Mittwoch, 21.12.2016 / 15:02 Uhr

Jihadismus gegen die Willkommenskultur

Von
Hannah Wettig

Mit jedem Attentat in Paris, in Brüssel, in Istanbul wuchs die Angst. Wird es ein stehengelassener Rucksack sein wie damals in Madrid? Ein Sprengkörper in einer Mülltonne wie kürzlich in New York? Nun war es ein LKW wie in Nizza. Ein Laster raste in einen beliebten und belebten Weihnachtsmarkt vor einer der bekanntesten Kirchen Berlins – zwölf Tote, Dutzende Verletzte. Auch wenn die Motive hinter der Tat noch nicht geklärt sind, spricht vieles dafür, dass es sich um einen Anschlag in der Tradition der oben genannten handelt.

Hinter den benannten Anschlägen steckt noch eine Logik, die sich schon in den frühesten Schriften militanter Islamisten findet. Der moderne Islamismus hat von Anfang an auf den Gegensatz von Orient und Okzident gebaut. Die These vom „Zusammenprall der Zivilisationen“ ist nicht die Erfindung Samuel Huntingtons. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der Gründer der Muslimbruderschaft, Hassan al-Banna, von diesem Gegensatz gesprochen. Der radikale Ideologe Said al-Qutb hat die These in seinen Gefängnisschriften ausgebaut.

Dass Orient und Okzident unvereinbar im Widerspruch stünden, ist Kern islamistischer Ideologie. Es ist die Grundlage für ihre sichtbarste politische Forderung: Die Verschleierung der Frau und die Ablehnung jeglichen „westlichen“ Verhaltens – womit eine Vielzahl von Verhaltenweisen gemeint sein kann, von Sport bis Make-up. Diese These ist aber auch Grund für die Leerstelle der islamistischen Politik in Bezug auf alle anderen Fragen: Sie haben keine wirtschaftlichen, sozialstaatlichen oder sicherheitspolitischen Konzepte. Genau deshalb brauchen sie diesen Gegensatz so dringend: Andere Erklärungen für die Missstände der Welt, etwa kapitalismuskritische, sozialdemokratische oder auch imperial-neoliberale, haben sie nicht.

Ihr Zulauf in der Bevölkerung baut allein darauf, dass die Islamisten seit Jahrzehnten predigen, dass das Westliche und die Verwestlichung an allem Übel schuld seien – wohlgemerkt: Nicht „der Westen“ wie es die Antiimperialisten meist missverstehen und so in den Islamisten Brüder im Geiste erkennen, sondern jegliches Verhalten und alle Symbole, die westlich anmuten.

Das Schlimmste, das dem politischen Islam passieren kann, ist, dass dieses Weltbild bei ihrer potenziellen Anhängerschaft ins Wanken gerät. Darum sind gerade Muslime, die einen westlichen Lebensstil bevorzugen, ein bevorzugtes Angriffsziel. Aber auch den „Willkommenssommer“ in Deutschland im vergangenen Jahr müssen Islamisten als Gefahr wahrnehmen. Ausgerechnet ein Land der Ungläubigen hat hunderttausende Flüchtlinge aufgenommen aus einem Krieg, den die Jihadisten als Werk der Ungläubigen darstellen und aus dem sie derzeit ihr größtes Kapital ziehen. Noch dazu erschienen diese Ungläubigen oft menschlicher gegenüber den Flüchtlingen als die muslimischen „Brüder und Schwestern“ in den Nachbarländern. Das liegt auch daran, dass die Kapazitäten dort ausgeschöpft sind. Aber der Einzelne erlebt es so, dass er in der Türkei, dem Libanon oder in Jordanien die Aussichtslosigkeit gigantischer Massenauffanglager erleben muss, während er in Deutschland mit offenen Armen empfangen wird von Menschen, die ihn am Bahnhof mit Decken und Verpflegung erwarten. Ein Bild, ein Gegensatz, ein nachhaltiger Eindruck.

Als Kriegspartei ist Deutschlands Rolle irrelevant. Aber Merkels Deutschland als Leuchtturm der Hoffnung und Errettung aus dem Elend der Flucht – dieses Bild zu zerstören, würde den Interessen des „Islamischen Staates“ (IS) dienen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und mit ihr die Mehrheit der deutschen Bevölkerung haben den Gegensatz von Orient und Okzident – das Fundament des Islamismus selbst – für einen Moment aufgehoben. Gleich wer hinter der Tat von Berlin steckt – wenn sie ein weiterer Sargnagel für die fragile deutsche „Willkommenskultur“ wird, ist dies ein Sieg für den IS und alle radikalen Islamisten weltweit.