Samstag, 27.05.2017 / 09:30 Uhr

Sinjar: Bittere Befreiung

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Vergangene Woche wurde im nordirakischen Sinjargebirge das Dorf Kocho befreit. Für die Überlebenden des genozidalen Massenmordes, den Milizen des Islamischen Staates im August 2014 an den ezidischen Bewohnern des Sinjar verübten symbolisiert der Name Kocho das ganze Grauen, das damals geschah. Aus einem Bericht von damals:

Extremist fighters have killed more than 80 men and detained hundreds of women in a Yazidi village, Yazidis and Kurdish officials said Saturday. (...)

Islamic State militants drove into the village of Kocho, about 15 miles southwest of the town of Sinjar, on Friday, following a week-long siege in which the al-Qaeda inspired group demanded that residents convert to Islam or face death, said the reports, which could not be independently verified.

The men were rounded up and executed, while the women were taken to an undisclosed location, according to Ziad Sinjar, a pesh merga commander based on the edge of Mount Sinjar, citing the accounts of villagers nearby.

Die Befreiung von Kocho sollte also eigentlich ein Grund zur Freude sein, ist es aber nicht, weil inzwischen  die kurdischen Parteien KDP und PKK, die Türkei, irakische Zentralregierung und Iran wetteifern, wer die Kontrolle über dieses strategisch wichtige Gebiet in Zukunft ausüben wird.

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Seit der Iran seinen geplanten Landkorridor durch den Irak nach Syrien verlegt hat, richtet sich sein Augenmerk auf das Sinjargebirge, an dessen Südflanke eine wichtige Verbindungsstrasse zwischen Mosul und Aleppo verläuft. So beteiligen sich neuerdings nun auch schiitische Milizionäre an den Kämpfen um die letzten vom IS gehaltenen ezidischen Dörfer. Zugleich unterhält die PKK eine eigene ezidische Miliz, die offiziell an die von Bagdad bezahlten und weitestgehend vom Iran kontrollierten Haschd asch-Schabi-Milizen angegliedert ist.

Die PKK wiederum spielt seit längerem mit dem Gedanken, im Sinjar einen eigenen Kanton auszurufen, während die mit der Türkei verbündete Kurdisch Demokratische Partei (KDP) unter Massoud Barzani das Gebiet für sich beansprucht. Die KDP gerite 2014 unter heftige Kritik, weil sie die Bewohner des Sinjar trotz anderslautender Versprechen nicht vor dem IS beschützt hatte, sondern ihre Peshmerga vor den anrückenden Jihadisten flohen und die Zivilbevölkerung ihrem blutigen Schicksal überließ.

Die Türkei dagegen unternimmt alles - und bombardiert in letzter Zeit regelmäßig Stellungen ezidischer Milizen, die mit der PKK verbündet sind -, um so zu verhindern, dass an ihrer Grenze im Irak ein weiteres von der PKK kontrolliertes Gebiet entsteht.

Ein solches Szenario fürchtet auch die KDP, die seit langem die PKK auffordert, sich aus dem Sinjar zurückzuziehen.

Die Fronten also verlaufen so: Türkei und KDP gegen Iran, irakische Zentralregierung und die PKK. Wer dabei auf der Strecke bleiben wird sind einmal mehr die ezidischen Bewohner der Region, die bis heute zum hunderdtausenden in Flüchtlingslagern leben müssen und kaum Aussicht auf Rückkehr haben.

Entsprechend bitter fällt die Befreiung von Kocho aus, denn, wie Ezidipress schreibt, es geht nur noch um die kurzfristigen taktischen Ziele miteinander verfeindeter lokaler Akteure, denen allen das Schicksal der Ezidinnen und Eziden herzlich wenig bedeutet:

Die kurdische Führung im Nordirak beklagte sich zuvor über die Offensive der schiitischen Milizen, die um den Verlust des Südens fürchtet. Sie missbrauchte in der Vergangenheit die besetzten Dörfer und die Aussicht auf eine Befreiung als Druckmittel gegenüber den êzîdîschen Verantwortlichen. Die Befreiung des Südens haben sich nun die schiitischen Milizen auf die Fahne geschrieben und damit den Peshmerga und ihrem Präsidenten Masoud Barzani die Möglichkeit genommen, sich erneut als „Befreier der Êzîden“ zu inszenieren.

Die Rückeroberungen der Dörfer durch schiitische Milizen wird die politische Situation in Shingal jedoch noch komplexer machen und stößt bei vielen êzîdîchen Beobachtern auf Skepsis. Befürchtet wird, dass Bagdad die Kontrolle über den Süden für sich beanspruchen wird und sich im Machtkampf um die Region stärker als zuvor einschaltet. Dies könnte erneut zu einer Pattsituation führen, die bereits vor dem Völkermord an den Êzîden in Shingal herrschte und zu einer Marginalisierung der Region führte.

Der innerkurdische Machtkampf im Norden, die türkischen Luftschläge im Gebirge und nun die Partizipation der schiitischen Milizen Bagdads im Süden werden die Region auch nach vollständiger Befreiung praktisch unbewohnbar machen und eine Rückkehr der êzîdîschen Flüchtlinge weiter verzögern.