Bijan Baharan*, iranischer Exiloppositioneller, über die anhaltenden Proteste im Iran

»Der Bewegung fehlt eine kohärente Führung«

Bijan Baharan opponierte in den 1970er Jahren gegen die Schah-Diktatur und setzte sich nach der Revolution von 1979 weiter für Demokratie und Sozialismus und gegen das islamische Regime ein. Mit der Jungle World sprach er über die Zukunft der Proteste im Iran.
Interview Von

Wir haben in den vergangenen Jahren viele Protestbewegungen in Iran gesehen. Was ist an der Bewegung neu, die nach dem Tod von Jina Mahsa Amini begonnen hat?

Die derzeitige Bewegung ist weiter gestreut als die früheren Bewegungen, viel mehr Menschen aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft nehmen daran teil. Und sie konzentriert sich auf Frauen. Frauen haben mit den Protesten angefangen, Frauen haben sie verstärkt und weiterverfolgt. Viele Forderungen betreffen spezifisch Frauen, angefangen mit dem Recht, den Hijab nicht zu ­tragen.

»Die Islamische Republik wird das Recht einer Frau, den Hijab abzulegen, noch lange nicht anerkennen.«

Kritiker sagen, die Bewegung könne auf Dauer nicht erfolgreich sein, denn es fehle ihr an Organisation. Aber man sieht eine Art koordinierter Streiks und Boykotte, niemand versucht, Kompromisse mit dem Regime auszuloten.

Es stimmt zum Teil. Wenn Erfolg nur bedeutet, dass die Regierung gestürzt und ein neues System errichtet wird, dann wird die Bewegung in ihrer gegenwärtigen Form nicht erfolgreich sein. Sie schließt nicht genügend Menschen aus allen Lebensbereichen ein, ihr fehlt eine kohärente Führung. Aber wenn wir es als Erfolg ansehen, eine Veränderung der Ansichten herbeizuführen, dann war sie in hohem Maße erfolgreich, indem sie viel mehr Menschen eingeschlossen hat als jede vergleichbare Bewegung zuvor. Sie hatte sogar Einfluss auf viele Teile des Regimes. Auch wenn sie ihre Fehler nicht eingestehen, gibt es jetzt sehr viele verschiedene Meinungen unter den höheren Entscheidungsträgern. Das ist eine Art von Erfolg.

Sie sagen, dass es ein Erfolg ist, wenn jetzt Leute im Regime zweimal nachdenken und Reformen anstreben. Aber ich kann mir keine Islamische Republik ohne den Hijab-Zwang vorstellen.

Die Islamische Republik wird das Recht einer Frau, den Hijab abzulegen, noch lange nicht anerkennen. Aber viele Frauen gehen bereits ohne Hijab auf die Straße. Ich habe gerade Videoaufnahmen von einem Einkaufszentrum in Teheran gesehen, in dem 80 Prozent der Frauen ohne Hijab waren, und niemand kümmerte sich darum, niemand sagte ihnen, dass sie sich verschleiern sollen. Auf den Straßen ist es nicht anders. Aber das Regime wird es nicht zugeben, es wäre eine große Niederlage für es und seine Ideologie. Es kann aber sein, dass es das eine Zeitlang einfach tolerieren wird.

Innenminister Ahmad Vahidi hat angekündigt, das Strafrecht zu ändern. Frauen, die mehrfach den ­Hijab nicht tragen, sollen ins Gefängnis kommen. Es soll für sie verpflichtende Religionskurse geben. Und dann gibt es da noch die Hinrichtungen.

Vahidi hat Macht. Er antwortet nicht nur auf die Frauen auf der Straße, sondern auch auf die Forderungen vieler Hardliner – wie er selbst einer ist –, die eine der Stützen der Islamischen Republik zusammenbrechen sehen, wenn sie den Hijab zur Disposition stellen. Ich möchte daran erinnern, dass Vahidi in Argentinien gesucht wird, weil er in die Sprengung des jüdischen Gemeindezentrums der Asociación Mutual Israelita Argentina in Buenos Aires 1994 verwickelt sein soll, den schwersten Bombenanschlag in der argentinischen Geschichte, bei dem 85 Menschen starben. Vahidi war Kommandeur des Quds-Korps, der Eliteeinheit der Revolutionsgarden für Einsätze im Ausland. Sein Nachfolger war General Qasem Soleimani, der als rechte Hand von Ayatollah Ali Khamenei und als zweitmächtigste Person im Iran galt und vor drei Jahren von einer US-Drohne getötet wurde. Freitagsprediger in vielen Städten wie im nordöstlichen Mashhad haben die Unterdrückung von Frauen gefordert, die nicht den Hijab tragen. Das ist zwar eine Diskussion innerhalb des Regimes, viele wollen jedoch das Thema jetzt nicht anrühren. Aber sie senden Textnachrichten an Frauen, die auf der Straße nicht den Hijab tragen, und drohen ihnen. Doch die Frauen scheinen das zu ignorieren.

Vielleicht ist da eine kritische Masse erreicht, die nicht mehr aufzuhalten ist?

Das stimmt.

Wie ist die wirtschaftliche Situation in Iran?

Die Wirtschaft steckt in einer großen Krise. Die Preise steigen stündlich, wenn nicht minütlich. In den vergangenen Monaten hat der iranische Rial ein Drittel seines Werts verloren. Viele Unternehmen stehen still. Baufirmen bekommen keine Techniker, obwohl die Arbeitslosigkeit hoch ist. Das liegt wohl daran, dass niemand die weiteren Entwicklungen abschätzen kann und die Leute bei der ungewissen Zukunft ­lieber nichts unternehmen. Der Goldpreis ist gestiegen und die Immobilienpreise sind in die Höhe geschossen. Die Regierung hat nicht viel Kapital zur Verfügung, um auf die Situation zu reagieren. Wenn sie etwas ausrichten wollte, müsste sie auch drastische Maßnahmen gegen die Korruption, gegen Geldwäsche ergreifen, aber einige im Regime sind selbst darin verwickelt. Die iranische Bevölkerung wird weiter und noch stärker unter der Situation leiden.

Einer der heikelsten Orte für das Regime war in jüngster Zeit die Provinz Belutschistan, eine traditionell eher konservative Region im Osten, nahe den Grenzen zu Afghanistan und Pakistan. Was geschieht da fern von Teheran?

In Belutschistan beteiligen sich viele an Protesten, denn sie werden seit vielen Dekaden unterdrückt, auch unter dem vorherigen Schah-Regime. Seit der Islamischen Revolution 1979 hat es keinen einzigen Belutschen als Minister gegeben. Die Proteste haben sich auch in Kurdistan im Westen des Iran weiterverbreitet. In diesen Regionen ist die Unterdrückung der ethnischen Minderheiten ein sehr großes Problem.

Wie zeigt sich die Unterdrückung der Minderheiten?

Ihre Angehörigen konnten nicht in die oberen Schichten aufsteigen, ihnen wurden Rechte verwehrt, wie der Gebrauch ihrer eigenen Sprache in der Schule. Sie sind Sunniten, ihr Glaube weicht von dem herrschenden schiitischen ab. In Kurdistan und in Belutschistan und einigen anderen Gebieten wie Turkmenistan im Norden werden ihnen Orte zur Religionsausübung verweigert, ihre religiösen Führer werden bedroht. In Belutschistan wurden vor einigen Jahren mehrere Freitagsprediger umgebracht, einige befinden sich derzeit im Gefängnis. Diese Probleme bringen auch Proteste hervor. Jeden Freitag werden im belutschischen Zahedan nach dem Freitagsgebet Parolen gegen das Regime gerufen. Zuletzt waren die Parolen, anders als sonst, sowohl gegen das vorherige als auch das derzeitige Regime gerichtet, gegen die Monarchie und die Islamische Republik. Die Monarchisten sind vor allem im Ausland aktiv, im Iran selbst weniger.

Hat die Monarchie eine Chance auf Rückkehr?

Das hängt von den zukünftigen Entwicklungen ab, aber die Chancen werden immer geringer. Einige Leute, insbesondere in der oberen Mittelklasse, haben positive Erinnerungen an die Monarchie, weil sie damals, in den siebziger Jahren, wohlhabend waren. Aber viele haben damals noch nicht gelebt und wissen nicht, was es hieß, unter dem Schah seiner Freiheit beraubt zu sein. Damals konnte man zu einer Strafe zwischen drei und zehn Jahren Haft verurteilt werden, nur weil man ein verbotenes Buch besaß, zum Beispiel die unter Linken im Iran, China und Russland beliebte Novelle »Die Stechfliege« der britischen Autorin Ethel Lilian Voynich von 1897.

Vielleicht zeigen die Parolen, dass viele Leute in Zahedan und Kurdistan eine Rückkehr der Monarchie fürchten?

Ich weiß nicht, ob es Furcht ist. Aber es könnte damit zusammenhängen, dass einige Monarchisten im Ausland aktiver geworden sind und Flagge zeigen. Vielleicht sehen die Leute im Internet, wie die Monarchisten mit der Flagge des vorigen Regimes demonstrieren, und reagieren darauf.

Wie sehen Sie die Zukunft des Re­gimes?

Es wird nicht von der gegenwärtigen Bewegung auf den Straßen gestürzt werden. Es könnte in sechs Monaten oder in einem Jahr gestürzt werden. Aber das weiß niemand.

Bijan Baharan* wurde im Iran geboren und verbrachte auch den größten Teil seines Lebens dort. Er stand in Opposi­tion zur Schah-Diktatur in den siebziger Jahren und setzte sich auch nach der Revolution von 1979 weiter für Demokratie und Sozialismus und gegen das islamische Regime ein. Deshalb war er mehrere Jahre im Gefängnis. Als Autor, Forscher und Analytiker lebt er im Ausland und arbeitet seit über 15 Jahren als Mitglied der League for the Defence of Human Rights in Iran. Seine Arbeiten wurden auch vor der Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme, einem Dachverband verschiedener Menschenrechtsorganisationen, veröffentlicht.

* Name von der Redaktion aus Sicherheitsgründen geändert.