Samstag, 17.09.2022 / 21:23 Uhr

30 Jahre Mykonos-Attentat: Als der Iran Oppositionelle in Deutschland töten ließ

Von
Gastbeitrag von Kilian Foerster

Gedenktafel für die Opfer des Anschlages, Bildquelle: Peter Kuley, Wikimedia Commons

Am 17. September 1992 ermordeten Auftragskiller im Namen der iranischen Staatsführung drei kurdisch-iranische Politiker und ihren Freund und Übersetzer im Berliner Restaurant Mykonos.

 

Parviz Dastmalchi überlebte das Mykonos–Attentat und sagte später im Prozess als Zeuge aus. Er ist Diplom-Politologe, Übersetzer und Autor zahlreicher Bücher und Artikel über den iranischen Staatsterrorismus und den Aufbau der Islamischen Republik Iran (IRI) in persischer Sprache. Fast 20 Jahre lang leitete er eine Flüchtlingsunterkunft in Berlin. Mit ihm sprach Kilian Foerster im Rahmen der auf seiner Website publizierten Serie »Iranische Worte«.

 

Kilian Foerster (KF): Woran erinnern Sie sich zuerst, wenn Sie an ihre Kindheit im Iran denken?

Parviz Dastmalchi (PD): Ich bin nicht in wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen und hatte eine schwierige Kindheit und Jugend. Meinen Vater habe ich im Alter von drei Jahren verloren. Vielleicht kann man sich vorstellen, wie schwer es damals unter iranischen Verhältnissen gewesen ist, aufzuwachsen und sich durch das Leben zu schlagen. Wenn ich mit meinem Enkelkind zusammen bin, ob bei mir zu Hause, auf dem Spielplatz oder im Zoo, dann denke ich viel an meine Kindheit und vergleiche diese mit der Kindheit meines Enkelkindes; es sind zwei total verschiedene Welten.

KF: Welche Bedeutung hatte Religion in ihrer Familie?

PD: Wir waren keine religiöse Familie im Gegensatz zu der Umgebung in Teheran, wo ich aufgewachsen bin. Im Norden Teherans wohnten die Reichen, im Süden die sehr Armen, und wir lebten ungefähr dazwischen, allerdings deutlich mehr in Richtung Süden. Mein Vater war Nachkomme eines Bakhtiaristamms, und dort spielte traditionell die Religion keine besondere Rolle. Meine Mutter war ebenfalls überhaupt kein religiöser Mensch, aber die Familie und die gesamte Verwandtschaft meiner Mutter waren sehr streng religiös. Also in meiner Familie hatte Religion keine große Bedeutung und niemand von uns hat z.B. täglich gebetet oder im Fastenmonat Ramadan gefastet.

KF: Wie erlebten Sie als Kind die 50er/60er-Jahre im Iran?

PD: Es war eine Aufbruchszeit in die Moderne, wo wir gemerkt haben, dass sich alles in einem positiven Sinne verändert, z.B. das Radio war sehr neu und es gab noch keinen Fernseher. Als ich sieben oder acht Jahre alt gewesen bin, hörte ich Gerüchte von anderen Kindern und Erwachsenen, dass bald eine neue Version vom Radio auf den Markt käme, in dem man die Sprecher sehen konnte. Ich wunderte mich als Kind und es war für mich unbegreiflich, wie ein so großer Sprecher in solch einen kleinen Kasten passen konnte. Wie war es möglich, dass der Sprecher sowohl bei uns als auch gleichzeitig bei allen anderen zu hören und zu sehen ist? Also alles Quatsch, dachte ich mir, es ist unmöglich und nicht logisch, bis dieser Wunderkasten, das Wunderradio, also das Fernsehen kam.

Wir hörten damals auch, dass in Teheran ein großes Kaufhaus eröffnet: Das Ferdowsi-Kaufhaus im Zentrum Teherans, in dem die Treppen einfach so nach oben und unten rollen. Ich dachte wieder, alles Quatsch, wie können diese steinigen Treppen, die festgemauert sind, einfach nach oben und unten rollen; es bricht doch alles zusammen, das ist unmöglich. Aber wir hörten von allen Seiten, es gäbe wirklich so etwas. Einmal bin ich dann mit zwei Freunden von zu Hause ungefähr zehn Kilometer zu Fuß bis zu diesem Kaufhaus gelaufen, weil wir unbedingt in das Kaufhaus rein wollten, um dieses Wunderwerk der Technik zu sehen.

Als wir dort ankamen, gab es außer uns noch viele andere neugierige Leute. Vor den Eingängen des Kaufhauses standen Wächter. Wir sagten zu einem Wächter, dass wir nur die Rolltreppen sehen möchten. Uns wurde der Eintritt verwehrt, da wir nicht in Begleitung unserer Eltern waren. Wir sagten dann, dass wir uns Eiscreme kaufen wollten, aber wir hatten nur Geld für eine Eiscreme. Also durfte nur einer von uns rein, und er sollte sofort wieder rauskommen.

Die Aufstände im Iran in Jahren 2017 und 2019 in über mehr als hundert Städten innerhalb von drei Tagen zeigen, wie groß die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist.

Ich bin dann mit dem anderen Freund zu einem weiteren Eingang gegangen, und wir haben uns dort einfach heimlich einer Familie mit vielen Kinder angeschlossen und sind schließlich auch ins Kaufhaus gelangt. Wir waren total begeistert von diesem Wunderwerk der Technik. Im Kaufhaus sind wir die Rolltreppen solange hoch und runter gefahren, bis uns ein Wärter entdeckt, gejagt und mit Prügeln aus dem Kaufhaus rausgeworfen hat.

Das war für uns Kinder die erste Begegnung mit der neuen Welt und der neuen Technologie. Auch für unsere Eltern erschien das alles ganz neu und fremd.

KF: Haben Sie sich an den Protesten gegen den Schah beteiligt und wenn ja, warum?

PD: Ja, wir dachten, so könnten wir eine bessere Welt schaffen. Aus heutiger Sicht sehr naiv; damals war ich 27, und heute bin ich 72 Jahre alt. Wir hatten keine Ahnung von der Gefahr des Islamismus. Im Gymnasium gehörte ich zu einer Clique fleißiger Schüler, die dafür auch bekannt waren viel zu lesen, unter anderem kritische Romane. In diesem Alter, als Jugendlicher ohne Erfahrung und Erkenntnisse, war alles sehr emotional, was ich damals getan hatte. Mich beschäftigten die ungerechten sozialen Verhältnissen und die herrschende Armut im Iran, was historisch bedingt war. Aber als Jugendlicher hatte man natürlich keinen Überblick und kein Verständnis für die historischen Hintergründe.

Ich hörte damals zum Beispiel, dass im Nachbarland der ehemaligen Sowjetunion die Gesellschaft und die Produktion so organisiert wären, dass es dort Fabriken für die Produktion von Fahrrädern gibt und es werden so viele Fahrräder produziert, bis jeder Sowjetbürger ein Fahrrad besitzt. Dann werden Radios produziert und jeder erhält ein Radio. Und nach dem Radio kommen Motorräder usw., und wir dachten, das ist eine gerechte Gesellschaft. Jeder bekommt, was er benötigt. Oder uns wurde erzählt, die Musik in der Sowjetunion wäre angeblich so weit entwickelt und fortgeschritten, weil dort jede Familie zu Hause ein Klavier hätte. Das war für uns unvorstellbar, weil sich bei uns nur sehr reiche Leute ein Klavier leisten konnten. Wir fanden alles total gut und waren begeistert davon.

Natürlich war das alles nur Propaganda und wir hatten keine Möglichkeit, selbst in Erfahrung zu bringen, ob das stimmte oder nicht. Aus diesen Gründen waren wir damals sehr kritisch gegenüber dem iranischen System eingestellt. Mit diesem Hintergrund und solchen Vorstellungen bin ich im Jahr 1970 für ein Studium mit dem Bus (Teheran – München) und Zug (München – Berlin) nach Berlin gereist, weil ich gehört hatte, dass man in Deutschland kostenlos studieren und gleichzeitig mit Jobs das notwendige Geld für das eigene Leben verdienen kann. In Berlin habe ich mich der iranischen Studentenbewegung (CISNU) angeschlossen.

KF: Wann und warum haben Sie Iran verlassen?

PD: 1970 habe ich Iran zum ersten Mal verlassen. 1974 bin ich in den Iran geflogen, um meine in Deutschland kennengelernte Frau zu heiraten. Auf dem Teheraner Flughafen Mehrabad wurde mein Pass eingezogen und ich erhielt eine Adresse, wo ich mich nach zwei Wochen melden sollte, was ich auch tat. Es war ein Büro des damaligen iranischen Geheimdienstes SAVAK. Bei meinem dritten oder vierten Besuch wurde ich festgenommen und direkt in das Ghezel-Ghaleh-Gefängniss gebracht und in eine Einzelzelle eingesperrt. Der Grund für meine Haft, so wurde es mir gesagt, waren meine »schädlichen Aktivitäten gegen die nationale Sicherheit im Ausland«. Nach drei Monaten wurde ich wieder entlassen, erhielt aber ein Auslandsreiseverbot. Fast ein halbes Jahr nach meinem Iran-Besuch konnte ich wieder nach Deutschland zurückkehren.

Die Fundamentalisten hatten fast überall die Oberhand, es gab eine unvorstellbare Dimension von Gewalt und Brutalität, die mit den Notwendigkeiten einer Revolution gerechtfertigt wurde.

Während der iranischen Revolution, die schließlich zur Machtübernahme der Islamisten führte, wurde Anfang 1979 Schapur Bachtiar zum Ministerpräsidenten ernannt und die Namen von politisch Verfolgten wurden von den Geheimdienstlisten an der Grenze gestrichen. Auch mein Name war dabei, sodass ich wieder frei ein- und ausreisen konnte. Ich flog nach Teheran zurück. Der Schah war noch da. Es dauerte noch einen Monat, die Aufstände gegen den Schah gingen noch intensiver weiter und umfassten nun fast alle Schichten der Gesellschaft. Der Schah musste das Land verlassen mit der Hoffnung, irgendwann wieder zurückzukommen, wenn sich alles beruhigt und normalisiert hatte.
Es war alles zu spät.

Damals, nach meiner Einreise, musste ich leider sofort feststellen, dass die Dinge im Iran einen anderen Verlauf genommen hatten und überhaupt nicht meinen Vorstellungen von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten entsprachen. Die Fundamentalisten hatten fast überall die Oberhand, es gab eine unvorstellbare Dimension von Gewalt und Brutalität, die mit den Notwendigkeiten einer Revolution gerechtfertigt wurde. Alles lief in eine verkehrte Richtung. Zum Beispiel trugen Tausende verschleierte Frauen auf Demonstrationen ein Plakat, auf dem die iranische Kaiserin Farah Diba am Strand mit Badeanzug abgebildet war und sie riefen, das ist ein Beweis für Verbrechen der Pahlavi Dynastie. Ich dachte, das ist doch kein Verbrechen, und ich sah, wie der islamische Fundamentalismus emporkam.

Das hatte nichts mit Demokratie, Menschenrechten und unseren Idealen zu tun. Bald kam ein Moment, wo ich erkannte, dass ich weder Geld, noch ein Obdach oder sonst irgendetwas besaß oder eine Arbeit hatte, um das notwendige Geld zum Leben zu verdienen. Ich entschied mich, so schnell wie möglich wieder nach Deutschland zurückzukehren und mein Studium der Politologie mit Diplom abzuschließen. Meine Idee war, mich mit diesem Titel für einen Lehrauftrag als Dozent an der Teheraner Universität zu bewerben. Ich habe mein Studium in Berlin mit Diplom abgeschlossen und gleichzeitig meine politischen Aktivitäten weiter geführt, jetzt aber gegen die neuen Machthaber, gegen die Islamisten und gegen den Gottesstaat von Khomeini.

Bei den iranischen Studentenorganisationen hielt ich Vorträge über die neue iranische Staatsform Welāyat-e Faqih, die Herrschaft der Rechtsgelehrten. Ich argumentierte, warum jetzt ein religiöser-grüner ›Faschismus‹ die Herrschaft im Iran übernommen hatte. Das war damals sehr gewagt und riskant, so etwas offen vor Iranern zu sagen, da viele total begeistert von Khomeini waren und politisch hinter ihm und den Mullahs standen. Als ich 1980 im iranischen Konsulat in Berlin meinen Pass verlängern wollte, um in den Iran zu gehen, wurde der Pass mit der Begründung eingezogen, ich sei ein Konterrevolutionär. Und aus diesem Grund musste ich hier in Deutschland um politisches Asyl bitten und bleiben. Seitdem sind fast 41 Jahre vergangen.

KF: Was hat Sie am stärksten irritiert, als Sie in Deutschland ankamen?

PD: Das erste Mal kam ich im Herbst 1970 zusammen mit einem Freund mit dem Zug in Berlin an. Das heißt, von Teheran nach München mit einem Reisebus und dann von dort nach Berlin per Zug. In Berlin stiegen wir aus und warteten am Bahnsteig, dass uns der Bruder meines Freundes abholt. Er kam aber nicht. Wir warteten fast eine halbe Stunde. Er kam nicht und wir entschieden, den Bahnsteig zu verlassen, aus dem Bahnhof rausgehen und ihn anzurufen. Vor dem Bahnhof grüßte er uns und wir sagten ihm, dass wir schon etwa eine halbe Stunde auf dem Bahnsteig gewartet hatten und warum er uns nicht vom Bahnsteig abgeholt habe. Er sagte, das würde 20 Groschen kosten, er hätte nicht soviel Geld. Er war selbst Student und hatte sehr wenig Geld, um sein Leben zu finanzieren. Er trug jeden Morgen Zeitungen aus für 230 Mark im Monat. Dann sind wir zusammen mit ihm in eine völlig verkommene Wohnung mit Außentoilette nach Kreuzberg gegangen, was überhaupt nicht meinem Bild von Europa entsprach.

Jetzt sind viele Jahre vergangen und ich bin froh, in Deutschland zu leben. Ich habe sehr gute deutsche Freunde. Meine Tochter ist Schauspielerin und Regisseurin am Deutschen Theater und ich habe ein tolles Enkelkind.

KF: Warum ermordeten iranische Auftragskiller vier kurdisch-iranische Exilpolitiker am 17. September 1992 im Berliner Mykonos-Restaurant? Sollten bei diesem Vorfall noch andere Personen getötet werden?

PD: Die Dokumente und der Gerichtsprozess haben gezeigt, dass genau diese vier Personen getötet werden sollten. Drei der Getöteten gehörten zur Führungsebene der demokratischen, kurdischen Partei Irans und der Vierte war ein sehr enger Freund von Führungsleuten der demokratischen, kurdischen Partei. Die Führung der Islamischen Republik Iran hatte verschiedene Gründe für diesen Auftragsmord: Die Kurden sind Anhänger der sunnitischen Glaubensrichtung vom Islam, während die Machthaber schiitisch sind. Die Kurden kämpfen für einen demokratischen Iran. Der Einfluss der Partei in Kurdistan ist sehr groß und sie strebt eine Selbstverwaltung von Kurdistan im Iran an. Das war ein Dorn in den Augen der Machthaber.

KF: Die deutsche Bundesregierung versuchte im Mykonosprozess wegen der engen wirtschaftlichen Verbindungen zum Iran, Einfluss auf den Prozessverlauf zu nehmen, um möglichst den Eindruck zu vermeiden, dass es sich um einen staatlichen Auftragsmord handelt. Allerdings waren die Bundesstaatsanwälte so couragiert und souverän, dass sie im Urteil eindeutig auf die Hintermänner der Morde hingewiesen haben, z.B. auf den iranischen Religionsführer Khamenei. Hat sich infolge des Urteils im Mykonosprozess das wirtschaftliche Verhältnis zwischen Deutschland und Iran verändert?

PD: Kurzfristig ja, langfristig nein. Nach der Machtübernahme Trumps in den USA hat sich das wirtschaftliche Verhältnis gegenüber Iran aufgrund der Sanktionen wieder verändert. Europa und besonders Deutschland hatten allerdings kein großes Interesse an einer Konfrontation mit dem Iran, auch wegen der wirtschaftlichen Milliardengeschäfte. Während die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Iran und den USA, England oder Israel mit der islamischen Revolution endeten, versuchte Deutschland dort auch nach 1979 wirtschaftlich Fuß zu fassen und das entstandene Vakuum auszufüllen.

Europa und Deutschland wollten mithilfe der Islamischen Republik Iran (IRI) eine von den Vereinigten Staaten unabhängige Politik im Nahen Osten machen. Deswegen hatte die deutsche Bundesregierung kein Interesse im Mykonosprozess, die Hintermänner dieser Morde öffentlich zu machen. So wurde z.B. drei Wochen nach dem Mykonos-Attentat offiziell erzählt, die Täter hätten Deutschland verlassen. Damit wollte man vielleicht versuchen, diese Geschichte aus den Schlagzeilen zu nehmen. Es war der englische Geheimdienst, der die deutschen Nachrichtendienste informierte, dass sich die Täter noch in Deutschland aufhalten und er konnte auch die Wohnungsadresse der Täter angeben.

KF: Gibt es zum Mykonos-Attentat noch Fragen, auf die Sie bis heute nach Antworten suchen?

PD: Ja, die Frage nach dem (den) Verräter(n).

KF: Fühlen Sie sich in Deutschland sicher?

PD: Ja, ich fühle mich sicher. Ich besitze eine doppelte Staatsangehörigkeit. Es ist für die Machthaber in Teheran ein großes Risiko, die Tötung eines deutschen Staatsbürgers in Deutschland im Auftrag zu geben. Als nach der Urteilsverkündung im Mykonosprozess einige europäische Länder (darunter auch Deutschland) aus Protest gegen den Staatsterrorismus der IRI ihre Vertretungen im Iran schlossen und ihre Botschafter zurückriefen, gerieten die Machthaber in Teheran unter sehr großen Druck. Später teilten mir einige Politiker in Berlin mit, dass IRI ihnen versprochen hatte, keine Terrorakte mehr auf dem Boden der EU auszuführen, und sie haben sich an dieses Versprechen bis vor drei Jahren gehalten. Vor ungefähr fünf Jahren haben sie wieder angefangen, Oppositionelle oder wen sie auch immer als ihre Gegner betrachten, im Ausland zu eliminieren. Sie hoffen jedes Mal, nicht entdeckt zu werden. Sie haben ihre Taktik geändert, indem sie kriminelle Banden mit dem Mord beauftragten, anstatt ihre eigenen Leuten einzusetzen.

Das Attentat in Berlin liegt jetzt 30 Jahre zurück. Ich war damals Augenzeuge von vier brutalen Morden. Ich erlebte mit eigener Haut, wie brutal und skrupellos dieses Regime mit Andersdenkenden umgeht. Die Gefahr war real und sehr groß. Es war für mich eine sehr schwierige Situation. Man musste immer damit rechnen, Ziel eines Racheaktes zu werden. Schon vor dem Vierfach-Mord in Berlin wurden innerhalb eines Jahres drei iranische Prominente im Ausland getötet, nämlich Schapur Bachtiar und sein Stellvertreter in Paris und Fereydoun Farrokhzad in der Nähe von Köln [sowie Abdul Rahman Ghassemlou und zwei seiner Mitarbeiter 1989 in Wien; Anm. Mena-Watch]. Nach dem Attentat in Berlin bis zur Urteilsverkündung im April 1997 wurden weitere iranische Andersdenkende in verschiedenen europäischen Ländern (Italien, Frankreich) ermordet. Wir haben es mit einem Regime zu tun, bei dem Staatsterrorismus systemimmanent und ein Teil der Herrschaftsapparat ist.

Die antiwestliche Haltung der Linken, die verbunden war mit der Idee des Sozialismus und Antiimperialismus, hat einfach nicht gesehen, was für eine reaktionäre Kraft im Namen der Revolution unter Führung von Khomeini fast den ganzen Iran erfasste.

Ich musste damals jeden Tag um sieben Uhr die Wohnung verlassen und zur Arbeit fahren. Wenn ich meine Wohnungstür geschlossen hatte, dachte ich bei jeder Treppenwendung im Haus, dort steht jemand und wartet auf mich. Das Morderlebnis saß einfach in meinem Unterbewusstsein und kam automatisch immer wieder hoch. Es ist so: Du steigst in dein Auto, du startest und automatisch kommt der Gedanke, jetzt explodiert der Wagen. Bei jeder Kreuzung, wenn ein Auto oder Motorradfahrer neben dir steht, denkst du, es ist vorbei. Du sitzt in deinem Büro und ein Unbekannter kommt zu dir und du denkst, es ist aus.

Eines Tages sagte ich zu mir, so kann es nicht weiter gehen, so kann ich nicht weiterleben. Zufällig las ich in einer Zeitschrift, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Afrika bei 40 Jahren liegt. Da sagte ich zu mir, Mensch Parviz, du bist jetzt über 40, was willst du noch mehr. Aufgrund dieser Relativierung des Lebens und der Änderung meiner Einstellung zum Leben gelang es mir viel leichter, mit den Folgen des Attentats umzugehen. Den Kampf für die Freiheit und Demokratie und gegen die Machthaber des Gottesstaates der IRI mussten bis heute tausende von Menschen mit ihrem Leben bezahlen. Wir haben es mit einem sehr brutalen, totalitären, religiösen Regime zu tun, ähnlich wie der IS.

KF: Schon 40 Jahre vor der Islamischen Revolution warnte der iranische Intellektuelle Ahmad Kasravi vor dem schiitischen Klerus in der Politik und wurde deswegen von Islamisten ermordet. Khomeini lehnte 1963 die Modernisierung des Frauenwahlrechts im Zuge der Weißen Revolution von Schah Reza Pahlavi strikt ab und seine Verachtung gegenüber der westlichen, parlamentarischen Demokratie und sein Hass auf die USA und Israel waren kein Geheimnis. Gleichzeitig machte sich die politische Linke vor der Islamischen Revolution innerhalb und außerhalb Irans zum Handlanger der Islamisten, auch wenn Linke nach der Revolution selbst zu den Opfern des islamistischen Terrors gehörten. Hat die politische Linke etwas aus der iranischen Geschichte gelernt?

PD: Ein Teil der Linken hat etwas gelernt. Die antiwestliche Haltung der Linken, die verbunden war mit der Idee des Sozialismus und Antiimperialismus, hat einfach nicht gesehen, was für eine reaktionäre Kraft im Namen der Revolution unter Führung von Khomeini fast den ganzen Iran erfasste. Viele Linken meinten, sie hätten Khomeini und die Islamisten unterstützt, weil Khomeini in Paris gute Sachen versprochen hat, z. B. die Frauen könnten so leben, wie sie wollten oder die Kommunisten dürften sogar ins Parlament gehen. Wenn man Khomeini, seine Ideen und Gedankengut ein bisschen kannte, dann wusste man sofort, dass alles, was er sagte, nur Lügen und Unsinn waren. Wenn man jemanden wirklich ernst nehmen will, dann darf man sich nicht nur auf das beziehen, was er innerhalb der letzten zwei Monaten in Paris behauptete, denn Khomeini hatte eine Vergangenheit und eine Geschichte. Alles, was er sagte, beendete er fast immer mit dem Schlusssatz: »… aber im Rahmen des Islam und der Scharia.«

Wir hatten im Jahr 1962 den Aufstand Khomeinis gegen die positiven Veränderungen und Reformen, z.B. aktives und passives Wahlrecht für Frauen oder die Landreformen zugunsten der Bauern, wo die Feudalherren und Großgrundbesitzer entmachtet wurden. Wir hatten vergessen, dass der Klerus im Iran durch Reformen von Reza Schah (dem Vater vom Schah) entmachtet wurde. Er hat das Justizrecht, das in der iranischen Geschichte bis dahin in den Händen der Mullahs gelegen hatte und nur im Sinne der Scharia erfolgte, dem Klerus weggenommen und durch eine moderne Justiz ersetzt. Zum ersten Mal hatten Frauen im Iran das Recht, eine Schule zu besuchen und den Schleier abzulegen. Und Reza Schah gründete ein modernes Schul- und Universitätssystem. Zuvor lag das Schul- und Erziehungssystem in den Händen des Klerus und lief nur im Sinne der Scharia ab.

Aufgrund seiner Reformen hat Reza Schah im Grunde zum Teil mit dem Klerus im Iran das gemacht, was die Französische Revolution mit der Kirche gemacht hatte: eine Entmachtung. Aber die iranischen Intellektuellen haben das nicht richtig eingeschätzt und dies war ein riesiger Fehler. Der Hass gegen den Westen, gegen den Imperialismus und Kapitalismus und die Sympathie für einen sowjetischen, albanischen oder chinesischen Sozialismus haben dazu geführt, dass man total blind wurde. Iranische Linken waren damals entweder pro-sowjetisch, pro-chinesisch, pro-kubanisch oder pro-albanisch. Diese Staaten waren weder demokratisch noch auf der Basis von Menschen- oder Grundrechten organisiert. Es herrschte überall eine Diktatur. Die iranisch-islamistische Revolution war eine reaktionäre Revolution. Den Fehler der Linken kann man auch heute noch beim Krieg zwischen Hamas und Israel sehen, sie sympathisieren immer noch mit der Hamas.

KF: Was ist das Wichtigste, das Sie aus der Islamischen Revolution gelernt haben?

PD: Ich habe gelernt, dass diese islamistisch fundamentalistische Bewegung, die von uns fast allen falsch eingeschätzt wurde und von einem Teil auch heute noch falsch eingeschätzt wird, eine historisch, reaktionäre Bewegung gegen den Modernismus ist; sie ist ganz einfach reaktionär. Heute verstehe ich viel besser und weiß, dass diese fundamentalistisch-reaktionäre Bewegung keine unmittelbare Reaktion auf die Politik des Schahs gewesen ist. Wenn man sich bewusst macht, dass sich diese Bewegung überall im Nahen Osten und von Nordafrika bis Mitte des afrikanischen Kontinents ausgebreitet hat, dann musste es einen anderen Grund geben als die Politik des Schahs. Wäre diese fundamentalistische Bewegung nur eine Reaktion auf die Politik des Schahs gewesen, dann hätte sie sich nur auf den Iran beschränkt. Es ist eine historisch reaktionäre Bewegung gegen die Aufklärung und eine moderne Gesellschaft und gegen moderne Menschen, die selbst über das Leben und die Politik entscheiden wollen.

KF: Bis heute wird behauptet, dass der Sturz vom Premierminister Mossadegh durch den britischen Geheimdienst und das CIA 1953 die Ursache für die gesamte weitere Entwicklung des Iran sei. Ist diese Behauptung gerechtfertigt?

PD: Diese Behauptung ist falsch und nicht gerechtfertigt. Natürlich war der Putsch ein Fehler und eine Einmischung in iranische Angelegenheiten, aber im Iran hatte sich die fundamentalistisch islamistische Bewegung schon lange vor dem Machtantritt von Mossadegh entwickelt. Diese Behauptung ist zu sehr hypothetisch und eine nicht beweisbare politische Einschätzung.

KF: Schah Reza Pahlavi hatte seinen Premierminister Schapur Bachtiar vor seinem Gang ins Exil 1979 angewiesen, dass das iranische Militär nicht auf die eigene Bevölkerung schießen soll. Genau 30 Jahre später – im Jahr 2009 – reagierte das iranische Regime anlässlich der Massendemonstrationen (Grüne Bewegung) wegen Wahlbetrug umgekehrt: Anstatt die Vertrauensfrage zu stellen, schlugen Sicherheitskräfte die Proteste mit brutaler Gewalt nieder, zahlreiche Menschen wurden getötet und tausende Iraner verhaftet. Auch bei landesweiten Demonstrationen Ende 2019 im Iran wurden wieder tausende Iraner von Sicherheitskräften getötet. Kann sich die Islamische Republik Iran von innen heraus reformieren?

PD: Ich denke nicht. Es handelt sich um ein ideologisch-fundamentalistisches System, vergleichbar mit der früheren Sowjetunion oder Ländern in Osteuropa. Jede ernst gemeinte Reform in diesem System, politisch oder wirtschaftlich, führt zum Zusammenbruch des Systems. Wäre das System wirklich reformierbar, dann hätten dies die Machthaber aus eigenem Interesse schon längst gemacht. Nehmen wir zum Beispiel nur einen einzigen Artikel der Menschenrechte, nämlich die Gleichstellung aller Menschen vor dem Gesetz. Angenommen, dieser Artikel würde im Iran wirklich realisiert, dann bricht das gesamte Herrschaftssystem der Rechtsgelehrten zusammen. Wenn auf dem Posten des religiösen Führers, im Wächterrat oder im Expertenrat nicht nur Mullahs oder von ihnen ausgewählte Islamisten sitzen würden, sondern jeder, also Mann oder Frau, Muslime wie Nichtmuslime usw. die vom Volk gewählt werden, dann bricht das ganze System zusammen. Aus dem gleichen Grund können die Wahlen in IRI niemals demokratisch, frei und fair sein.

Es spielt keine Rolle, ob einem Menschen seine Grundrechte im Namen der Hardliner oder der Moderaten verweigert werden.

Die Frauen sind im Iran per Verfassung und Gesetz aus fast allen Verfassungsorganen ausgeschlossen, das heißt, eine Gleichstellung von Frau und Mann kommt für die Machthaber überhaupt nicht infrage. Die Gleichstellung aller Menschen vor dem Gesetz ist gegen die Scharia, also gegen das Gottesgesetz. Die Islamisten sehen in Frauen ein minderwertiges Wesen, so einfach ist es. Bei der IRI haben wir es mit einem Staatssystem zu tun, das sich aus der islamisch-schiitischen Glaubensrichtung der 12er-Imamiten und aus der Schule der Welāyat-e Faqih, also der Herrschaft der Rechtsgelehrten, entwickelt hat. Dieses System ist genauso wenig reformierbar wie zum Beispiel das System der Roten Khmer unter Pol Pot in Kambodscha oder der IS und die Taliban. Wir haben es mit einer neuen Form des Totalitarismus zu tun, einem Gottesstaat. Es ist der IS, aber eine schiitische Version.

KF: In westlichen Medien wird zwischen Moderaten und Hardlinern in der iranischen Politik unterschieden. Gleichzeitig sagte der damalige ›moderate‹ Präsident Hassan Rouhani: »Kapitulation ist mit unserer Mentalität und Religion nicht vereinbar«. Da die Machthaber des Irans, die in der Bevölkerung mehrheitlich längst kein Vertrauen mehr haben, bislang alle Kritiker des Systems im Iran kaltgestellt, inhaftiert oder umgebracht haben, muss man in diesem Zusammenhang nicht befürchten, dass sie eher das ganze Land in den Abgrund ziehen als zurückzutreten wie der Schah?

PD: Der Iran ist durch die Machthaber der Islamische Republik inzwischen schon in den Abgrund gezogen worden. Der Iran ist eigentlich ein reiches Land, und man hätte dieses Land in den letzten 42 Jahren mit einer demokratischen und vom Volk unterstützten gewählten Regierung sehr gut entwickeln können. Aber mit diesem Gottesstaat ist dies nicht möglich, denn die beiden Flügel – Moderate und Hardliner – wollen einen islamischen, auf der Scharia basierenden, religiösen Staat haben.

Es spielt keine Rolle, ob einem Menschen seine Grundrechte im Namen der Hardliner oder der Moderaten verweigert werden. Wir haben im es Iran mit einer Art Taliban oder IS zu tun. Die Geschichte der letzten hundert Jahre zeigt, dass totalitäre Systeme nicht reformierbar sind. Die Ideologie der Islamisten ist eine lebensverneinende und kennt keine Unterschiede zwischen ›Moderaten‹ und Hardliner. Sie leben für das Jenseits, mit ihrem Märtyrertod wollen sie in Paradies kommen, zu den Jungfrauen – alles völliger Unsinn und wahnsinnig.

KF: Vor 1979 hetzte Ruhollah Khomeini mit Ansprachen auf Audiokassetten aus seinem Exil in Frankreich die iranische Bevölkerung gegen den Schah auf. Heute – 40 Jahre danach – sendet der staatliche iranische Sender IRIB (Islamic Republic of Iran Broadcasting) seine Propaganda über den französischen Satelliten Eutelsat in die Welt. Ist Westeuropa gegenüber dem politischen Islam naiv, ignorant oder nur gleichgültig?

PD: Ich würde sagen naiv in dem Sinne, dass man in Westeuropa dachte, mit einem Annäherungs- und Unterstützungskurs der Islamisten im Iran eine Kontrolle der Hardliner erreichen zu können. Aber das ist falsch, denn diese Leute, die auch im Westen leben, sehen den Westen als eine falsche, verdorbene Gesellschaft an und sie wollen alles, auch im Westen, nach ihrem islamischen Modell der IRI verändern. Das ist eine falsche Politik. Man muss aufklären und sie gleichzeitig kontrollieren. Viele der sogenannten islamistischen ›Wohlfahrt‹-Organisationen wie z.B. Hisbollah, die im Westen angeblich Geld für Kinder sammeln, sind ein Teil dieser großen islamistischen Bewegung. Und das gespendete Geld dient den islamistischen Zwecken und Zielen, die mit den Werten einer demokratischen, offenen Gesellschaft nicht vereinbar sind.

KF: Welche Bedeutung haben die Volksmudschahedin für den Iran, die einerseits von 2001–2009 vom Europäischen Rat als Terrororganisation gelistet wurde und andererseits über gute Kontakte zu westlichen Politikern verfügen?

PD: Für den Iran spielen die Volksmudschahedin eine große Rolle, und die Machthaber haben Angst vor dieser Organisation. Die Volksmudschahedin sind sehr gut organisiert. Sie haben ihre Kader, sie haben eine über 60-jährige ›Kampf‹-Erfahrung, sie sprechen die Landessprachen Irans und kennen die Kultur sehr gut. Sie sind unter einem großen Teil der Iraner nicht beliebt, und das hängt mit ihrer früheren Politik und Annäherung an Saddam Hussein zusammen.

Bei den Volksmudschahedin handelt es sich um eine der am strengsten und besten organisierten, politischen Vereinigung. Käme es zu einem friedlichen Übergang im Iran durch Wahlen, dann würden sie nach meiner Einschätzung keine große Rolle spielen. Sie werden ein paar Abgeordnete ins Parlament schicken können. Kommt es aber zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Machthabern, dann könnten sie eine Chance haben, weil sie über die nötigen militärischen Mittel und Erfahrung verfügen. Heute behaupten Volksmudschahedin für eine demokratische Gesellschaft zu kämpfen, aber die Iraner sind sehr skeptisch und vertrauen ihnen nicht.

KF: 40 Jahre Islamische Republik Iran haben nicht dazu geführt, dass die Menschen im Iran besonders religiös sind, sondern die Gewalt und die falschen Versprechen der geistlichen, politischen Führer haben Iran heute zu einem der säkularsten Länder im Nahen Osten verwandelt. Welche Werte können vor diesem Hintergrund eine Grundlage für eine neue Verfassung im Iran bilden?

PD: Die IranerInnen haben Verschiedenes erlebt. Erst die Diktatur des Schahs, wobei es sich damals nicht um ein totalitäres System handelte, sondern um einen modernen, reformierbaren Staat. Dann kam Ajatollah Khomeini mit seinen islamistischen Vorstellungen von einer idealen, auf der Scharia basierenden Gesellschaft, einem Gottesstaat. Tatsächlich erlebte das Volk in den letzten 42 Jahren etwas, wofür man bei einer Aufklärung vielleicht einen Zeitraum von 200–300 Jahre bräuchte. Die einfachen Menschen haben gesehen und erlebt, was die islamischen Werte in der Realität praktisch bedeuten, zum Beispiel für Frauen, Kinder oder Mädchen, die ab dem neunten Lebensjahr verheiratet werden können. Es ist eine Vergewaltigung der Kinder.

30 Jahre Mykonos-Attentat: Als der Iran Oppositionelle in Deutschland töten ließ

Parviz Dastmalchi (© Kilian Foerster)

 

Was die Werte von Menschen- und Grundrechten, Volkssouveränität und einer modernen Staatsform angeht, sind wir ins Mittelalter zurückgeworfen worden. Allein die Tatsache, dass dieses System auch nach 42 Jahren sich nur mit staatlicher Unterdrückung und brutaler Gewalt an der Macht halten kann, bedeutet, dass es nicht überlebensfähig ist. Der Gottesstaat ist einfach nicht in der Lage, die eigenen fundamentalen Widersprüche und Problemen zu lösen. Diese Widersprüche werden am Ende wie in osteuropäischen Ländern oder der ehemaligen Sowjetunion zum Zusammenbruch des Systems führen. Ich bin davon überzeugt, dass es zu diesem Zusammenbruch kommen wird, früher oder später.
Eine neue Verfassung muss auf den Werten von Demokratie und Menschenrechten aufgebaut werden. Ich bin persönlich für eine parlamentarische Demokratie. Die Geschichte in den letzten hundert Jahren zeigt uns, eine bessere Staats- und Gesellschaftsform gibt es nicht.

KF: Welches ist der wirkungs- und verantwortungsvollste Weg für den Westen, die Zivilgesellschaft und die Menschenrechte im Iran zu unterstützten?

PD: Es muss kontinuierlich Druck auf politischer und wirtschaftlicher Ebene auf die Machthaber im Iran ausgeübt werden und es darf keine falschen Zugeständnisse geben. Es muss immer wieder die Einhaltung der Menschen- und Grundrechte verlangt werden. Den Rest macht das iranische Volk.

Die Aufstände im Iran in Jahren 2017 und 2019 in über mehr als hundert Städten innerhalb von drei Tagen zeigen, dass Iraner einerseits sehr gut organisiert sind und andererseits, wie groß die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist. Bei diesen Protesten wurden laut Menschenrechtsorganisationen über 1.500 Menschen getötet und Tausende verhaftet. Meine Informationen aus zuverlässigen Quellen im Iran sagen, dass die Zahl der Getöteten bei exakt 2.271 liegt. Nur mit Gewalt können sich die Machthaber noch halten und sie verzögern die notwendigen Veränderungen. Aber diese werden kommen, früher oder später. Der Westen solle sich hinter das iranische Volk und seine Forderungen für Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht stellen und nicht mit Machthabern der IRI kokettieren.

KF: In welchen Bereichen oder auf welchen Ebenen sollte der Westen mit dem Iran kooperieren und wo auf keinen Fall?

PD: Die IRI verfolgt das Ziel, in der Region und auch auf der ganzen Welt eine einheitlich-schiitisch-islamische Gesellschaft und einen Staat nach dem Vorbild des Iran zu errichten. Dieses Ziel muss unbedingt unterbunden werden, da es eine große Gefahr für den Iran, die Region und die ganze Welt ist. Bei Projekten, wie zum Beispiel der Wasserversorgung, dem Bau von Entsalzungsanlagen oder auch im Schulwesen könnte man Hilfe anbieten, da es der Bevölkerung zugutekommt. Aber bei allem, was man dort tut, darf die Verbesserung der Menschenrechtslage nicht vergessen werden. Der Westen sollte unabhängige Zivilgesellschaften, Frauenorganisationen, Gewerkschaften sowie Menschenrechtsorganisation unterstützen. Eine Aufhebung des Demonstrationsverbots und die Möglichkeit von Parteigründungen könnten sehr nützlich sein. Demokratische, freie und faire Wahlen ohne die Einmischung und Kandidatenauswahl durch den Wächterrat könnten den Übergang zu demokratischen Verhältnissen erleichtern.

KF: Was ist das Wertvollste für Sie, das Sie aus Ihrer iranischen Vergangenheit mitgenommen haben ins Exil?

PD: Das Wertvollste ist für mich meine Verbundenheit mit der iranischen Gesellschaft, und dass ich trotz des Drucks aus Teheran nicht nachgegeben habe und meine Arbeit für Menschenrechte und Demokratie im Iran weitergeführt habe. Nach dem Mykonos-Attentat habe ich viele Jahre meines Lebens der Aufklärung des Staatsterrorismus der IRI gewidmet, verbunden mit der Hoffnung, vielleicht ein paar Leben retten zu können. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir alle Menschen sind und bei unserer Geburt weder eine Religion noch Nationalität oder irgendetwas haben, sondern nur Menschen sind.

KF: Mehr als die Hälfte Ihres Lebens haben Sie im Exil verbracht, gibt es noch so etwas wie Heimweh nach Iran für Sie?

PD: Ja, es gibt immer Heimweh, aber ich muss ganz realistisch bleiben. Solange dieser Gottesstaat existiert, gibt es für mich kein Zurück. Ich muss mit meinen politischen und aufklärerischen Arbeiten weitermachen, bis sich die Verhältnisse dort im positive Sinne geändert haben und dann kann ich das Land wieder besuchen und vielleicht für immer dortbleiben. Obwohl ich sehr gerne hier in Deutschland lebe, viele sehr gute deutsche Freunde habe und von dieser Gesellschaft hier sehr viel gelernt habe.

KF: Angenommen, Sie könnten in Iran zurück, wo würden Sie zuerst hingehen?

PD: Ich würde zuerst nach Teheran gehen, und wenn es die Möglichkeit gäbe, würde ich mich auch dort weiter in die Politik des Landes einmischen und Verantwortung übernehmen. Wenn nicht, dann ich würde zusammen mit meiner Frau ein Auto mieten und das ganze Land kreuz und quer bereisen, um es richtig kennenzulernen, was ich früher leider nicht gemacht habe.

 

Das Interview mit Parviz Dastmalchi mit erschien zuerst auf der Website »Iranische Worte«. Wir möchten Kilian Foerster herzlich für sein Angebot eines Wiederabdrucks danken.

Beitrag übernommen von Mena-Watch