzen können.

Für die finanzielle Sanierung des Staats sollen, so die übereinstimmende Ansicht von FPÖ und ÖVP, gefälligst die Arbeiter:in­nen, Rentner:innen und Sozialhilfe­bezieher:in­nen aufkommen. 

Bedeutende Kapitalfraktionen in Österreich hätten lieber heute als morgen die nächste FPÖ-Regierungsbeteiligung, ja sogar FPÖ-Regierungsführung. Es werden demnächst nämlich so einige Rechnungen fällig, im Wortsinne und im übertragenen, auf deren Begleichung man in Vorstandsetagen und Villenvierteln wenig Lust verspürt. So dräut einigen ÖVP-Politikern und Unternehmern in deren Umfeld juristisches Ungemach wegen vieler dubioser Deals, die unter der Kanzlerschaft von Sebastian Kurz (ÖVP) und während der Covid-19-Pandemie geschlossen wurden, wie zum Beispiel der »Masken-Affäre«, bei der die Regierung mutmaßlich für zehn Millionen Euro mangelhafte Covid-Schutzmasken bei einer Firma mit guten Kontakten zur ÖVP gekauft hatte. Im Bündnis mit der ständig von Skandalen gebeutelten FPÖ, so die Kalkulation, werde man die Strafverfolgung bremsen oder unterbinden können.

Zusätzliche Schulden in Milliardenhöhe

Zudem hat Österreich im Zuge der Pandemie, des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sowie mehrerer durch den Klimawandel ausgelöster oder zumindest verschlimmerter Naturkatastrophen zusätzliche Schulden in Milliardenhöhe angehäuft. Für die finanzielle Sanierung des Staats sollen, so die übereinstimmende Ansicht von FPÖ und ÖVP, gefälligst die Arbeiter:in­nen, Rentner:innen und Sozialhilfe­bezieher:in­nen aufkommen. Daher wurde Babler, der im Wahlkampf unter anderem die Wiedereinführung der Vermögens- und der Erbschaftssteuer gefordert hatte, als ewiggestriger Marxist und Klassenkämpfer verspottet.

Mit einer Rückkehr zu sozialdemokratischer Politik, unter anderem eben mit der Forderung nach Wiedereinführung der 1993 respektive 2008 unter der Ägide der SPÖ abgeschafften Vermögens- und Erbschaftssteuer, hat die SPÖ ihren Stimmenanteil immerhin halten können – obwohl die Behandlung der Partei durch Österreichs bedeutende Medien an ungarische Verhältnisse erinnerte. Wie in Viktor Orbáns rechtem Wunderland haben sich die meisten in Privatbesitz befindlichen Zeitungen und Fernsehsender wie auch der öffentlich-rechtliche Österreichische Rundfunk (ORF) der Methode bedient, die Sozialdemokratie entweder totzuschweigen oder, wenn es sich nicht vermeiden ließ, doch über sie zu berichten, als chancenlos und ihren Vorsitzenden als Verlierer oder gefährlichen Linksextremisten darzustellen.

FPÖ-Party mit den Identitären

Das trug dazu bei, dass in Umfragen nach der Wahl zwar viele angaben, ihre Hauptsorgen seien die Teuerung und die steigenden Lebenshaltungskosten, also Themen, mit denen die SPÖ Wahlkampf machte, aber trotzdem lieber der Behauptung der FPÖ glaubten, man müsse nur »Frieden« zu den Bedingungen Russlands machen und die »Ausländer« rausschmeißen, und schon wäre wieder haufenweise Geld vorhanden.

Während die FPÖ triumphierte und am Wahlabend zusammen mit den offen Rechtsextremen der »Identitären Bewegung« bei ihrer Party feierte, waren andere Menschen besorgt. Oskar Deutsch beispielsweise, der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, sagte am Tag nach der Wahl, der Triumph der FPÖ wirke »auf viele bedrohlich«, denn anders als manche andere weit rechts stehende Partei in Europa sei die FPÖ mit antisemitischen deutschnationalen Burschenschaften im Bunde. Solche Sorgen werden die ÖVP, die in Österreich seit 37 Jahren an der Regierung beteiligt ist, aber wohl ebenso wenig beeindrucken wie die nach Angaben der Veranstalter:innen 25 000 Menschen, die am Freitag vergangener Woche in Wien gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ protestierten.