Konstanze Schmitt, Künstlerin und Theateregisseurin, und Kevin Rittberger, Theaterautor und -regisseur, im Gespräch

»Ist das ein Hunger nach Realität?«

Kevin Rittberger und Konstanze Schmitt begründen den Ausschluss von AfD-Politikern auf dem Theaterpodium und sprechen über linke Bühnenästhetik.
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Im März sollte es im Theater Gessnerallee in Zürich eine Podiumsdiskussion geben mit Beteiligung Marc Jongens, der Parteifunktionär der AfD ist und Dozent an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Sie wurde nach öffentlichem Protesten abgesagt. Sie haben einen offenen Brief mitinitiiert und gefordert: »Keine Bühne der AfD und der Neuen Rechten«. Warum?
Konstanze Schmitt: Ich denke, man sollte sich einem vorgeblichen Dialog mit den Rechten verweigern. Erstens ist dazu schon viel gesagt worden und die Positionen sind klar. Zweitens sollte das Völkische auch nicht diskutierbar werden. Ich sehe das eher als unproduktive Debatte. Wer etwas davon hat, sind die Rechten: Sie bekommen eine Bühne und somit auch die Legitimation, ihre Parolen und Thesen zu verbreiten. Und jemand wie Marc Jongen bringt die Thesen von Pegida durch den philosophischen Fleischwolf gedreht als Thymos-Theorie (altgriechisch für »Lebenskraft«, »Zorn«, »Mut«, die nach Jongens Ansicht in der deutschen Bevölkerung nur schwach ausgeprägt sind, Anm. d. Red.) oder Ähnliches in die Öffentlichkeit. Das darf man nicht unterstützen. Und drittens ist in der Gessnerallee keine wirklich andere, also keine linke, feministische oder migrantische Position eingeladen worden, sondern nur Liberale, SVP und AfD. Statt Energie und Zeit in Debatten zu verbraten, die inhaltlich nicht weiter, die Rechte aber auf die Bühne bringen, sollte uns – linke Theatermacherinnen und Theatermacher – beschäftigen, warum auch linksliberale Institutionen auf die Rechten zugehen. Ist das ein Hunger nach Realität? Wäre es nicht wichtig für eine Institution, dazu eine eigene – politische – Position zu entwickeln, bevor man eine solche Veranstaltung macht?

»Eine linke Hegemonie neu denken heißt also, Widersprüche miteinander und nicht gegeneinander denken.« Kevin Rittberger

Kevin Rittberger: Zunächst wollten wir als Berliner Theatermacherinnen und Theatermacher den Zürcher Kritikerinnen und Kritikern der Veranstaltung den Rücken stärken. Als sich die Gessnerallee gegenüber interner Kritik uneinsichtig zeigte und nicht bereit war, das Podium oder die Veranstaltung zu verändern, haben wir uns solidarisch mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit gewandt, der innerhalb weniger Tage von über 700 Personen unterzeichnet wurde. Was mich in der Zeit davor interessiert hat, war Folgendes: Während sich die AfD in Heidelberg über mein Stück »Peak White oder Wirr sinkt das Volk« empörte und Kürzungen beim Theater forderte, stellte der AfD-Politiker Hans-Thomas Tillschneider in Sachsen-Anhalt ein völkisch-nationalistisches Kulturprogramm vor – gegen das sogenannte linksversiffte Regenbogen-Trallala. Wir haben im Brief zudem die Verbindung zu rechtsextremen Übergriffen gezogen, auch im Bereich des Theaters, beispielsweise in Chemnitz gegen den antirassistischen Kulturverein Lokomov, der ein Theaterstück zu den NSU-Morden entwickelte. Ich denke aber auch an die Intervention der »Identitären« im Berliner Maxim-Gorki-Theater. Solche Dinge werden von Leuten wie Jongen vorgedacht, der den »Volkszorn« zu etwas Ehrenhaftem und Legitimem verklärt. Er ruft natürlich nicht direkt zu Aktionen auf, schafft aber mit seiner Thymos-Theorie eine Steilvorlage für alle, die Anschläge auf Kultureinrichtungen, aber auch auf Unterkünfte von Geflüchteten ausüben oder rechtfertigen wollen.

Der Aspekt der Bühne verbindet Politik und Theater. Es ist davon auszugehen, dass – den Fall einmal hypothetisch angenommen – man mit Vertretern der politischen Rechten nicht für sich selbst diskutiert, sondern für andere, letztlich für eine interessierte Öffentlichkeit. Es handelte sich also um eine Art Schauspiel. Wäre das nicht eine Möglichkeit, die Ideologie der AfD zu demontieren oder dekonstruieren?
Schmitt:
Genau diesen Rahmen haben aber die Kuratorinnen und Kuratoren der Veranstaltung und die Gessnerallee selbst leider nicht gestaltet. Mit dem Titel »Die neue Avantgarde« haben sie das Podium lediglich effektheischend überhöht. Für eine Dekonstruktion wäre eine ganz andere Arbeit nötig.
Rittberger: Es war ja nicht als künstlerische Veranstaltung gerahmt. Und selbst wenn Jongen eine Figur im Dokumentartheater wäre, zweifle ich an der Lösbarkeit gesellschaftlicher Widersprüche anhand dramatischer Einzelfiguren. Adorno nannte das einmal »phony«. Wir haben es hier mit einer Metapolitik der Neuen Rechten seit 1968 zu tun, Volker Weiß hat das in seinem Buch »Die autoritäre Revolte« sehr gut beschrieben. Die Lüge von der Lügenpresse bewirkt nun, dass der Neuen Rechten Plattformen gegeben werden. Wir müssen aber jeden Landgewinn der Rechten, denen es um die Eroberung der kulturellen Hegemonie geht, verhindern. Als Tillschneider auf einem Podium im Theater Magdeburg saß, konnte man leider feststellen, dass er die Agenda vorgab. Wie der Deutschlandfunk berichtet hat, kamen die Leute da raus und sagten, dass sei aber ein spannender Theaterabend gewesen. Da sage ich nur: Bitte keinen spannenden Theaterabend mit der AfD!

Das Problem am rechten Kampf um die kulturelle Hegemonie ist doch, dass er auf zwei Weisen erfolgreich sein kann. Wenn die Rechten ein Podium haben, wurde der Aktionsradius erweitert, wenn man es ihnen verweigert, können sie sich als Opfer einer linksliberalen Hegemonie inszenieren. Man könnte beispielsweise einwenden, dass Jongen die Verhinderung der Veranstaltung in Zürich geholfen hat, denn so konnte er als »Märtyrer der Demokratie« in nahezu allen Schweizer Medien seine Thesen verbreiten, seine Bühne wurde also eher erweitert. Wie gehen Sie damit um?
Schmitt:
Mir ist es lieber, die Rechten stilisieren sich als Opfer, als ihnen Handlungsspielräume zu überlassen. So müssen sie reagieren und können nicht agieren. Ich denke, das ist strategisch besser und meines Erachtens im Fall Gessnerallee auch gelungen. Ich denke, die Absage einer solchen Veranstaltung führt zu produktiveren politischen Diskussionen beim Publikum als ihr Stattfinden. Wir müssten dann in einem nächsten Schritt überlegen, was eine Linke aus dieser Situation machen kann. Und die Theater müssen überlegen, welche emanzipativen Möglichkeiten sie haben.
Rittberger: Man muss sich das mal vorstellen: Die Schweizer Weltwoche hat während der Diskussion über die Absage des Podiums bei verschiedenen Theatern um »Asyl« für Jongen gebeten, was ihm verweigert wurde. Andere Organe haben auf die Meinungsfreiheitstränendrüse gedrückt. Es geht doch darum, den Diskurs in unserer Gesellschaft zu pluralisieren und nicht zu verknappen. Und die AfD verknappt den Diskurs. Meine Fragen wären: Wie ist es bestellt um eine linke Hegemonie im Theater? Wie kann man sie stärken, kultivieren und pflegen? Wie kann man einen pluralisierten Diskurs politisieren? Es geht darum, sich gemeinsame Ziele für die Zukunft zu stecken.

Was kann man sich unter der linken kulturellen Hegemonie vorstellen und was wären die gemeinsamen Ziele, die euch vorschweben?
Rittberger:
Was ich sehr wichtig finde, ist, dass es innerhalb der Linken nicht mehr zu einer Spaltung in Haupt- und Nebenwiderspruch kommen darf. Wir müssen versuchen, wie es in den USA heißt, race, class und gender, die allesamt konstruierte Kategorien sind, intersektional zu denken. Eine linke Hegemonie neu zu denken, heißt also, Widersprüche miteinander und nicht gegeneinander zu denken, weil Ausbeutung, Unterdrückung und Hierarchisierung verschiedentlich stattfinden.

Ist das denn eine Aufgabe für das Theater?
Rittberger: Ich denke, dass das auch eine ästhetische Frage ist. In den letzten Jahren zeigt sich auch wieder eine Tendenz zum politischen, repräsentativen Theater. Performative Formen werden dann in einem Atemzug zu Komplizen des Neoliberalismus erklärt. Performativität kann aber inzwischen als allgemeines Dispositiv beschrieben werden. Sie kann zur neoliberalen Selbstoptimierung führen, man kann sie sich jedoch auch aneignen und Widerständigkeiten entwickeln. Wenn Brecht im »Messingkauf« vom »Sich-direkt-an-den-Zuschauer-Wenden« spricht, wird das von Seiten einer politisch-performativen Ästhetik konsequent weitergedacht, sofern es sich zum Beispiel um bisher Ausgegrenzte, bisher nicht zur Sprache Gekommene handelt, die auf der Bühne stehen, um ihr Wissen und ihre Geschichte einzubringen. Da geht es dann um ein anderes Verständnis von Stellvertreterschaft. Das lässt sich nicht so leicht abtun und auch nicht gegeneinander stellen. Wenn man alte Formen des politischen Theaters einfordert, um Widersprüche zu bearbeiten, sollte man diese neuen Formen nicht per se abwerten, sondern differenziert betrachten.

Es lassen sich drei verschiedene Ebenen in dem Gesagten erkennen: Erstens geht es um Tradition und Selbstverständnis politischen Theaters, zweitens um den Zusammenhang einer bestimmten Ästhetik mit Formen der Vergesellschaftung und drittens um das vorrangig ethische Argument, wer auf der Bühne steht. Wie verhält sich das zueinander? Und was bedeutet das für politisches Theater?
Rittberger:
»Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist.« Dieses Lob des Kommunismus spricht Brecht noch ohne die Erfahrung des realen Sozialismus aus. Heute gibt es den Umgang mit dem gescheiterten Realsozialismus, der nicht geklärt ist, außerdem verschiedene Kritiken an Herrschaftsverhältnissen und verschiedene Stimmen gegen Ausbeutung, feministische, antirassistische, postkoloniale Kämpfe. Und die Ästhetik, die sich in den achtziger und neunziger Jahren entwickelt hat und als postmoderne Ästhetik bezeichnet wird, reagiert auf das Ende der einen Metaerzählung. Zu fragen wäre, wie weit man mit dem Sich-an-die-Zuschauerinnen-Wenden kommt? Wer spricht – für wen? Und was geschieht – nach wie vor – wenn die Performerinnen und Schauspieler sich von den Zuschauerinnen und Zuschauern abwenden und eine andere Realität schaffen als eine abbildende, repräsentative?
Schmitt: Ich meine auch eine verstärkte Sehnsucht nach Authentizität zu erkennen, einen Hunger nach Realität im Theater und im Kunstbereich, die ja immer enger zusammenrücken. Mir geht es in der Arbeit mit Dokumenten immer auch darum, dem ganzen eine utopische Dimension hinzuzufügen, einen Fluchtpunkt. Erst mit dem Utopischen kommt man meines Erachtens weg von der Gefahr, der Realität verhaftet zu bleiben und authentisch sein zu wollen.
Rittberger: Der Vorteil des Theaters ist natürlich, dass die Konstruktion offenliegt. Beim Film muss erst die Tonangel im Bild hängen, im Theater sieht man die Scheinwerfer ja von vornherein. Die Konstruktion von Realität ist Aufgabe des Theaters. Und die Realität als konstruierte zu zeigen, heißt auch, die Welt als veränderbar zu zeigen. Das ist ein anderer Begriff von Mimesis, der nicht auf Abbildung oder Simulation beruht. Das Authentische basiert hingegen auf Identität. Der postkonstruktivistische Ansatz von Karen Barad, den ich sehr spannend finde, sagt etwa: undoing identity.

Die postmoderne Ästhetik hat virtuose Mittel entwickelt, gerade in der Kritik traditioneller Theaterformen. Zu fragen wäre doch aber, ob diese Ästhetik nicht ins Affirmative gekippt ist, selbst wenn sie kritische Impulse transportiert, und ob eine Selbstkritik performativer Formen und Mittel an der Zeit wäre. Wäre nicht etwa zu überprüfen, ob die kritischen Mittel noch einen kritischen Inhalt hervorbringen?
Schmitt:
Ich würde eher überlegen, worum es bei einer neuen Ästhetik oder auch beim Anknüpfen an eine Ästhetik gehen soll. Kann Kunst gesellschaftliche Verhältnisse verändern? Wenn Kunst sich als Kommunikation und als Experiment begreift, dann bedingt ja. Wir können Dinge herstellen und Dinge sichtbar machen, die so noch nicht gesagt wurden. Kunst kann als Katalysator funktionieren. Es geht aber auch mit Brecht und Walter Benjamin nicht nur darum, wie das Kunstwerk zu den Produktionsverhältnissen steht, sondern auch darum, wie es in den Produktionsverhältnissen steht, um die Frage: Wie arbeiten wir? Der freie Kunst- und Theaterbereich ist natürlich auch nur ein Spiegel unserer kapitalistischen Welt. Die Kunst steht nicht außerhalb. Und es geht letztendlich darum, in den eigenen Arbeitszusammenhängen andere Logiken zu etablieren, kollektive Lernprozesse einzugehen, gemeinsam zu intervenieren.

Ein Eindruck zur politischen Wirkung der Kunst ist, dass Gesellschaftskritik kaum mehr einen politischen Ort hat, aber noch einen künstlerischen. Nun ist Kunst aber strukturell folgenlos. Das hat den paradoxen Effekt der Neutralisierung der Kritik durch die Kunst. Bringt das nicht die künstlerische Gesellschaftskritik in ein Dilemma?
Schmitt: Das ist eine sehr interessante Frage, die mich auch beschäftigt. Ein guter Ansatz wäre vielleicht, die Grenzen zwischen Kunst und Politik mehr zu verwischen und mehr Leute in diesen Kunstbereich reinzubekommen, die nicht aus dem Kunstbereich kommen – ohne dass dann aller Widerspruch und Widerstand kooptiert wird und verstummt. Schwierig! Gesellschaftskritik findet glücklicherweise aber auch außerhalb der Akademien und der Kunst statt, nicht so intellektuell vielleicht, aber sie findet statt, in vielen kleinen Initiativen. Umgekehrt ist natürlich die politische Utopie Motor meiner künstlerischen Arbeit. Ich kann mich ja nicht der Logik des Kapitalismus ergeben.

Konstanze Schmitt ist bildende Künstlerin und Theaterregisseurin.
Kevin Rittberger ist Theaterautor und -regisseur. Sein Stück »Peak White oder Wirr sinkt das Volk« (2017) rief Proteste von AfD-Anhängern vor dem Theater Heidelberg hervor.