Montag, 20.06.2022 / 15:24 Uhr

Fußnote zum Fall Assange

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Bildquelle: Wikimedia Commons

Julian Assange setzte mit seinem verantwortungslosen Vorgehen bei den Wikileaks-Veröffentlichungen zahlreiche Leben aufs Spiel.

 

Am 30. Juli 2010, kurz nachdem die ersten Wikileaks-Dokumente zu Afghanistan auf der Plattform veröffentlicht wurden, meldeten sich die Taliban zu Wort: Sie würden, hieß es, die Dokumente genau studieren und dann entscheiden, was mit den dort namentlich genannten Informanten zu geschehen habe. Was die Taliban mit Menschen machen, die sie als »Kollaborateure« betrachten, dürfte hinlänglich bekannt sein.

Entsprechend schockiert zeigte sich auch der damalige Präsident von Afghanistan, Hamid Karzai, dessen Regierung Wikileaks zufolge selbst an unzähligen Menschenrechtsverletzungen beteiligt war. Das Leben dieser Menschen befände sich in akuter Gefahr. Die US-Regierung bemühte sich, besonders gefährdete Personen aufzuspüren und zu schützen.

Redet man über Pressefreiheit, die mögliche Auslieferung von Julian Assange und über das Berufsethos von Journalismus, sollte diese ganz hässliche Fußnote zu Wikileaks nicht unerwähnt bleiben. Journalisten sind verpflichtet, ihre Quellen zu schützen. Notfalls gilt es, dafür sogar eine Haftstrafe in Kauf nehmen. Bei der Veröffentlichung der Wikileaks-Dokumente wurde allerdings entweder geschlampt, oder aber die Namen wurden absichtlich nicht geschwärzt – und das brachte zahlreiche Menschen in Afghanistan und im Irak in unmittelbare Lebensgefahr.

Da dies Menschen waren, die aus Überzeugung oder gegen Bezahlung mit den USA zusammenarbeiteten, um Namen und Aufenthaltsorte von ziemlich üblen Gestalten weiterzugeben, scheint ihr Schicksal die »Free Assange«-Community nicht wirklich zu stören. Schließlich heißt es ja immer, Assange habe »Kriegsverbrechen der USA« aufgedeckt. Und wer in dieser Community als »Kollaborateur« gilt, hat vermutlich nichts Besseres verdient.

Wer weiß schon Genaues?

Einen Tag nach den Taliban meldete sich auch eine der prominentesten Unterstützer von Wikileaks, Birgitta Jonsdottir, eine isländische Parlamentsabgeordnete, zu Wort: »Wenn tatsächlich jemand infolge dieses Leaks getötet wird, finde ich das bedauerlich, sehr bedauerlich«, sagte sie. »Es war nicht die Absicht, Menschen in noch größere Gefahr zu bringen.«

Dass es die Aufgabe von Wikileaks gewesen wäre, sicherzustellen, dass durch die Veröffentlichung der Dokumente niemand in Gefahr gerät und dass die Plattform gegen grundlegende journalistische Standards verstoßen hat, war der Wortmeldung der Abgeordneten nicht zu entnehmen. Stattdessen war sie darum bemüht, Wikileaks von jeder Verantwortung für die wahrscheinlich tödlichen Folgen der Veröffentlichungen freizusprechen:

»Man muss sich fragen: Wie um alles in der Welt will das Militär beweisen, dass jemand wegen der Leaks gestorben ist? Dort sterben täglich Leute, weil der Krieg verloren ist und schon immer verloren war.«

Frau Jonsdottir ist als Politikerin Profi genug, um zu wissen, dass sie mit dieser Äußerung wohl recht behalten würde: Es dürfte kaum im Interesse der USA gelegen haben, öffentlich zu machen, ob ihre Schutzmaßnahmen Wirkung gezeigt haben oder nicht. So wird man wohl nie sicher erfahren, ob und wie viele Menschen aufgrund der Fahrlässigkeit von Wikileaks Schaden an Leib und Leben nahmen. Auch werden wir nie erfahren, wie viele Menschen Informationen über Taliban- oder Al-Qaida-Führer nicht weitergaben – aus Angst, ihre Namen könnten ebenfalls eines Tages im Netz landen.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch