Vor 80 Jahren erschossen deutsche Soldaten über 33 000 Kiewer Juden in der Schlucht Babyn Jar

Holocaust durch Kugeln

Vor 80 Jahren ermordeten die deutschen Besatzer in der Schlucht Babyn Jar in Kiew über 30 000 Juden. Noch immer wird um ein angemessenes Gedenken gerungen.

»In Zusammenarbeit mit dem Gruppenstabe und zwei Kommandos des Polizeiregiments Süd hat das Sonderkommando 4a am 29. und 30. 9. 33 771 Juden exekutiert.« Mit diesen Worten vermeldeten im September 1941 sogenannte Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS das größte Massaker durch Erschießungen, das in der Shoah verübt wurde.

Am 19. September 1941 hatte die deutsche Wehrmacht Kiew besetzt. Neun Tage später, am 28.September, forderten etwa 2 000 Aushänge auf Ukrainisch, Russisch und Deutsch alle Juden aus Kiew und Umgebung dazu auf, sich am Folgetag um acht Uhr morgens an der Ecke Melnykow- und Dokteriwskyjstraße einzufinden, andernfalls drohe die sofortige Erschießung. Dokumente, Geld und Wertsachen sowie warme Kleidung seien mitzunehmen. Dies sollte den Anschein erwecken, es sei nur eine Umsiedlung geplant.

Die Shoah fand in der sowjetischen öffentlichen Geschichtsschreibung nie Platz.

Entlang der ersten drei Kilometer der Melnykowstraße standen nur wenige Polizisten. Einen Kilometer vor der Exekutionsstätte in der Schlucht Babyn Jar jedoch gab es eine Straßensperre, wohl hier wurde die erschreckend genaue Zahl von 33 771 Ermordeten festgehalten. Deutsche und ukrainische Polizisten sowie Soldaten der Wehrmacht säumten ab hier die Straße. Die Menschen mussten ihre Koffer und Wertsachen abgeben und wurden in Gruppen zur Erschießungsstätte getrieben. Am Rand der Schlucht mussten sie sich entkleiden und wurden von Angehörigen der Sonderkommandos erschossen.

In den Folgemonaten gingen die Erschießungen in Babyn Jar weiter. Die Deutschen ermordeten weitere Jüdinnen und Juden, Roma und Romnija, Patienten der Iwan-Pawlow-Psychiatrie, Rotarmisten, Geistliche und ukrainische Nationalisten in unbekannter Anzahl – geschätzt werden 31 000 bis 35 000 weitere Tote. Dass auch Mitglieder der faschistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) erschossen wurden, die in den Deutschen zunächst ihre Befreier gesehen hatten, hat noch immer Auswirkungen auf Geschichtspolitik und Gedenken in der Ukraine, die mit diesem Faktum geschichtliche Unterschiede verwischt: Auch Personen, die mit den Nazis kollaborierten, werden dort als Freiheitskämpfer geehrt.

Babyn Jar war zwar das größte, aber nur eines von vielen Massakern durch Erschießung in der von der Wehrmacht besetzten Sowjetunion. Im westukrainischen Kamjanez-Podilskyj waren 1941 an drei Tagen Ende August 23 600 Jüdinnen und Juden erschossen worden. Insgesamt anderthalb Millionen Juden wurden in sogenannten »Holocaust durch Kugeln«, also bei Erschießungen außerhalb der Vernichtungslager, getötet.

Wer heutzutage die Kreuzung Melnykow und Dokteriwskyj in Kiew sucht, wo sich 1941 die Juden der Stadt versammeln mussten, wird nicht fündig werden. Die von den Deutschen Dokteriwskyj genannte Straße hieß bis 1939 und heißt inzwischen wieder Degtjarivskyjstraße; den Namen, den sie seit 1939 trug – Straße der Roten Kommandanten –, wollten die Deutschen vermeiden. Die Melnykowstraße, benannt nach Juwenalij Melnykow, einem der ersten ukrainischen marxistischen Revolutionäre des späten 19. Jahrhunderts, bekam durch einen Stadtratsbeschluss vom Oktober 2018 einen neuen Namensgeber: Jurij Illjenko, ein zu Sowjetzeiten als antisowjetisch geltender ukrainischer Filmemacher. Dekommunisierung heißt das Schlagwort, unter dem die Ukraine gesetzlich seit 2015 die Verwendung kommunistischer Symbole unter Strafe stellt, Denkmäler demontiert, unzählige Straßen und Plätze umbenennt und so die Spuren der sowjetischen Geschichte des Landes tilgen will.

Auch die Suche nach der genauen Stelle des Massakers in der zweieinhalb Kilometer langen Schlucht ist schwierig. Um angesichts der vorrückenden Roten Armee die Spuren des Verbrechens zu beseitigen, wurden im August 1943 Häftlinge des nur wenige Hundert Meter von Babyn Jar entfernten Konzentrationslager Syrez gezwungen, die Leichen zu »enterden« und zu verbrennen. Als Zeugen wurden sie anschließend selbst erschossen. Erst in jüngster Zeit konnte anhand von Luftbildern der Ort des Massakers mit einiger Wahrscheinlichkeit identifiziert werden.

Das weitläufige Gelände wurde mehrfach bebaut und umgestaltet, durch das Wachstum der Stadt befindet sich die einst am Stadtrand gelegene Schlucht heutzutage mitten in der Stadt. Mitte der fünfziger Jahre wurde Babyn Jar teils zugeschüttet, um zwei Hauptstraßen zu bauen. Im nördlichen Teil wurde ein Sport- und Freizeitkomplex errichtet. Um Platz für den Kiewer Fernsehturm zu schaffen, schleifte man 1973 den ebenfalls auf dem Areal von Babyn Jar gelegenen alten jüdischen Friedhof. Im Jahr 2000 wurde die Me­trostation Dorohoschytschi eröffnet, deren Bauarbeiten das Gelände ebenfalls veränderten. Auf dem Gelände des ehemaligen Lagers Syrez wurde 1953 die Pioniereisenbahn eingeweiht, die dort heutzutage als Kindereisenbahn ihre Runden dreht.

Der Umgang mit diesen Erinnerungsorten in der unabhängigen Ukraine ist also noch immer auch von der sowjetischen Geschichtspolitik und deren Antisemitismus geprägt. Der Shoah sollte in der Sowjetunion nicht gesondert gedacht werden, die rund zwei Millionen ermordeten sowjetischen Jüdinnen und Juden wurden in das Gedenken an alle sowjetischen Kriegstoten eingeschlossen. Der Sieg im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg sollte nach der Oktoberrevolution als weiterer Beweis der Überlegenheit des Sozialismus dienen, aber ohne dass die sowjetischen Juden, die ebenfalls für den Sieg gekämpft hatten, in der historischen Wahrnehmung eine besondere Rolle spielen sollten. Bereits bei Kriegsende wurde die Zugehörigkeit zum Judentum bei Offizieren und Rotarmisten in öffentlichen Darstellungen nicht mehr erwähnt. Die Shoah hatte in der sowjetischen öffentlichen Geschichtsschreibung nie Platz.

»Über Babyn Jar, da steht keinerlei Denkmal«, so begann der russische Dichter Jewgenij Jewtuschenko sein bekanntes, zum 20. Jahrestag des Massakers verfasstes Gedicht »Babi Jar«. Zumindest das hat sich seitdem geändert. Das 1976 eingeweihte zentrale Denkmal bildet eine Figurengruppe ab, in der einzelne Gruppen repräsentiert sind: der Matrose, der Partisan, der Rotarmist, die Frau, das Kind, die sich gegenseitig beschützen und doch nicht gerettet werden können. Auf Russisch, Ukrainisch und Jiddisch ist von 100 000 hier erschossenen »Bürgern Kiews und Kriegsgefangenen« die Rede. Jüdinnen und Juden werden auch in der jiddischen Version der Inschrift nicht erwähnt.

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 wurden rund 30 Denkmäler, Gedenksteine und Erinnerungstafeln auf dem Gelände errichtet. Zum 70. Jahrestag 2011 wurde der Grundstein für ein Dokumentationszentrum gelegt, doch der Bau hat noch immer nicht begonnen. Zum 75. Jahrestag wurde das Projekt Babyn Yar Holocaust Memorial Center (BYHMC) ins Leben gerufen, um ein Gedenkmuseum und ein Studienzentrum zu schaffen (Wettbewerb des Gedenkens). Es wurde eine private Stiftung mit einem Aufsichtsrat, einem Beirat und einem akademischen Rat gegründet. Auch ein Architekturwettbewerb war bereits abgeschlossen.

Vor zwei Jahren wurde der Regisseur und Produzent Ilja Chrschanowskij zum künstlerischen Leiter des Projektes ernannt. In der Ukraine war vereinzelt bereits kritisiert worden, dass einige der Geldgeber des BYHMC – der Großteil der Finanzierung stammt von ukrainischen oder in der Ukraine geborenen jüdischen Unternehmern – geschäftliche Verbindungen nach Russland hätten oder russische Staatsbürger seien. Auch Chrschanowskij ist russischer Staatsbürger, vor allem aber aufgrund seiner Filme umstritten: Die Dreharbeiten zum experimentellen Filmzyklus »Dau«, der 2019 seine Premiere in Paris hatte, dauerten über drei Jahre mit zahlreichen Darstellern, auch Laienschauspielern wie dem im vergangenen Jahr verstorbenen russischen Neonazi Maxim Marzinkewitsch. Aufgenommen wurde in einer Anlage in der ostukrainischen Stadt Charkiw. Dem Regisseur wird vorgeworfen, echte Gewalt und sexuellen Missbrauch für die Kameras inszeniert zu haben.

Die Sorgen wegen der exzentrischen Persönlichkeit Chrschanowskijs schienen sich zu bestätigen, als dessen vorläufige Pläne bekannt wurden, von denen mittlerweile jedoch nicht mehr die Rede ist: Er wollte demnach unter anderem das Gedenkzentrum als eine Art Themenpark neu konzipieren, in dem die Besucher in die Rolle ermordeter Juden, Nazis oder ukrainische Kollaborateure schlüpfen könnten. Aus Protest gegen Chrschanowskijs Ernennung trat im März vorigen Jahres der niederländische Ukraine- und Holocaustexperte Karel Berkhoff als Vorsitzender des akademischen Rats der Stiftung zurück. Weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung kündigten oder wurden entlassen. Chrschanowskijs Ernennung gab auch jenen Auftrieb, die schon lange kritisiert hatten, es könne aufgrund seiner teilweise ausländischen Geldgeber russischen geschichtspolitischen Interessen dienen. »Wir glauben, dass es ein großer Fehler ist, ein Holocaust-Denkmal zu bauen, das Gefahr läuft, dass es von Ideen des Kremls über die Ukraine und den zweiten Weltkrieg beeinflusst sein würde«, schrieben etwa zehn Abgeordnete der nationalliberalen Partei »Golos« in einem offenen Brief im Februar. Die ukrainische Regierung sowie zahlreiche jüdische und nichtjüdische Persönlichkeiten in der Ukraine unterstützen den Denkmalbau jedoch nach wie vor.