In der US-Literatur ist »passing« ein häufiges Thema

Biographie und Fiktion

In einer von Rassismus geprägten Gesellschaft aus ethnisch definierten Gruppenzugehörigkeiten auszubrechen, ist ein Wunsch, der an eines der Gründungsversprechen der USA erinnert.

Kleider machen Leute, dessen ist sich Felix Krull sicher. Warum, so fragt der Protagonist aus Thomas Manns Roman »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« (1954), trage er denn zuweilen seinen leicht angepassten, eleganten Gesellschaftsanzug, der zwar von der Stange gekauft wurde, aber nicht so aussieht? Die Antwort ist, »um darin von Zeit zu Zeit, gleichsam versuchs- und übungsweise ein höheres Leben zu führen«. Der Hochstapler Felix Krull hat verinnerlicht und kultiviert, dass die moderne Gesellschaft die Subjekte zu Schauspielern macht, die je nach Situation in Rollen schlüpfen und Masken anlegen. Wo die Privatsphäre und die Öffentlichkeit zum Schutze beider voneinander getrennt sind, wo Inneres und Äußeres feste Orte haben, da wird der versierte Umgang mit der Oberfläche, dem Kostüm, der Sprache und dem Habitus zur Bedingung gesellschaftlichen Aufstiegs. Felix Krull ist die literarische Verkörperung des durch die Moderne aufer­legten Doppellebens, das in seiner extremsten Form ununterscheidbar werden lässt, wann jemand verkleidet ist und wann nicht. Nicht nur man selbst sein zu müssen, ist das Versprechen, das die bürgerliche Gesellschaft formuliert und zugleich untergräbt.

Thomas Manns Romanfigur Felix Krull nimmt ernst, was in den USA zum Gründungsversprechen gehört: Die soziale Klasse soll kein Schicksal sein.

Auch der College-Professor Coleman Silk, der Protagonist aus Philip Roths Roman »Der menschliche ­Makel« (2000), weiß, dass Kleider Leute machen – aber nicht nur Kleider. Denn wichtiger noch als die Oberfläche, als Frack, höhere Bildung und gute Manieren, ist in den USA seit dem frühen 20. Jahrhundert etwas anderes, ­etwas als intrinsisch und wesenhaft Verstandenes. Es firmiert unter dem Wort race. Einst meinte es vor allem die Hautfarbe und entschied in hohem Maß über Wohl und Wehe in der US-amerikanischen Gesellschaft. Aber dem Altphilologen Silk ist seine Herkunft gerade nicht auf die Haut geschrieben. Deren Einordnung ist nämlich keineswegs eindeutig.

Nathan Zuckerman, die bekannte Erzählerfigur Philip Roths, beschreibt Silk als »kraushaarigen Juden mit leicht gelblicher Pigmentierung«, jener »changierenden Aura heller Schwarzer (…), die manchmal als Weiße durchgehen können«. Wie sich in dem Roman zeigt, ist genau das bei Silk der Fall. Geboren als hellhäutiger Sohn einer schwarzen Mutter, tritt er nach einem abgebrochenen Studium in die U.S. Navy ein und gibt im Fragebogen an, »weiß« zu sein. Seiner Jugendliebe Steena Palsson offenbart er sein Geheimnis, die ihn daraufhin verlässt. Iris, der Frau, die er schließlich heiraten wird, erzählt er, dass er Jude sei. An dem fiktiven Provinz-College Athena macht Silk dann Karriere, er wird Professor und schließlich als erster Jude Dekan. Dass aus­gerechnet ihn schließlich ein Schicksal ereilt, das heutzutage unter dem Stichwort der cancel culture verhandelt würde und damals ein Echo der sogenannten culture wars war, ist die geniale, tragische Pointe Roths. Wegen einer missverständlichen, saloppen Formulierung über zwei seiner Studentinnen wirft man Silk Rassismus vor. Nach aufreibenden Machtkämpfen und Zerwürfnissen, die mit antisemitischen Untertönen einhergehen, verlässt Silk schließlich die Universität. Dass seine Frau an einem Schlaganfall stirbt, bringt Silk mit den Umständen seiner Kündigung in Verbindung. Später wird er wegen einer einvernehmlichen Affäre mit der deutlich jüngeren Faunia Farley, einer Putzfrau des College, denunziert. Erst nachdem das Paar bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben gekommen ist, entdeckt Nathan Zuckerman das Geheimnis Coleman Silks.

Das amerikanische Paradoxon
Dass Felix Krull sich mit ein wenig Mühe als Adliger, belesener Bürger oder weltgewandter Lebemann präsentieren kann, gründet in dem modernen – mit der Empfindsamkeitswelle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend zurückgenommenen – öffentlichen Desinteresse am privaten Innenleben der Subjekte. Krull nimmt ernst, was in den USA zum Gründungsversprechen gehört: Die soziale Klasse soll kein Schicksal sein. Auch Coleman Silks Versuch, entgegen seiner Herkunft ein Leben als weißer Jude zu führen, ja vielleicht sogar als solcher Karriere zu machen, verdankt sich diesem Versprechen. Aber der Wechsel der Zugehörigkeit, wie er als passing gemeinhin beschrieben und verstanden wird, offenbart zugleich die Beharrlichkeit dessen, was in den USA die Klasse bis heute überlagert und das Versprechen gesellschaftlichen Aufstiegs systematisch untergräbt: die als race verstandene Abstammung und Hautfarbe. Denn während die Logik der Klasse – und somit auch der Wechsel der Klassenzugehörigkeit – im Handeln gründet, beruht die Logik der race auf dem »Sein«.

Passing, also als Angehöriger einer anderen ethnischen Gruppe oder eines anderen Geschlechts »durchzugehen«, ist nicht nur die Folge der unvermeidlichen Varianz körperlicher Eigenschaften, die alle Klassifikation an ihre Grenzen führt. Hinsichtlich der ethnischen Zugehörigkeit drückt passing auch ein genuin US-amerikanisches ­Paradoxon aus, das zugleich die Widersprüchlichkeit ­einer bestimmten Form identitätspolitischen Denkens offenlegt. Zunächst scheint es sich bei Coleman Silks Wechsel der Zugehörigkeit um den praktischen Ausdruck der anti­essentialistischen Überzeugung zu handeln, dass race gerade nichts Biologisches, auf ewig Festgelegtes sei, sondern – wie es der zeitgenössische Sprachgebrauch will – ein soziales Konstrukt. Würde dies ernst genommen, dann wäre Coleman Silk tatsächlich ein US-amerikanischer Jude und ginge nicht »bloß« als einer durch. Im passing, wie überhaupt in der Art und Weise, wie über race gesprochen wird, bleibt vorausgesetzt, was ein konsequenter Konstruktivismus gerade bestreiten möchte, nämlich ein vielleicht kaum noch sichtbarer, aber trotzdem wesenhafter Kern, der sich affirmieren oder verleugnen, nicht aber abschaffen lässt.

Das Bedürfnis, an etwas festzuhalten, das kaum noch sichtbar ist, findet sich auch im US-amerikanischen ­Rassismus, genauer gesagt in der sogenannten one-drop rule. Sie kam ­Anfang des 20. Jahrhunderts auf und war in einigen Bundesstaaten gesetzlich kodifiziert. Hatte ein Mensch nur einen einzigen nichtweißen Vorfahren – der metaphorische eine Tropfen Blut –, galt er als colored. Einerseits handelte es sich bei dieser »Verdünnung« des Rassebegriffs um den ­Versuch, an einer ordnungspolitischen Kategorie festzuhalten, mit der sich die Wirklichkeit – nicht zuletzt wegen der vielen Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe – immer weniger fassen ließ. Andererseits untergrub die one-drop rule gerade das, was gerettet werden sollte. Wie die Befürworter der Segregation in den Südstaaten zu ihrem Ärger feststellten, führte die strenge Auslegung der Regel die Idee einer reinen »weißen Rasse« ad absurdum.

Auch die heutzutage noch im US-amerikanischen Alltagsleben anzutreffende Gewohnheit, die eigene ethnische Genealogie über vier Generationen, also auf Sechzehntel genau anzugeben, spiegelt diese Absurdität wider. Biotechnologische Unternehmen, die DNA-Tests anbieten, wie »23 and Me«, sowie Fernsehformate wie »Finding Your Roots«, in dem sich Prominente ein bis ins Kleinste errechnetes ethnisches Profil erstellen lassen, erfreuen sich in den USA großer Beliebtheit.

Spiel und Ernst
Es ist nicht überraschend, dass es eine reichhaltige literarische Beschäftigung mit dem Phänomen des passing und dem eigentümlichen US-ameri­kanischen Umgang mit der familiären Geschichte und Herkunft gibt. Wo die Wirklichkeit dem Subjekt permanent Wege verbaut, erlaubt es die literarische Phantasie, auszumalen, was möglich wäre. Die tatsächlichen Gründe, aus denen sich Menschen von ihrer Geschichte verabschieden wollen, spiegelt die Literatur aber nicht einfach, wenngleich sie trotzdem auf das Bedürfnis reagiert, ein anderer oder eine andere zu sein. Als wollte Philip Roth diesen Umstand noch einmal gesondert hervorheben, lässt er die Handlung in »Der menschliche Makel« mit dem Versuch Silks beginnen, ein Buch über seinen Rückzug aus dem College zu schreiben, ein Projekt, das der Erzähler Zuckerman schließlich übernimmt. Dabei verwebt Roth die verschiedenen Stimmen auf so komplexe Weise, dass jede Idee eines einfach erzählbaren, »wahren« Lebens fragwürdig ­­erscheint.

Nicht aus Gründen der akademischen oder politischen Reputation hat Silk die eine Zugehörigkeit gegen die andere getauscht. Er, der seit seiner Kindheit nichts anderes als »frei und er selbst« sein möchte, weiß um das ­Gefängnis, das die »Identität« immer auch ist: »Aus einem Puff in Norfolk ­haben sie mich als Schwarzen rausgeschmissen, und aus dem Athena College haben sie mich als Weißen rausgeschmissen.« Und dennoch hat der Protagonist von »Der menschliche Makel« seine Biographie vor allem deswegen »wie eine Fessel« abgestreift, weil es möglich ist.

Denn ganz so wichtig, wie US-Amerikaner auch heutzutage noch ihre eigene Genealogie zu nehmen scheinen, war und ist sie dann eben doch wieder nicht. In der U.S. Navy, einer funktionalen ­Institution, die zugunsten eines Allgemeinen vom Besonderen absieht, lernt Coleman Silk, dass »niemand lange nachfragt, solange die Geschichte, die man über sich selbst erzählt, nur einigermaßen gut und stimmig ist, weil sich kein Mensch so sehr dafür interessiert«. Erst in der Rückschau und im Gespräch mit Zuckerman, aber nicht gegenüber seinen Mitmenschen, versucht Silk, die Fragmente seines Lebens zu einem in sich stimmigen Ganzen zusammenzufügen. Ansonsten ist die Zugehörigkeit eigentlich nur dann ­relevant, wenn sie von außen als Zumutung und Makel an ihn herangetragen wird.

Biotechnologische Unternehmen, die DNA-Tests anbieten erfreuen sich in den USA großer Beliebtheit.

Auf dem Bedürfnis nach einer »stimmigen« Geschichte beruht ein Großteil des Genres der Autobiographie, weswegen es nicht überrascht, dass die US-amerikanische Literatur zahllose Beispiele autobiographischer Schriften kennt, in denen Familiengeschichten modifiziert, Brüche geglättet, Richtungen verändert und neue »Identitäten« erfunden wurden. Die Zwecke eines solchen Unternehmens sind durchaus unterschiedlich. Weiße Abolitionisten schrieben fiktive Autobiographien von Sklaven, um für die ­Abschaffung der Sklaverei zu werben. Manche Autoren nutzten die Möglichkeit des Genres, um ihre reale »niedere« Herkunft, die ihnen nichts als gesellschaftliche Nachteile versprach, gegen eine »höhere« einzutauschen. Nachdem in den sechziger Jahren das Interesse an genealogischer Authentizität sprunghaft zugenommen hatte, entwickelte sich die Autobiographie zur ethnophilen Projektionsfläche und zur Erweiterung eines real vollzogenen Herkunftswechsels.

Notorisch ist unter den vielen Beispielen der Fall Asa Earl Carters. In den fünfziger Jahren hetzte Carter als Anführer einer Ku-Klux-Klan-Gruppe noch gegen Afroamerikaner und trat für die Segregation ein. 1976 veröffentlichte er unter dem Namen Forrest Carter ein im Stile einer Autobiographie verfasstes Buch mit dem Titel »The Education of Little Tree«, in dem er angab, Cherokee unter seinen Vorfahren zu haben. Nachdem noch im selben Jahr seine Klan-Vergangenheit publik geworden war, bestritt der Autor bis zu seinem Tod 1979 kategorisch, Asa Carter zu sein.

Neuanfang und Identitätszwang
Einem nationalen Selbstverständnis, zu dem das Versprechen individueller Aufstiegsmöglichkeiten und das Recht, nach Glück zu streben, gehören, ist das Hochstaplertum gleichsam als Kehrseite eingeschrieben. Kein anderes Land lebt derart von dem Glücksversprechen gesellschaftlichen Aufstiegs wie die USA, die im Großen als der radikale Neuanfang verstanden werden, den sie im Kleinen jedem ihrer Staatsbürger in Aussicht stellt. Dass dieses Ideal lange Zeit weder für Nichtweiße noch für Frauen galt oder dass sowohl Coleman Silk als auch Felix Krull am Ende scheitern (so zumindest wollte Thomas Mann den Roman fortsetzen), spricht nicht gegen es selbst. Es bildete die normative Grundlage für zahllose individuelle Emanzipationsgeschichten und die politischen, kollektiven Anstrengungen, es zu verwirklichen.

Zur Idee des Neuanfangs gehört die Möglichkeit, der eigenen Herkunft zu entkommen. »So viel Sehnsucht, so viel Planen, so viel Leidenschaft und Raffinesse und Verstellung«, lässt Philip Roth seinen Erzähler über Coleman Silk sinnieren, »und das alles nährte nur den Wunsch, aus dem Haus zu gehen und verwandelt zu werden.«

Der fiktive Altphilologe Silk hat diese Verwandlung als Aussicht auf Glück begriffen, ebenso wie der reale, in New Orleans in eine hellhäutige Familie mit schwarzen Vorfahren geborene Essayist Anatole Broyard, der sich sein Leben lang als Weißer ausgab und den einige als das Vorbild der Romanfigur ansahen (was Roth öffentlich verneinte). Beiden galten Bildung, Kunst und Lite­ratur als universell, als Sphären, in denen die partikulare Erfahrung nicht verschwindet, aber suspendiert wird.

Die Idee einer radikalen Abkehr von der jeweiligen Zugehörigkeit kollidiert allerdings nicht nur mit der Beharrlichkeit individueller Biographien, sondern vor allem mit dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Authentizität und der US-amerikanischen Überblendung von sozialer Klasse mit der durch soziale Praxis geschaffene Realfiktion von race. Auch das gehört zum »Drama hinter der amerikanischen Geschichte«, wie es in Roths Roman heißt. Zeitgenössische Fälle erfundener ethnokultureller Biographien wie die Jessica Krugs und Rachel Dolezals (siehe Straight outta Kansas) zeugen nicht nur häufig von ­einem stereotypen Bild der jeweils adaptierten Bevölkerungsgruppe, sondern vor allem von dem Bedürfnis nach einem Primat der Identität und nach der politischen und akademischen ­Autorität, die mit der »richtigen« identitätspolitisch definierten Gruppenzugehörigkeit verbunden ist. Der Wunsch, nicht nur man selbst sein zu müssen, verdünnt sich dabei allerdings nahezu zur Unkenntlichkeit.