Emilio Silva Barrera, Vorsitzender der spanischen Vereinigung für die Wiedererlangung der historischen Erinnerung, über die Pläne der Regierung, im Bürgerkrieg ermordete Republikaner zu exhumieren

»Man hat die eigene Geschichte zerstört«

Im Jahr 2000 konnte Emilio Silva Barrera die Überreste seines 1936 von Faschisten ermordeten Großvaters aus einem Massengrab bergen. Mit der Vereinigung zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung setzt er sich für die Exhumierung der mehr als 115 000 verscharrten Republikaner ein, die im Bürgerkrieg und während des Franco-Regimes ermordet wurden.
Interview Von

Spaniens Regierung aus der sozialdemokratischen Partei PSOE und dem linken Bündnis Unidas Podemos plant, die von den Faschisten in Massengräbern verscharrten Opfer des Bürgerkriegs und der politischen Säuberungen unter der Diktatur Francisco Francos zu exhumieren. Folgen den Worten nun endlich Taten?
Die Regierung redet seit über einem Jahr um das Wesentliche herum. So hat sie vor Monaten bereits angekündigt, dass die Familien der in Massengräbern Verscharrten ein Zertifikat erhalten sollen, das ihnen das Recht einräumt, nach ihren Angehörigen zu suchen, sie zu exhumieren, zu identifizieren und dort zu begraben, wo die Familien wollen. Darauf warten sie nach wie vor. Hinzu kommt, dass die Hinterbliebenen vom Plan der Regierung, die im Valle de los Caídos (Tal der Gefallenen, eine Grabanlage der Faschisten bei El Escorial, in der bis 2019 auch Franco beerdigt war, Anm. d. Red.) Begrabenen zu exhumieren, aus den Medien erfahren haben.

Wie erklären Sie sich das?
Es war dem Staatssekretariat für die »demokratische Erinnerung«, das vom PSOE geführt wird, offenbar zu viel ­Arbeit, die über 50 Familien, die seit Jahren, ja Jahrzehnten darauf pochen, telefonisch davon in Kenntnis zu setzen. Das ist ein Mangel an Respekt, an Sen­sibilität, an Empathie und Menschlichkeit. Es zeigt, dass es dem PSOE mehr darum geht, die historische Erinnerung zu instrumentalisieren, um daraus ­politisches Kapital zu schlagen. Bisher wurde lediglich ein Gesetz beschlossen. Das heißt noch lange nicht, dass die Exhumierungen beginnen. Es gibt kein Datum für den Auftakt, nur eine Summe, die zur Verfügung gestellt werden soll, nämlich 650 000 Euro. Dem PSOE geht es nur darum, auf den Titelseiten zu stehen. Was für die Sozialdemokraten zählt, ist folgender Gedanke: Wie kann die historische Erinnerung der Partei nützlich sein?

115 000 republikanische Opfer sind namentlich bekannt. Zählen dazu auch jene geschätzt 33 000 Toten, die im Valle de los Caídos in den Krypten liegen?
Nein, diese Opfer sind nicht in dem Zensus enthalten, den der damalige Richter Baltasar Garzón erstellte, als er 2008 den Versuch unternahm, die Verbrechen des Franquismus in Spanien vor Gericht zu bringen. Die 33 000 im Valle Bestatteten sind sowohl Faschisten als auch Republikaner, von etwa 12 000 hat man keine Ahnung, wer sie sind. Oder besser gesagt, der Staat will nicht preisgeben, um wen es sich handelt. Denn in der Franco-Diktatur wurde bereits in den 1950er Jahren eine detaillierte Karte angefertigt, die die Massengräber verzeichnet, die landesweit existierten. Aus diesen hat der franquistische Staat einige Tote exhumiert, um die Überreste ins Valle de los Caídos zu überstellen. Diese Informationen gibt es, doch wir wissen nicht, wo sie archiviert sind. Wir suchen seit Jahren nach ihnen und fordern, sie offenzulegen, was uns unsere Arbeit natürlich immens erleichtern würde. Das elementare Problem ist, dass es Tausende Fami­lien gibt, die eben nicht wissen, ob ihre Angehörigen im Valle de los Caídos ­liegen oder nicht.

Im Valle liegen also Republikaner neben ihren Mördern, weil deren Überreste nachträglich dorthin gebracht wurden. Die Debatte darüber begann um 2004, wenn ich mich recht erinnere …
Exakt. Ein Mann aus Ávila, Fausto Canales Bermejo – er ist noch am Leben –, hat um die Jahrtausendwende begonnen, für die würdevolle Bestattung seines Vaters und seines Onkels zu kämpfen, die von Faschisten ermordet wurden. 2004 erreichte er die Öffnung des Massengrabs, doch man fand lediglich zwei Fingerknochen. Er recherchierte weiter und fand heraus, dass in den fünfziger Jahren ein Militärlaster die Überreste ins Valle de los Caídos gebracht hat, ohne dass das irgendjemandem mitgeteilt worden wäre. Wir fragen uns: Wie viele Familien gibt es, denen dasselbe passiert ist?

Was sagt der Umgang mit den Opfern des Faschismus über die heutige spanische Demokratie aus?
Er zeugt von einer offensichtlichen Schwäche der Demokratie. Es ist ein immenses Unrecht, das man den Opfern antut. Denn die Männer und Frauen, die in den Massengräbern liegen, sind diejenigen, die die Demokratie in Spanien errichtet haben und dafür gestorben sind. Wir müssten ihnen permanent für diese enorme Leistung dankbar sein. Doch man hat ihnen diese historische Errungenschaft geraubt, um zwei ­Mythen zu schaffen: den der Transition (den Übergang zur postfaschistischen Demokratie in den Jahren 1975 bis 1977, Anm. d. Red.) und den des Monarchen Juan Carlos I. als »Vater der Demokratie«. Als hätte er die Demokratie in Spanien erfunden! In den Schulbüchern wird der Bürgerkrieg rein militärisch dargestellt. Die Nachkriegszeit gilt als hart, aber der Diktator Francisco Franco habe postwendend für Wirtschaftswachstum gesorgt. Man hat in Spanien die eigene Geschichte zerstört. Spaniens kollektives Vergessen ist das große Erbe der faschistischen Henker und Mörder. Um deren Verbrechen zu vertuschen, hat man die Opfer in ihren Massengräbern liegenlassen.

Sie haben die Überreste Ihres Großvaters, der 1936 von Faschisten ­erschossen worden war, aufspüren und exhumieren können. Wie erging es Ihnen dabei?
Ich habe, seit ich mich erinnern kann, so oft ich konnte, mit meinem Vater über meinen Großvater gesprochen. Als ich heranwuchs, mehrten sich meine Fragen. Wenn man einen Großvater hat, der im Bürgerkrieg ­ermordet wurde und von dem keiner weiß, wo sein Leichnam verscharrt liegt, ist es, als hätte man ein großes Fragezeichen auf der Stirn. Als wir schließlich das Massengrab öffneten und ich die Gebeine und Knochen sah, dachte ich in erster Linie an meine Großmutter. Sie hatte ihr Leben lang auf diesen Moment gewartet, doch sie war zwei Jahre zuvor gestorben. Sie hatte in den 62 Jahren seit der Ermordung ihres Ehemanns kein Wort über ihn verloren. Nach dem »Verschwinden« ihres Mannes hatte sie immer wieder nächtliche Panikattacken und wollte ins Freie rennen, doch damals herrschte eine Ausgangssperre. Wer diese brach, wurde von patrouillierenden faschistischen Soldaten erschossen.

Dann dachte ich an meinen Vater. Zwei Tage vor seinem zehnten Geburtstag war er aus der Klasse gerufen worden. Er schloss die Tür und kehrte nie mehr zum Unterricht zurück. Über Nacht war er zum Familienoberhaupt geworden als ältestes von sechs Geschwistern, die jüngste Schwester war eben erst sechs Monate alt, Oberhaupt einer Familie, der die Faschisten neben dem Vater auch allen materiellen Besitz geraubt hatten.

Warum setzt sich die spanische Justiz nicht für eine Aufklärung der Verbrechen ein?
Spaniens Justiz, allen voran der Oberste Richterrat, ist erzkonservativ. Viele Richter und Richterinnen gehören denselben Familien an, denen schon Franco die Rechtsprechung überantwortete. Es ist ein elitäres System. Keine Regierung in der Demokratie wollte es reformieren. Die Justiz in Spanien lebt in ­einer eigenen Welt. Die meisten Richter haben keinerlei Ausbildung in Internationalem Recht, daher kommt es vor, dass sie bei Auslandsreisen und vor ­internationalen Organisationen wie Außerirdische wirken. Wir sind Meister der Doppelmoral: Ein Land, das an einem Tag die UN-Konvention zu »Verschwundenen« ratifiziert und tags da­rauf die in Spanien »Verschwundenen« ignoriert. Spanien hat nach internationalem Recht den Diktaturen beispielsweise in Chile und Argentinien den Prozess gemacht (dank weniger progressiver Richter wie Garzón und Santiago Pedraz, Anm. d. Red.). Aber dass Spanien sich selbst den Prozess macht, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Der Einzige, der das gewagt hat, Baltasar Garzón, ist längst nicht mehr Richter (Garzón, der auch Pinochet angeklagt hatte, wurde 2012 für die Dauer von elf Jahren als Richter suspendiert, Anm. d. Red.).

 

Emilio Silva
Emilio Silva Barrera, Jahrgang 1965, ist Soziologe, Journalist und Vorsitzender der von ihm mitgegründeten Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica (Vereinigung zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung). Diese setzt sich für die Exhumierung der über 115 000 in Massengräbern verscharrten Republi­kaner ein, die im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) und im Zuge politischer Säuberungen durch das faschis­tische Franco-Regime bis in die sechziger Jahre ermordet wurden. Silva Barrera konnte im Jahr 2000 die Über­reste seines 1936 von Faschisten ermordeten Groß­vaters aus einem Massengrab bergen; dieser war das erste Opfer der Falangisten, das mit einer DNA-Probe identifiziert wurde.