Die deutsche Debatte über Coronabonds und die Zukunft des Euro-Raums

Ein Bond fürs Leben

Wie sollen die EU-Hilfen für die von der Covid-19-Pandemie und der sich anbahnenden Wirtschaftskrise besonders betroffenen Staaten aussehen? Die Antwort der Bundesregierung wird von geopolitischen und finanzpolitischen Interessen bestimmt.

Wirtschaftlicher und kultureller Austausch, offene Grenzen, Prosperität, Demokratie – von den Dingen, die gerne in Sonntagsreden zur Lobpreisung des vereinten Europa vorgebracht werden, hat die Covid-19-Pandemie wenig übriggelassen. Hektisch und unabgestimmt erließen Regierungen Anfang März Ausfuhrverbote für Medizinprodukte und schlossen Grenzen. Die ­ita­lienische Regierung setzte zwar das EU-Katastrophenschutzverfahren in Gang, das die gegenseitige Hilfe der Mitgliedsstaaten im Katastrophenfall koor­dinieren soll, blieb allerdings ­erfolglos.

Im März hatte Bundeswirtschafts­minister Peter Altmaier (CDU) die Diskussion über Coronabonds als »Gespensterdebatte« abgetan. Anfang April schon zeigte sich,
dass er falsch gelegen hatte, selbst was die eigene Partei anging.

Das Vorgehen der Bundesregierung erweckte in den vergangenen Wochen den Eindruck, als habe sie vergessen, dass sie der ökonomischen und politischen Führungsmacht des europäischen Staatenbunds vorsteht. Die Frage, wie eine europäische Antwort auf die sich anbahnende Wirtschaftskrise aussehen könnte, warf schließlich die Regierung Italiens auf. Diese fordert gemeinsam mit weiteren EU-Staaten wie Spanien und Frankreich, zur Finanzierung der Krisenfolgen sogenannte Coronabonds aufzulegen. Diese gemeinsamen europäischen Anleihen sollen es stark verschuldeten Staaten, die auf den Finanzmärkten hohe Zinsen für Kredite zahlen müssen, ermöglichen, sich zu günstigeren Konditionen Geld zu leihen.

Die Bundesregierung lehnt diese Forderung ab. Bundesfinanzminister Olaf Scholz und Bundesaußenminister Heiko Maas (beide SPD) schlugen am Montag ein Dreistufenmodell aus Krediten des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), Hilfen der Europäischen Investitionsbank (EIB) und Mitteln des von der EU-Kommission vorgeschlagenen Programms »Sure« vor, das ähnlich wie in Deutschland Kurzarbeit in den Mitgliedstaaten finanzieren soll. Den ESM als Finanzierungsmöglichkeit lehnt Italien bisher strikt ab. Damit scheint sich eine ähnliche Auseinandersetzung wie in der Finanz- und Eurokrise ab 2008 zu ergeben. Damals machten einige EU-Staaten den Vorschlag, den von Zahlungsunfähigkeit bedrohten Ländern Südeuropas mit europäischen Anleihen, sogenannten Eurobonds, den Zugang zu Krediten zu erleichtern, was Deutschland allerdings vehement ablehnte. Deutsche Politiker, Wirtschaftswissenschaftler und Kommentatoren sahen den Vorschlag mehrheitlich als Schritt in eine »Transferunion« an, in der der Reichtum in der EU umverteilt würde.

Statt der Eurobonds wurde 2012 der ESM eingerichtet, der überschuldeten Mitgliedsstaaten Bürgschaften und Kredite zur Verfügung stellte, ihnen allerdings zugleich sogenannte Strukturanpassungsprogramme auferlegte. Diese beinhalteten die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur und harte Einschnitte in den Sozialstaat, mit verheerenden Folgen unter anderem für die Gesundheitssysteme der betroffenen Länder. Deshalb lehnt Italien eine Unterstützung über den ESM ab.

Doch die derzeitige Debatte unterscheidet sich von der damaligen. Noch am 24. März hatte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) im Gespräch mit dem Handelsblatt die Diskussion über Coronabonds als »Gespensterdebatte« abgetan. Anfang April schon zeigte sich, dass er damit falsch gelegen hatte, selbst was die eigene Partei anging. CDU-Politiker wie das Vorstandsmitglied Elmar Brok, der Außenpolitiker Roderich Kiesewetter und der Vizepräsident des Europaparlaments, Rainer Wieland, sprachen sich für die Anleihen aus. Auch SPD-­Politiker wie der Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans und der Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, befürworteten deren Einführung. In ­einer Umfrage des Ifo-­Insti­tuts unter 155 Ökonomen und Ökonominnen ­votierte eine knappe Mehrheit für Coronabonds. Ebenso warben Leitartikel im Spiegel, in der Süddeutschen ­Zeitung und im Tagesspiegel für die Anleihen. Am Samstag sagte Herbert Diess, der Vorstandsvorsitzende der Volkswagen AG, in einem Interview mit dem Journalisten Gabor Steingart, er wünsche sich ein »bisschen mehr europäische Solidarität«. Gemeinsame europäische Anleihen seien ein wich­tiges Mittel, um in Südeuropa Vertrauen zurückzugewinnen, was nötig sei »in einer Welt, die sich stärker polarisiert zwischen China und den USA«.

Es dürfte mehrere Gründen haben, dass die Einführung von Coronabonds zurzeit mehr Zustimmung erhält als damals die der Eurobonds. So wirkt die Pandemie in ganz Europa verheerend und die Verantwortung dafür lässt sich nicht auf einige Staaten abwälzen. Vor allem aber trifft sie die EU zu einer Zeit, in der diese mit Zerfallserscheinungen kämpft. Großbritannien hat die EU verlassen, die Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn haben erfolgreich ihre sehr eigene Definition der EU als »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« durchgesetzt und Italien ist zum Missfallen der EU-Kommission 2019 dem chinesischen Projekt »One Belt, One Road« (auch bekannt als »Neue Seidenstraße«) bei­getreten. Italiens Gesundheitswesen bekam ab Mitte März erhebliche Unterstützung von China und Russland, die italienische Regierung äußerte demonstrativ ihre Dankbarkeit; im Zuge dieser Hilfe durchquerte ein russischer Militärkonvoi halb Italien.

All das alarmierte die Bundesregierung. Sie bekundet seither ihr Mit­gefühl. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) versicherte seinen italienischen Amtskollegen Sergio Mattarella brieflich der deutschen Solidarität, Schutzmasken wurden an Italien geliefert und Erkrankte zur Behandlung nach Deutschland ausge­flogen.

In der Frage der Coronabonds treffen zwei Strömungen in der deutschen ­Außen- und Finanzpolitik aufeinander. Der einen geht es vorrangig darum, den ökonomischen und politischen Zusammenschluss EU als Sphäre der deutschen Hegemonie und der deutschen Exportwirtschaft sowie als handlungsfähigen Block in der Auseinandersetzung mit China und den USA zu erhalten. Dafür ist man zu Abstrichen bei finanzpolitischen Dogmen bereit. Die andere will hingegen international Marktanteile durch einen stabilen Euro erlangen, der als Weltwährung in Konkurrenz zum US-Dollar treten kann. Den Erfolg der deutschen Exportwirtschaft wollen die Vertreter dieser Strömung durch anhaltend hohe Produk­tivität bei weiterhin relativ geringen Löhnen sichern. Innenpolitisch ist diese Haltung auch dadurch geprägt, dass die Diskussion über Hilfen für Griechenland in der Eurokrise Anlass zur Gründung der AfD war. Diese Strömung nimmt eine weitere Verelendung der europäischen Peripherie in Kauf, soweit diese nicht die Existenz des Euro selbst gefährdet. Um dieser Gefahr und dem Drängen vor allem Italiens und Spaniens auf Ausgabe von Coronabonds zu begegnen, halten ihre Vertreter es für ausreichend, mildere Bedingungen für Hilfen über den ESM und 100 Milliarden Euro für ein europäisches Kurzarbeitergeld in Aussicht zu stellen. Für beide Strömungen gilt: Vom Willen, das Leiden und Sterben in Italien und Spanien möglichst schnell zu beenden, sind sie, trotz aller hehren Worte, am allerwenigsten angetrieben.