Post-Club-Culture im pandemiebedingten Biedermeier

Rettet den Rave

In Berlin hat die Pandemie eine Lebensweise vorübergehend beendet, die die Stadt lange geprägt hat.

In den emotional oft belastenden Wochen und Monaten der Kontaktbeschränkungen versorgte »It’s Berlin«, die Youtube-Serie von Daniel-Ryan Spaulding, einen zuverlässig mit befreiender Komik. Der Stand-up-Comedian spielt sich selbst als typischen englischsprachigen schwulen expat (er bezeichnet sich als »dual citizen« Kanadas und Kroatiens), der ständig nur davon redet, mit irgendwelchen hot guys unterschiedlicher Nationalität oder Ethnizität Sex zu haben, und sich beharrlich weigert, Deutsch zu lernen. Kurz vor Beginn des erzwungenen social distancing veröffentlichte er am 13. März ein Video, das ihn vor dem geschlossenen »Berghain« zeigt, dem Club, der Berlin in der ganzen Welt für Techno, Ausschweifungen und schwule Sexpartys bekannt machte. Spaulding wirft sich auf den Boden, heult und schreit: »Was soll ich Ostern tun, wenn ich keinen Gangbang haben kann?«

Berlins Nachtleben zog vor der Coronakrise jährlich drei Millionen Clubtouristen in die Stadt.

Auch in weiteren Folgen möchte er zunächst gar nicht wahrhaben, dass es »sein« Berlin auf einmal nicht mehr gibt. Keine Bars mehr offen, »Biertrinken und Ketamin auf der Parkbank ziehen« nicht mehr drin, kein Sex mehr mit Uber-Fahrern auf Parkplätzen. In einer weiteren Folge schreit er am Telefon eine heterosexuelle Freundin an, nachdem diese ihm davon vorschwärmt, wie sie und ihr Freund zu Hause die Quarantäne genössen und durch Homeoffice »viel Geld sparen« – genervt sei sie nur, dass der Freund immer Sex haben wolle. Spaulding klagt, es gehe ihm nicht gut, er sei Single, habe keine Arbeit und wolle sein Leben zurück. Die ganze Pandemie bevorteile bourgeois bitches wie sie und ihren Partner. Der Höhepunkt war ein Video vom 6. April, in dem Spaulding über mehrere Minuten in fiebriger Manier von einer gigantischen Sexorgie im Berliner Mauerpark mit Tausenden von schwulen türkischen Uber-Fahrern, knüppelschwingenden Polizisten und mit Wasserwerfern auffahrenden Bundeswehrsoldaten phantasiert. Auf dem Höhepunkt taucht Bundeskanzlerin Angela Merkel auf, doch die Feiernden schicken sie wieder weg. Die kopulierende Menge kommt gemeinsam und über dem Park erscheint ein riesiger Regenbogen.

Clubs im Koma
Nach zwei Monaten war man allerdings Spauldings ständiger Sexphantasien und seiner fortlaufenden Beschwerden über die Schließung des »Berghain« ein wenig überdrüssig. Aber seine regelmäßigen rants trafen einen Nerv, denn sie ermöglichten es, nicht nur über seine Parodie des stereotypen expats zu lachen, sondern auch über die eigene, angesichts eines globalen Notstands etwas deplatziert und unreif wirkende Sehnsucht nach Verrücktheiten wie den von Spaulding beschriebenen. Und die sind während der Covid-19-Pandemie noch unvernünftiger und im Zweifel auch nicht zu Unrecht verboten. Allerdings sagte Spaulding schon Mitte April voraus, wohin Berlins displaced ravers und hot gay guys über die Sommermonate hin ausweichen würden – in die Hasenheide, wo dann tatsächlich regelmäßig illegale Raves stattfanden (s. Anderthalb Tanzflächen Abstand).

»Clubs und Diskotheken dürfen ihr reguläres Angebot noch nicht wiederaufnehmen, das heißt die Ausrichtung von Tanzlustbarkeiten ist weiterhin verboten«, heißt es inzwischen lapidar auf der Internetseite der Berliner Senatskanzlei in den Coronaverordnungen mit Stand vom 9. September. Berlin ohne »Tanzlustbarkeiten«, zumindest solche in geschlossenen Räumen – das hätte man sich noch im Februar kaum vorstellen können. Dann auf einmal: »Es ist aus meiner Sicht leichter, auf ein Konzert, ein Fußballspiel oder einen Clubbesuch zu verzichten als auf den Weg zur Arbeit oder darauf, dass ein Kind in der Krippe betreut wird«, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bei einer Pressekonferenz am 8. März. Klare Prioritäten, noch bevor die ersten Beschränkungen erlassen wurde. Noch mindestens zwei weitere Male erwähnte Spahn auf derselben Pressekonferenz die Clubbesuche, auf die man nun verzichten müsse, immer ein wenig in einem Tonfall, als wolle er betonen, dies sei nun wirklich nicht das Schlimmste der Welt.

Tatsächlich hatten sich in Berlin die ersten Covid-19 Erkrankten in Clubs infiziert. Die Szene reagierte schnell. Noch bevor ein offizielles Verbot ausgesprochen wurde, schlossen die meisten Berliner Clubs. Seitdem eröffneten sie höchstens wieder als Bier- oder Sektgärten und somit als Schatten ihrer selbst.

Für Hedonisten wie Spaulding (beziehungsweise seine Youtube-Figur) bedeutet die Schließung der Clubs den schwer zu verkraftenden Zusammenbruch einer Lebensweise. Es hängen aber auch viele wirtschaftliche Existenzen daran. Berlins Nachtleben zog vor der Coronakrise jährlich drei Millionen Clubtouristen in die Stadt, heißt es in einer Studie der Clubcommission, des Verbands der Berliner Club-, Party- und Kulturereignisveranstalter. Diese Besucherinnen und Besucher haben demnach 2018 im Schnitt 204 Euro pro Tag und Person ausgegeben und insgesamt für einen Umsatz von 1,48 Milliarden Euro gesorgt – in den Clubs, aber auch in Hotels, Taxis oder Restaurants. Und die höheren Umsätze der Drogendealer wurden vermutlich nicht einmal eingerechnet.

Nicht zuletzt wird Berlin aber durch seine Clubs definiert wie in der Zeit davor etwa Westberlin durch die Mauer: als Ort einer bestimmten Form von Freiheit. Nun hat die Pandemie die Clubs in ein künstliches Koma versetzt, am Leben gehalten durch Millionen von Euro an Coronasoforthilfen. Doch wie lange können sie so existieren? Was passiert unterdessen mit dem Personal (s. Arbeitslos durch die Nacht)? Und was passiert, wenn die Clubkultur in ihrer bis zum Ausbruch der Pandemie bestehenden Form nicht wieder zu sich kommt?

Die Angst vorm neuen Biedermeier
In Spauldings Komik drückt sich nicht nur eine verständliche Wut auf alles Vernünftige und Gebotene aus, sie ist auch eine subversive Polemik gegen das, was einige Beobachter in Deutschland als neues Biedermeier bezeichnet haben. »Hilfe, Corona macht uns zu Spießern«, titelte angesichts von Homeoffice und dem zunächst erzwungenen Rückzug in die Familie die Welt am 21. Mai. »Ein Teil der Menschen«, so der Psychologe Stephan Grünewald im Mai im Interview mit dem Tagesspiegel, »empfindet die Coronakrise als eine Art Vorhölle.« Diese Menschen hätten materielle und existentielle Nöte oder seien mit der Kombination von Homeoffice und Kinderbetreuung völlig überfordert gewesen. »Auf der anderen Seite gab es jene, die die Entschleunigung genossen haben. Verliebte Paare, die berichteten, sie hätten so viel Sex wie noch nie. Mütter mit frisch geborenen Babys, die das Ganze als ungestörtes Idyll erlebten.« Grünewald spricht vom »Corona-Biedermeier«. Viele zieht es mittlerweile aufs Land, allerdings weniger wegen der vermeintlichen Idylle als wegen der dort noch bezahlbaren Immobilien. Die Städte veröden, ein Trend, der schon lange vor Covid-19 einsetzte und sich mit der Pandemie beschleunigt. Grün wählende Anwohner in szenigen Altbaukiezen gehen am Wochenende vielleicht auch mal in einen Club tanzen, aber nebenan soll er nicht sein. Und im Homeoffice möchte man erst recht nicht vom Lärm einer After Hour belästigt werden.

Dabei kann man sich schon fragen, wie viel Berlins Clubkultur selbst zu dieser kulturellen Verödung beigetragen hat. Viele Clubs repräsentierten bestenfalls eine Reminiszenz an eine Zeit, als Techno noch Underground war. Die Betreiber und Betreiberinnen der 2010 geschlossenen »Bar 25«, und der ihr nachfolgenden Clubs »Kater Holzig« und mittlerweile »Kater Blau« haben sich mit der Holzmarkt-Genossenschaft ein kleines Clubdorf am Spreeufer geschaffen, in dem Arbeiten und Feiern verbunden werden sollen. Mittlerweile wirkt dies nur mehr wie eine kommerzielle Kopie der besetzten Häuser und Wagenburgen, die in den neunziger Jahren das Stadtbild und die Clubkultur prägten. Die Clubs entstanden zumeist, als diese Freiräume bereits weitgehend zerstört waren, oft im Rahmen alternativ-kommerzieller »Zwischennutzung«.

Das »Berghain« hat mittlerweile seine Türen wieder geöffnet und zeigt die Ausstellung »Studio Berlin« des Kunstmäzens Christian Boros. Fotografien, Skulpturen, Gemälde, Videos, Klangkunst, Performances und Installationen internationaler Stars sowie in Berlin lebender und arbeitender Künstlerinnen und Künstler kann man dort seit dem 9. September besichtigen – für schlappe 18 Euro. Das ist mehr, als man in den heiligen Hallen des ehemaligen Fernheizwerks für einen Clubbesuch zahlte. Dafür soll am Einlass kein Türsteher mehr Leute wie ehedem nach Augenschein abweisen – wegen zu spießigem Äußeren oder pubertärem Gebaren. Schade eigentlich.

Natürlich muss auch ein Technoclub in Zeiten von social distancing sehen, wo er bleibt. Doch die Tendenz zur (unfreiwilligen) Selbstmusealisierung ist schwer von der Hand zu weisen. Und das bedeutet einen weiteren Schritt in Richtung einer Post-Club-Culture, in dem Berlin sich anders betrachten und präsentieren muss als bisher. Ob die Stadt schon dazu bereit ist? Wenn sich Spaulding demnächst wieder dabei filmen sollte, wie er sich schreiend vor dem »Berghain« auf den Boden wirft, dürfte der Eintrittspreis jedenfalls nicht der alleinige Grund sein.