Brasiliens Regenwald in Gefahr

Ein Minister und seine Freunde

Unter Brasiliens wirtschaftsliberalen Umweltminister Ricardo Salles droht dem Urwald Amazoniens der Kahlschlag. Experten befürchten verheerende Konsequenzen für Klima und Ernährungssicherheit.

In der Mitte des Wahlplakats stand ».30-06« über einem Bild von Gewehrpatronen. Darunter stand der Satz: »Hilft gegen die Wildschweinplage, gegen die Linke und den MST (brasilia­nische Landlosenbewegung, Anm. d. Red.) sowie gegen Banditen auf dem Land!« Gemeint war ein beliebtes Munitionsformat für Jagdgewehre, aber auch der Zahlencode 3006, mit dem man auf den in Brasilien gebräuchlichen Wahlmaschinen einen Kandidaten auswählen konnte. Mit dieser Zahlenkombination bewarb sich Ricardo Salles für die wirtschaftsliberale Partei Novo im Bundesstaat São Paulo für einen Sitz in der Abgeordnetenkammer. Er erhielt über 30 000 Stimmen, was aber nicht für einen Sitz im Parlament reichte. Den braucht er nun auch nicht, um Politik auf Bundesebene zu machen. Präsident Jair Messias Bolsonaro ernannte den Gründer und Vorsitzenden der extrem rechten Organisation Mo­vimento Endireita Brasil (in etwa: »Bewegung, um Brasilien geradezubiegen«) zum Umweltminister.

In elf Jahren wurden 220.000 Quadratkilometer Wald in Amazonien gerodet – das entspricht ungefähr der Fläche Großbritanniens.

Mit Salles ist ein Bock zum Gärtner gemacht worden. Brasilianische Umweltorganisationen kritisierten die Ernennung vehement. »An diesen Reak­tionen sehe ich, wir haben die richtige Entscheidung getroffen«, sagte Bolsonaro. Vor seinem Regierungsantritt hatte er angekündigt, das Umweltministerium in Zukunft dem Agrarministerium unterzuordnen. Den Vorschlag zog er nach heftiger Kritik zurück, doch die Ernennung Salles’ zum Minister folgt derselben Logik.

Bereits von 2016 bis 2017 leitete Salles das Umweltsekretariat des Bundesstaats São Paulo. In dieser Zeit soll er illegal den Plan für ein Naturschutzgebiet am Fluss Tietê verändert haben, um befreundeten Bergbauunternehmern entgegenzukommen. Im Dezember vergangenen Jahres entzog ihm ein Gericht deshalb für drei Jahre alle politischen Rechte; der mittlerweile amtierende Minister legte Berufung ein, das Urteil ist nicht rechtskräftig, aber anhängig.

Salles ist sehr viel weniger am Schutz der Umwelt als dem der Agrar- und Bergbauindustrie interessiert. Während der vierten Umweltversammlung der Vereinten Nationen in Nairobi Mitte März sagte er: »Brasilien ist nicht mit dem alarmistischen Ton einverstanden, in dem die landwirtschaftliche Produktion von Entwicklungsländern kritisiert wird.« Brasiliens Emissionen, die zu einem Großteil aus der Brandrodung von Regenwald stammen, seien seit 2004 um 72 Prozent gefallen. Er verschwieg, dass diese Tendenz sich wieder umgekehrt hat, seit 2012 steigen die Entwaldungsraten und Emissionen in jedem Jahr.

Ab 2003, während der Amtszeit des Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei (PT), war die Entwaldungsrate in Amazonien enorm gesunken, von 60 000 Quadratkilometer pro Jahr im Jahr 2003 auf 30 000 im Jahr 2005. Da Silvas Regierung reformierte die Umweltgesetzgebung und ließ Unternehmen stärker kontrollieren. Doch ganz wurden die Rodungen nie unterbunden – zu groß waren das zu kontrollierende Gebiet in Amazonien und die Korruption bei Unternehmen und lokalen Behörden. Bereits während der Regierungszeit von da Silvas Nachfolgerin Dilma Rousseff von 2011 bis 2016 stieg die Entwaldungsrate unter dem Druck der Wirtschaftskrise wieder.

Bolsonaro hatte im Wahlkampf eine grundlegende Wende in der Umweltpolitik angekündigt. Schon als Abgeordneter hatte er immer wieder kritisiert, dass die Umweltgesetzgebung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes – also vor allem der Agrarindustrie und dem Bergbau – im Weg stehe. Aus diesem Grund kündigte Bolsonaro auch an, aus dem Pariser Klimaschutzabkommen auszusteigen und die Ausrichtung der Klimakonferenz COP 25, die dieses Jahr in Brasilien stattfinden sollte, abzusagen.

Regelmäßig greift Bolsonaro die Umweltbehörde Ibama an, die die Einhaltung der Umweltgesetze kontrolliert und bei Verstößen Bußgelder verhängt. Bolsonaro hasst die Behörde auch aus persönlichen Gründen: 2012 hatte er in einem Meeresschutzgebiet südlich von Rio de Janeiro illegal geangelt und sollte dafür ein Bußgeld von umgerechnet etwa 2 300 Euro bezahlen, was er jedoch nie getan hat.

Salles ist ebenfalls ein Gegner von Umweltkontrollen – insbesondere für die Wirtschaft. Er hat angekündigt, das »Fest der Geld­bußen«, gemeint sind vom Ibama verhängte Strafzahlungen, zu beenden. Seine Haupttätigkeit bestand bisher darin, den Ibama, der ohnehin gegen Wirtschaftsinteressen kaum ankommt, weiter zu entmachten. Er ernannte einen neuen Leiter der Behörde, der Bußgeldbescheid gegen Bolsonaro ist mittlerweile annulliert und am 28. März wurde der Beamte, der ihn veranlasst hatte, entlassen. Salles verbot zudem dem Ibama, selbständig mit der Presse zu kommunizieren, alle Anfragen müssen an das Ministerium geleitet werden. So können er und seine Mitarbeiter verhindern, dass eventuelle Kritik der Behörde an der Politik der Regierung oder der Industrie nach außen dringt.

Hauptverantwortlich für die Entwaldung sind die Agrarindustrie und der Bergbau. Bereits als Bolsonaros Wahlsieg absehbar wurde, stieg die Entwaldungsrate deutlich an, 2018 war sie die höchste seit mehr als zehn Jahren. Das Gebiet der wirtschaftlichen Expansion nennen Wissenschaftler den »Bogen der Entwaldung«. Damit ist eine gebogener Streifen im südlichen Amazonasgebiet gemeint, der sich vom Atlantik nach Südwesten und dann nach Nordwesten bis an die Grenze zu Peru erstreckt. Dort finden die meisten Rodungen statt, und der Gürtel wandert jedes Jahr etwas weiter nach Norden. Die meiste Zerstörung hat in den vergangenen 30 Jahren stattgefunden. Auf Satellitenbildern sehen neue Rodungen wie Fischgrätenmuster aus: Entlang von Straßen gehen kleinere Pfade ab, von denen dann die Zerstörung des Regenwaldes ihren Ausgang nimmt.

Alberto Setzer, wissenschaftlicher Leiter der Waldbrandbeobachtung am brasilianischen Nationalen Institut für Weltraumforschung (INPE), erklärte in einem Informationsfilm des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit: »Die Schwierigkeiten sind heute nicht mehr technischer Art. Wir wissen ganz genau, wann, wo und von wem gerodet wird. Woran es mangelt, ist der politische Wille, um Rodungen und Waldbrände in Amazonien zu stoppen.« Zwischen 2006 und 2017 wurden 220 000 Quadratkilometer Wald in Amazonien gerodet – dies entspricht ungefähr der Fläche Großbritanniens.

Der amazonische Regenwald hat globale Bedeutung für das Klima. Er ist nicht nur eine wichtige Kohlenstoffsenke, sondern hält auch den Wasserkreislauf des südamerikanischen Kontinents – und möglicherweise eines noch größeren Gebiets – in Gang: In den Blättern des größten Waldes der Erde verdunsten gigantische Mengen Wasser und kühlen die Luft. Feuchte und heiße Luftmassen aus dem Südatlantik, die von den Passatwinden über Amazonien geblasen werden, kommen dazu und regnen sich zum Teil ab. Doch ein großer Teil der feuchten Winde prallt an den Anden ab und wird in den Süden des Subkontinents getragen. Wissenschaftler glauben, dass diese als »Fliegende Flüsse« bezeichneten feuchten Winde der Grund sind, warum der Süden Brasiliens, Paraguay und Nordargentinien keine Wüsten oder karge Trockensavannen sind, sondern zu den fruchtbarsten Regionen der Erde zählen. Ohne den Wald würden die »Fliegenden Flüsse« versiegen. Die brasilianische Landwirtschaft zerstört daher die Ressource, von der sie existentiell abhängig ist.

Die Folgen der Rodungen in Amazonien für das regionale Klima sind bereits spürbar. In den Jahren 2014 bis 2016 erlebte der Bundesstaat São Paulo, in dem etwa 22 Prozent der brasilianischen Bevölkerung leben, eine schwere Dürre. Die Hauptstadt Brasília muss seit drei Jahren mit sinkenden Wasserständen in Reservoirs zurechtkommen.

Brasilien ist einer der größten Exporteure von Lebensmitteln weltweit, die Nachbarländer Paraguay und Argentinien ebenfalls. Wenn die Wasserversorgung dieser Region durch die »Fliegenden Flüssen« unterbrochen wird, hätte dies Auswirkung auf die Ernährungssicherheit von Milliarden Menschen.

Bis jetzt sind die »Fliegenden Flüsse« noch nicht völlig verstanden. Viele Wissenschaftler vermuten, dass das Phänomen weit über den Subkontinent hinaus das Klima und den Wasserkreislauf beeinflusst. Wenn die der­zeitige Entwicklung nicht aufgehalten wird, wird der amazonische Regenwald in 30 Jahren verschwunden sein – und mit ihm auch die »Fliegenden Flüsse«.