Von Genitalverstümmelung betroffene Frauen finden nur schwer angemessene Behandlung

Die schwierige Suche nach Hilfe

Fast hätte in München eine der ganz wenigen auf weibliche Genital­ver­stümmelung spezialisierten Frauenarztpraxen in Deutschland schließen müssen. Spendenaufrufe kurz vor Weihnachten haben das verhindert. Für die Zehntausenden hierzulande betroffenen Frauen ist es weiter­hin schwierig, angemessene Behandlung zu finden.

133 000 Euro sollte die Gynäkologin Eiman Tahir an die Krankenkassen zurückzahlen, wegen Abrechnungsfehlern. Ihr Problem: Die Beratungen für Opfer der Genitalverstümmelung, die sie anbietet, sind im Abrechnungssystem der Krankenkassen nicht vorge­sehen. Tahir selbst gibt dazu keine Auskunft, denn noch ist ein Gerichtsverfahren anhängig. Ein Experte für weibliche Genitalverstümmelung, Christoph Zerm, selbst Frauenarzt, der Opfer behandelt, erläutert gegenüber der Jungle World: »Wer betroffene Frauen behandelt, arbeitet immer einen Teil seiner Zeit pro bono. Denn in der von den Kassen vorgesehenen Beratungszeit ist das nicht machbar.«

Für ein normales Beratungsgespräch veranschlagen gesetzliche Krankenkassen nur wenige Minuten. Eine Patientin, die an den Genitalien verstümmelt ist, benötigt jedoch deutlich mehr Zeit. Viele dieser Frauen kommen mit einer Vielzahl an Beschwerden in die Praxis, die gynäkologische Untersuchung ist für sie oft schmerzhaft. Oft wissen sie gar nicht, warum sie diese Beschwerden haben. »In ihren Herkunftsländern beziehungsweise den jeweiligen Regionen werden oft alle Frauen einer Genitalverstümmelung unterzogen. Dass es damit ein Problem geben könnte, erscheint den Patientinnen erst einmal abwegig«, sagt Tanja Sachs von der Münchner Fachstelle für FGM/C und Zwangsheirat, Wüstenrose, der Jungle World.

Eine Hochrechnung des Bundes­frauenministeriums schätzte 2017 die Zahl der von Genital­verstüm­me­lung betroffenen Frauen auf 50 000.

Bei der weiblichen Genitalverstümmelung – abgekürzt FGM/C für den englischen Begriff female genital mutilation or cutting – werden Mädchen im Kindes- oder Säuglingsalter die äußere Klitoris und Schamlippen teilweise oder komplett entfernt oder eingeritzt – je nach lokaler Praxis. Die Prozedur ist in Afrika und Asien weit verbreitet und kommt auch in Lateinamerika vor. Die Opfer haben fast immer ein eingeschränktes sexuelles Empfinden, Traumata und damit verbundene Folgekrankheiten. Die schwerste Form, die Infibulation, bei der die äußeren Genitalien vollständig entfernt werden und Wunde und Vagina danach so zusammengenäht werden, dass nur ein kleiner Ausgang für Urin und Menstruationsblut bleibt, führt nicht selten zu Tod oder Unfruchtbarkeit. Sexualität ist für die Betroffenen nur unter Schmerzen möglich, Schwangerschaften bringen schwerste Komplikationen. Hinzu kommen Beschwerden wie Inkontinenz, häufige Infektionen, Zysten, schwere Menstruationsschmerzen. Die Infibulation wird im Sudan, in Somalia, Eritrea, Äthiopien und Djibouti praktiziert.

Die Gynäkologin Eiman Tahir stammt aus dem Sudan. Sie hat nach einem Medizinstudium in Deutschland und einer Doktorarbeit über weibliche Genitalverstümmelung ihre Praxis 2011 am Stachus in München eröffnet. Schnell sprach sich herum, dass sie eine sensible Ansprechpartnerin für Frauen aus Afrika ist. Durch ihren Einsatz für FGM-Opfer erlangte sie bald große Bekanntheit. Ein Fernsehbericht des Bayerischen Rundfunks zeigt, wie viel Zeit sie für psychologische Beratung aufwendet. Oft ist sie die Erste, der die Frauen von ihren traumatischen Erlebnissen bei der Verstümmelung erzählen. Sie fragt vorsichtig nach, tröstet, erklärt.

Bis zu 40 Prozent ihrer Patientinnen seien betroffen, gab sie in mehreren Medienberichten an. Nach Ansicht von Christoph Zerm ist es bei einem so hohen Anteil schwer möglich, eine Praxis zu finanzieren. Müsste sie ihre Praxis schließen, blieben die Betroffenen wenig andere Optionen. Seit 2015 ist die Zuwanderung nach Deutschland aus Ländern, in denen FGM praktiziert wird, stark gestiegen. Eine Hochrechnung des Bundesfrauenministeriums schätzte 2017 die Zahl der Betroffenen auf 50 000, die Frauenrechtsorganisation Terre de Femmes ging 2020 von 74 899 betroffenen Frauen aus. Angesichts dessen ist die Zahl gynäkologischer Praxen, die auf Genitalverstümmelung spezialisiert sind, äußerst klein. In München gibt es neben Tahirs Praxis noch das »Klinikum rechts der Isar« sowie das Beckenbodenzentrum des Isarklinikums; im restlichen Bayern gibt es sonst nur noch eine Praxis in Würzburg. Die Organisationen Terre des Femmes und Kutairi veröffentlichen regelmäßig Listen von Ärzten. Die zeigen, dass es in anderen Bundesländern nicht besser aussieht.

Das liegt auch daran, dass Genitalverstümmelung im Medizinstudium oft nicht vorkommt. Erst seit 2020 wird sie in der Hebammenausbildung behandelt. Inzwischen enthält auch die Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer das Thema. Vorher mussten die wenigen Ärztinnen, die sich darauf spezialisierten, Fortbildungen außerhalb Deutschlands besuchen.

Die Fachstelle Wüstenrose bietet solche Fortbildungen an. Aber die Nachfrage sei gering, sagt Tanja Sachs. »Die Ärztinnen machen das in ihrer Freizeit. Sie sagen, vielleicht habe ich in meiner ganzen Berufszeit nur eine Patientin mit FGM.« Ihrer Meinung nach müssten zudem die Kinderärzte darin geschult werden, FGM zu erkennen. Kinder der Prozedur zu unterziehen, ist strafbar – egal ob es in Deutschland oder bei einem Urlaub im Herkunftsland geschieht. Nicht strafbar ist es, wenn ein Mädchen im Heimatland verstümmelt wurde, bevor es nach Deutschland migriert ist. Darum sollten Kinderärzte darauf achten, auch um die Möglichkeit einer ­falschen Anschuldigung der Eltern zu vermeiden.

Weil das Medizinstudium das Thema ausspart, erleben betroffene Frauen oft erniedrigende Situation. »Viele Gynäkologinnen haben keine Ahnung, was das ist, und zeigen ihr Entsetzen. Das ist nachvollziehbar, führt aber zu Retraumatisierungen. Das spricht sich herum und die Betroffenen scheuen sich dann, überhaupt zum Frauenarzt zu gehen,« erzählt Tanja Sachs.

Das ist auch die Erfahrung des Frauenarztes Christoph Zerm. »Häufig ­gehen die Frauen nicht zur Geburtsvorsorge und kommen dann als Notfall in die Geburtsklinik, wo man meist gar nicht weiß, wie man damit umgehen soll. Dann können die Ärztinnen dort nur noch einen Kaiserschnitt vornehmen.«

Dabei hat sich in den vergangenen Jahren schon einiges getan. Die Krankenkassen zahlen inzwischen die Defibulation, die Öffnung der zugewach­senen Vaginalöffnung, und die Rekon­struktion der Klitoris. Auch Psycho­therapie ist vorgesehen.

Welche Leistungen die Kassen übernehmen, ist Bundessache, festgelegt vom sogenannten Gemeinsamen Bundesausschuss. Nach Angaben der ­bayerischen Landtagsabgeordneten der Grünen, Gülseren Demirel, arbeiten die Grünen im Bundestag an einem Vorschlag für die Abrechnung der Beratung. »Aber in puncto medizinischer Versorgung können die Bundesländer mehr tun«, betont Demirel gegenüber der Jungle World. Nach Bekanntwerden der Probleme Eiman Tahirs hat die grüne Fraktion einen Antragsentwurf an andere Fraktionen verschickt und hofft auf Unterstützung. Darin fordert sie die Aufnahme von FGM/C in das Curriculum des Medizinstudiums und medizinische Beratungsstellen in ­allen sieben bayerischen Regierungsbezirken. »Es ist unzumutbar, wie weit die betroffenen Frauen in Bayern fahren müssen, plus, dass Fahrten nicht bei den Kassen abgerechnet werden können – was Teil des Teufelskreises ist«, erläutert Demirel.

Medizinische Beratungsstellen sind auch für die Prävention von Verstümmelungen der Töchter wichtig. Ärztinnen wie Eiman Tahir sprechen mit werdenden Müttern während der Geburtsvorsorge darüber und warnen sie vor den Konsequenzen. Das ist eine der effektivsten Aufklärungsmöglichkeiten. Die Fachstelle Wüstenrose lädt zu Frauencafés und Fortbildungen zu anderen gesundheitlichen Themen, wo sie FGM ansprechen. »Aber es ist schwer, ­Betroffene zu erreichen. In jedem Fall braucht es Kulturmittlerinnen. Viele sprechen auch kein Deutsch.«

Immerhin scheint Eiman Tahirs Praxis erst einmal gerettet. Eine in München lebende Kämpferin gegen weibliche Genitalverstümmelung und Buchautorin, Fadumo Korn, konnte mit einem Spendenaufruf 154 000 Euro sammeln – voraussichtlich genug für Rückzahlungen, Anwalts- und Gerichtskosten.