Montag, 25.06.2018 / 12:03 Uhr

Kriminalitätsfurcht und der Untergang des Abendlandes

Von
Gastbeitrag von Philip Thiée

An Kriminalität und besonders an Tötungsdelikten gesamtgesellschaftliche Probleme festzumachen erscheint als recht aussichtsloses Unternehmen – wenn man nicht gerade in Mexiko lebt, wo die Auseinandersetzungen um den Drogenhandel die Mordrate in die höhetreiben, weil man sie halt nicht als Bürgerkriegstote verbuchen will. Das liegt daran, dass Morde in Deutschland einfach so selten vorkommen. Über Berichte in der Lokalpresse schaffen dazu es die wenigsten hinaus.: Im Jahr 2000 gab es 497, im Jahr 2012 waren es nur 281 und – zwei Jahre nach der Flüchtlingskrise – 2017 dann wieder durchschnittliche 405.  

Flüchtlinge gelten im Jahre 2018 in Europa vornehmlich als Sicherheitsrisiko.

Das hielt den Stern letzte Woche nicht davon ab, den drohenden Untergang zu verkünden: Das zerrissene LandDer Mordfall Susanna F. und das Ende von Merkels Flüchtlingspolitik. Auch diese Woche bleibt das Morden auf den Titelseiten Ausländern vorbehalten, wie die Schlagzeile vom 24.06.2018 der Bild zeigt: Asyl-Wahnsinn in Deutschland »Ich habe 40 Menschen umgebracht und will Asyl“ BILD dokumentiert 13 Fälle, die fassungslos machen.

Verrat

Flüchtlinge gelten im Jahre 2018 in Europa vornehmlich als Sicherheitsrisiko. Jeder spektakuläre Fall wird ein als weiter Beweis vorgeführt, dass es eine sehr schlechte Idee, ja fast schon Verrat war, die Flüchtlinge damals „zu holen“. Ein Verrat woran? Je nach politischem Selbstverständnis am: Deutschen Volk, freien Frauen, Aufklärung, christlich-jüdischem Erbe… in jedem Fall ist es der Verrat an etwas Menschlichem, etwas Humanem, etwas, das die veremeintlich raumfremden Barbaren und „Asyltouristen“ nicht haben. Deshalb können auch die Mahner, Warner und Aktivisten des neuen Grenzschutzes im Brustton der völligen moralischen Überlegenheit anklagen: „Wir haben doch nur Angst; Angst um unsere Frauen, um unsere Identität, um unsere Lebensweise“.

Die Idee, dass weil Mirco ermordet wurde, Deutschland untergehen könnte, hatte keiner.

Jedes individuelle Verbrechen gerät so zum Angriff auf das Ganze, als Ausdruck von etwas Größerem und Schrecklicherem. Deshalb war die größte Erschütterung für die ungefähr zwei Wochen anhaltende „Willkommenskultur“, an der sich jetzt seit Jahren abgearbeitet wird, wohl die Ereignisse an Sylvester 2015 auf der Kölner Domplatte und nicht einer der geplanten Terroranschläge unter der Anleitung islamistisch gewendeter Baathisten im Kommandostab des Islamischen Staates aus Raqqa. Zwar weiß bis heute keiner so richtig, was nun genau in Köln passiert ist, aber hier sind alle Befürchtungen wahr geworden: der Fremde, der Feind hat hier die Machtfrage gestellt …es ging um Sex …es hatte was mit Frauen zu tun.

Gesellschaftliche Probleme werden reduziert auf die Beobachtung des einzelnen kriminellen Aktes. Und von dem aus wird aufs Ganze geschlossen, das man ja eigentlich eh schon kennt. Die Beteiligten sind nicht mehr Individuen in ihren sozialen Bezügen, sondern das einzelne Verbrechen ist nun eine Schlacht und unmittelbarer Ausdruck einer viel größeren Konfrontation, vor der man Angst haben und präventiv schützen muss.

Und damit kommt etwas Neues in der Deutung von Kriminalität durch das nicht betroffene Publikum.

Moralität und Straflust

Sexualmorde erregten immer die Öffentlichkeit. Wahrscheinlich weil Verbrechen wegen Emotionen und Sexualität jeder nachvollziehen kann, denn Sexualität hat jeder, während die Wenigsten in die Situation kommen werden z. B. einen Anlagebetrug begehen zu können. So kam es z. B. vor der schon Flüchtlingskrise und Kandl, etwa als ein Olaf F. den 10 Jährigen Mirco ermordet hatte, zu Demonstrationen vor dem Landgericht Krefeld. Als etwa einen Monat später vor dem selben Gericht Stefan K., ein ehemaliger Buchhalter, zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, weil er einen Seemann damit beauftragt hatte, seine pensionierte Schwiegermutter wegen einer Eigentumswohnung in Mönchengladbach zu erwürgen, fand der Prozess dagegen vor einem fast leeren Gerichtssaal statt. Mörder von Kindern oder jungen Frauen gelten halt immer als besonders verworfen und böse. Der Mob fordert in einer Mischung von Moralität und Straflust „schlagt den Kopf des Täters ab“. Die Idee, dass weil Mirco ermordet wurde, Deutschland untergehen könnte, hatte keiner.

Bedrohung des Landes

Anders heute, wenn innerhalb der Unterschicht ein Mädchen von einem irakischen Flüchtling ermordet worden sein soll oder ein marokkanischer Lastwagenfahrer eine Tramperin getötet haben soll. Diese Delikte werden sofort als Bedrohung des Landes wahrgenommen. Der Fall, der alles ändert. Sie mögen nicht politisch motiviert sein, aber alle die es wollen wissen: Sie sind ein kultureller Angriff auf Deutschland auf „unsere“ Lebensweise. Sie sind eine Folge der Umvolkung, der Islamisierung oder von Merkels Politik.

Wenn man den Blick weiter in die Vergangenheit richtet  und sich ansieht, wie Kriminalität damals wahrgenommen wurde, sieht man dass der Umschlag von Kriminalität als Tat eines bösen Menschen zu Kriminalität als Angriffs durch eine höhere böse Macht auf die Gemeinschaft als Ganzes nicht so neu ist.

Hexenverfolgung

Die Zeit um den 30jährigen Krieg 1618 bis 1648 wird auch als Jahrhundert der Angst beschrieben. Dies war die Zeit der Hexenverfolgung. Schon immer gab es Prozesse gegen einzelne Zauberer. Das war nie etwas Besonderes gewesen. Aber plötzlich setzte sich die Vorstellung durch, die Hexer und Hexen hätten einen Teufelspakt geschlossen. Die Bedrohung wurde dadurch auf eine neue Ebene in eine nahezu Kampf zwischen der civitas dei und der civitas diaboli gehoben. Diesem folgend würden sie das Unheil über die Dörfer an der Mosel bis nach Polen bringen, um die Gemeinschaft der guten Christen zu erschüttern. Der Kampf wurde nicht nur gegen Hexer im Bunde mit dem Teufel geführt; auch Totengräber und z. T. wandernde Obdachlose wurden als mit dem Teufel im Bunde betrachtet. Es entwickelte sich geradezu eine Hexenpanik. Und es waren keine ungebildeten Menschen, die diese schürten und ihr zugleich erlagen.

Jahrhundert der Angst

 Die Epoche der systematischen Hexenverfolgung wird als ein Jahrhundert der Angst beschrieben. Fünf wesentliche Ursachen lassen sich für den Anstieg der sozialen Angst und des empfundenen Stresses ausmachen: 1. der drohende und allgegenwärtige soziale Niedergang in Dorf und Stadt; 2. soziale Spannungen, die in Aufständen ihren Ausdruck fanden; 3. das Zerbrechen der christlichen Einheit 4. zunehmende äußere Bedrohungen wie das Hereinbrechen der Moslems über das heilige Land, die Beulenpest und die Folgen der nicht als solche erkannte kleine Eiszeit; 5. das einhergehende vermehrte Auftreten von Verkündern des erwarteten, bevorstehenden Untergangs, die die neuen Massenmedien wie den Buchdruck u.ä. zu nutzen begannen.

 Alles für heute nicht unbekannte Konstellationen. Alles nachzulesen in hervorragenden historischen Werken wie Dulemeaus Angst im Abendland –  Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts oder Witchcraze von Lyndal Roper.

 Der aufgeklärte Rechtsstaat kann es sich im Angesicht von Kriminalität erlauben erst zu reagieren, wenn ein Schaden eingetreten ist.

Angstabwehr zur Handlungsmaxime erklärt erfordert die Prävention – immer früher muss man handeln. Nichts darf verzögert werden – bis schließlich schon auf das Angstsignal –  also eine Situation die nur so aussieht als ob sich aus ihr eine Gefahr entwickeln könnte – mit einer Härte reagiert werden muss, als ob der Schaden schon eingetreten wäre. Der aufgeklärte Rechtsstaat kann es sich im Angesicht von Kriminalität erlauben erst zu reagieren, wenn ein Schaden eingetreten ist. Auch ein Mord oder eine Vergewaltigung wird von Menschen in ihren sozialen Bezügen begangen – und als Menschen kann man auch die Schuldigen behandeln.

 Kollektive Zuschreibungen

 Anders sieht es aus, wenn Menschen mit einer von Verunsicherung gespeisten Ich-Schwäche ihr gewünschtes Ich-Ideal in eine Gemeinschaft denken.  Von der Gemeinschaft wird Schutz erwartet. Dann erscheint schon ein Yezide in einem Flüchtlingsboot als potentieller Ehrenmörder und ein sexuell frustrierter Moslem eigentlich als Vergewaltiger. Ursachen Bekämpfung wird dann Grenzsicherung. Die Menschen, die Keiner in den Herkunftsländern will und braucht, sollen auch nicht hier hinkommen.

2011 wurde offenbar außenpolitisch der Zeitpunkt verpasst, in den, von Despotie, Korruption und abgehalfterter religiöser Moralität zerfressenen Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens, die Bevölkerung bei der Schaffung Lebensfreundlicher Bedingungen substantiell zu unterstützen. In Folge gerät jetzt der Rechtsstaat, der auch immer nur eine Annäherung an Humanität war, in Europa jetzt unter Druck. So wie diese Despoten nun Phantasieimperien alter Größe ohne die Unzufriedenen und Unnützen errichten wollen, so sucht man in Europa heute nicht mehr das Heil in Rechtsstaat und Freiheit sondern in der Idylle. Wobei die Angst ist allgegenwärtig, dass die noch nie gegeben hat.

 Angstsignal erklärt die Welt

Manchem mag es noch schwer fallen zu sagen, dass man Lager errichten und an den Grenzen schießen sollte. Deshalb braucht man noch einen Grund um zu erklären, warum man sich davon verabschiedet, Menschen als Menschen zu betrachten und zu behandeln. Kriminalität macht sich als Grund immer gut, weil jeder davor Angst hat und es zugleich wohl kaum jemanden gibt, der potentiell nicht kriminell könnte, unter besonderen Umständen eben – schon gar nicht wenn man Flüchtling ist. Der einzelne Mord wird zum Angstsignal, der die ganze Welt erklärt.

Und wenn man es dann noch schafft, Kriminalfälle in Beispiele einer Konfrontation kultureller, politischer oder sonst was für kollektive Blöcke umzudeuten, dann wird keine Analyse mehr benötigt – weder für den Einzelfall, noch für die politische Lage. Es reichen der gesunde Menschenverstand und das moralische Vorverständnis, um in der Pose der Moral die eigene kleine Lebenswelt gegen den Rest der kriminellen Welt in Stellung zu bringen.

Marx und der gesunde Menschenverstand

Auch das ist nicht unbedingt neu. Schon Karl Marx hat erkannt, dass am Ende schwere Geschütze stehen, wenn sich Menschen zur Welterklärung in die Moral und den gesunden Menschenverstand flüchten.

In andern Worten, der Verstand und die Moral von Jahrhunderten entsprachen dem Fürstentum, statt ihm zu widersprechen. Und eben diesen Verstand und diese Moral vergangener Jahrhunderte versteht der "gesunde Menschenverstand" von heute nicht. Er begreift ihn nicht, aber dafür verachtet er ihn. Aus der Geschichte flüchtet er in die Moral, und nun kann er das sämtliche schwere Geschütz seiner sittlichen Entrüstung spielen lassen. In derselben Weise, wie sich hier der politische "gesunde Menschenverstand" die Entstehung und den Fortbestand des Fürstentums als Werk des Unverstandes erklärt, in derselben Weise erklärt der religiöse "gesunde Menschenverstand" die Ketzerei und den Unglauben als Werke des Teufels. In derselben Weise erklärt der irreligiöse "gesunde Menschenverstand" die Religion als Werk der Teufel, der Pfaffen.“ (Karl Marx, Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral MEW Bd. 4)

So wie der gesunde Menschenverstand des Bürgertums, von dem Marx hier spricht, damals die Fürstentümer im eigenen Land nicht begreifen konnte, so versteht er heute nicht, was außerhalb Europas passiert. Deshalb denken die verängstigten Polemiker Europas heute Straftaten von Flüchtlingen seien Ausdruck einer großen Konfrontation, Grenzschutz sei die Ursachenbekämpfung und ihre ängstlich beschworene Lebensrealität sei das Maß von Gesetz und Recht.