Sonntag, 21.08.2022 / 10:45 Uhr

Giftgasangriff auf die Ghoutas: Vergessen ohne rote Linien

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Demonstration in Berlin 2015, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Vor neun Jahren fand der bislang größte Giftgaseinsatz des syrischen Regimes gegen die eigene Bevölkerung statt. Wie sich herausstellt, blieb das Verbrechen folgenlos, ja half Assad sogar in seinem Krieg gegen die Opposition.

 

Wer erinnert sich noch an "rote Linien" und "Nie wieder"? Wohl niemand. Wie so viele Verbrechen des syrischen Regimes blieben auch die Giftgaseinsätze in den Ghoutas weitgehend folgenlos.

Im Jahr 2016 veröffentlichten syrische Aktivistinnen und Aktivisten und die deutsch-irakische Hilfsorganisation diesen Text, der an Aktualität nur eingebüßt hat, dass heute die Forderung nach Hilfe der Eingekesselten sich erübrigt hat. Nachdem das syrische Militär die Ghoutas systemtaisch zusammenbombte, stehen sie seit langem wieder unter Kontrolle des Regimes.

Im August 2012 erklärte der amerikanische Präsident Barak Obama den Einsatz chemischer Kampfstoffe durch die syrische Armee zur »roten Linie«, C-Waffen, bekräftigte er im April 2013 wären ein »game changer«

Dennoch setzte die syrische Armee weiterhin chemische Kampfstoffe gegen die Zivilbevölkerung in den belagerten Landesteilen ein. Im August 2013 dann kam es zum bislang verheerendsten Angriff auf unterschiedliche Orten der als »Eastern-Ghouta« bekannten östlichen Vororte von Damaskus. Etwa 1.300 Menschen starben in den frühen Morgenstunden des 21. August als die die Stadtteile Hammuriyah, Hirista, Irbin, Sepqa, Kafr Batna, Ayn Tarma, Jobar und Zamalka mit Boden-Boden-Raketen beschossen wurden. Eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen wies nach, dass die Geschosse den chemischen Kampfstoff Sarin enthielten. Die rote Linie war überschritten. Der »game changer« aber änderte das grausame Spiel nicht. Das Morden geht unbehindert weiter.

Die internationale Reaktion auf die C-Waffenangriffe auf die Ghouta machte deutlich, worum es bei der Rede von der roten Linie ging: Der längst zum Krieg ausgewachsene Konflikt sollte unterhalb der Ebene internationaler Verwicklung eingedämmt werden. Eine freiwillige Abrüstung der chemischen Kampfstoffe mit dem Assad-Regime wurde vereinbart, überwacht von der bei den Vereinten Nationen beheimateten OPCW, die weder über Zwangsmittel, noch über wirkungsvolle Kontrollmechanismen vor Ort verfügt. Der Massenmord an der Zivilbevölkerung blieb straflos.

Die Straflosigkeit, die dem chemischen Massenmord in den Ghoutas folgte, glich einer Einladung zum weiteren Töten. Während die syrische Regierung vereinbarungsgemäß einen Teil der gelagerten Kampfstoffe zur Vernichtung übergab, warf die syrische Luftwaffe und schoss die syrische Artillerie Bomben und Granaten mit Chlorgas auf aufständische Stadtteile, ein Kampfstoff, der aufgrund seiner auch zivilen Nutzungsmöglichkeiten nicht unter die Deklarationspflicht fiel.

So viel Mühe macht sich die Regierung Bashar al-Assads längst nicht mehr. Wiederholt wurde der erneute Einsatz chemischer Kampfstoffe wie Sarin gemeldet, ohne dass dies ernsthafte Ermittlungen nach sich gezogen hätte. Mittlerweile ist auch klar, was zuvor nur Verdacht war: dass die syrische Regierung einen Teil ihres Giftgasarsenals schlicht verschwiegen hat. Drei Jahre nach dem Angriff auf die Ghouta ist alles wie zuvor: Die syrische Armee und die mit ihr verbündeten Milizen verfügen über chemische Kampfstoffe und bombardieren weiter tagtäglich die Zivilbevölkerung. Nichts wurde dagegen unternommen, keine Ärzteteams wurden zur Rettung der Vergifteten entsandt, keine Soforthilfe an die Städte und Stadtteile geleistet, die erst mit Giftgas, dann mit Fassbomben bombardiert wurden, kein syrischer General wurde angeklagt, weil er Kriegsverbrechen begangen hat. Die Straflosigkeit, die auf die Angriffe von Ghouta folgte, wirkte wie ein Freibrief für Diktatoren und Mörder: Solange keine international geächteten Massenvernichtungswaffen zum Einsatz kommen bleiben Mord und Terror weine »innere Angelegenheit«.

Chemische Kampfstoffe sind die ideale Waffe zur Terrorisierung der Zivilbevölkerung. Sie demonstrieren wie kaum eine andere Waffe die »Wertlosigkeit« der Menschen in den Augen der Regierung. C-Waffen sind aber längst nicht die einzige Terrorwaffe des Regimes. Seit vier Jahren haben das Regime und die mit ihm Verbündeten in vielen Teilen des Landes ganze Bevölkerungsgruppen eingeschlossen und hungern sie aus. Nicht nur Alleppo, auch die Ghouta und andere Regionen sind von jeder Hilfe abgeschnitten. Zivile Versorgungseinrichtungen, Krankenhäuser, Wasser- und Elektrizitätswerke und Schulen werden systematisch beschossen, die Wohnviertel täglich mit Fassbomben bombardiert. Etwa 450.000 Menschen befinden sich zur Zeit unter Belagerung und Beschuss. In der Ghouta stoßen derzeit Truppen der syrischen Armee gegen die verbliebenen aufständischen Stadtteile vor – unterstützt vom Bombardement der russischen Luftwaffe und schiitischen Kämpfern der libanesischen Hizbollah. Mit jedem Tag rücken sie der ausgehungerten Bevölkerung näher.

Die C-Waffenangriffe auf die Ghouta im August 2013 waren nur der Auftakt zum massenhaften Einkesseln, Aushungern und Bombardieren großer Bevölkerungsteile in Syrien. Die internationale Reaktion hat deutlich gemacht, dass es dem Ausland nicht um das Leiden der Bevölkerung geht. Seitdem kennen das Regime und die anderen Konfliktparteien keine Kompromisse mehr. Heute hat das syrische Regime mehr ausländische Unterstützung denn je. Bei der Bevölkerung ist keine Hilfe angekommen.

Es mag zu spät sein, die Uhr umzudrehen. Die Verbrechen an der syrischen Bevölkerung können nicht rückgängig gemacht werden.