Der »Maßregelvollzug« ist überfüllt

Strafen und Therapieren

Immer mehr sucht- und psychisch kranke Straftäter sind in Einrichtungen der »freiheitsentziehenden Unterbringung« eingesperrt. Diese sind fast flächendeckend überbelegt. Die Bundesregierung will deshalb für Straftäter, die Drogen nehmen, den Zugang erschweren.

In fast ganz Deutschland ist der sogenannte Maßregelvollzug überfüllt. Dort sind Menschen eingesperrt, die aufgrund von Sucht- oder psychischen Problemen als schuldunfähig gelten. In elf von 16 Bundesländern sei der Maßregelvollzug nach Angaben der zuständigen Landesministerien an der Belastungsgrenze oder überlastet. In Berlin sind im Februar zwei Straftäter deshalb vorzeitig entlassen worden, in anderen Bundesländern gibt es lange Wartelisten für den Maßregelvollzug.

In manchen Kreisen führt dies zu Aufregefgung. Stefan Schifferdecker, der Berliner Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, sagte dem Tagesspiegel, er sehe »ein hohes Risiko, dass einzelne Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren«. Manfred Lucha, Sozialminister in Baden-Württemberg (Grüne), mahnte im Deutschlandfunk, »im schlimmsten Falle werden Verurteilte auf freien Fuß entlassen«. Das gelte es, »auf alle Fälle zu verhindern«.

Andere Form des Wegsperrens
Beim Maßregelvollzug handelt es sich um eine andere Form des Wegsperrens als bei der herkömmlichen Freiheitsstrafe. Die Insassen werden dabei durch Ärzte und Psychologen betreut. Eine Verurteilung nach Paragraph 63 des Strafgesetzbuchs (StGB) führt in ein psychiatrisches Krankenhaus, Paragraph 64 führt in eine Entziehungsanstalt.

Die Unterbringung im Entzug ist durch das Gesetz auf zwei Jahre begrenzt, die Unterbringung in der forensischen Psychiatrie ist hingegen im Prinzip unbegrenzt. Ein Täter kann dort eingesperrt werden, solange »infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind« und er deshalb »für die Allgemeinheit gefährlich ist«, heißt es im Gesetz.

»In der Maßregel entscheiden Psychiater und Psychologen, wann du rauskommst.« Manuel Matzke, Sprecher der Gefangenengewerkschaft GG/BO

Die Überlastung des Maßregelvollzugs ist seit langem bekannt. Die Zahl der dort eingesperrten Menschen hat stetig zugenommen. Laut Statistischem Bundesamt befanden sich 1995 bundesweit 4 789 Menschen im Maßregelvollzug, 2013 waren es schon 10 875 Menschen. Für 2019 schätzte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN), dass bundesweit etwa 12 000 Menschen nach den Paragraphen 63 oder 64 StGB eingesperrt waren.

Da es öffentlich zugängliche Daten über den Maßregelvollzug seit mehreren Jahren kaum mehr gibt, musste die DGPPN für ihre Schätzung eine Umfrage bei den 78 Maßregelanstalten in Deutschland vornehmen. Besonders stark ist der Anstieg bei Verurteilten nach Paragraph 64, also bei suchtkranken Straftätern. Laut DGPPN hätten sich die Zahlen hier zwischen 2007 und 2019 fast verdoppelt.

Für den Anstieg der Zahl an Insassen gibt es offenbar zwei Gründe; Es werden immer mehr Menschen verurteilt, die wegen Suchtproblemen als schuldunfähig gelten; und wer wegen psychischer Erkrankung als schuldunfähig gilt und in den Maßregelvollzug kommt, bleibt statistisch gesehen immer länger dort. »Mehr als jeder vierte (28 Prozent) nach Paragraph 63 untergebrachte Patient ist länger als zehn Jahre im Maßregelvollzug«, so Jürgen L. Müller, Vorstandsmitglied der DGPPN.

Bundesregierung plant Reform
Die Bundesregierung plant nun eine Reform, damit in Zukunft weniger Straftäter wegen Drogenproblemen im Maßregelvollzug landen. »Die Anforderungen an den erfor­derlichen, ›Hang‹ zum übermäßigen Rauschmittelkonsum, an den Zusammenhang zwischen Hang und Straffälligkeit und an die Erfolgsaussicht einer Behandlung werden zu diesem Zweck erhöht«, beschreibt das Bundesjustizministerium (BMJ) das Gesetzesvorhaben. Es soll in den nächsten Monaten im Bundestag zur Abstimmung kommen.

Die CDU mahnt, der Maßregelvollzug dürfe nicht zum Regelvollzug werden, und mutmaßt, die Vermehrung der Insassen liege daran, dass manche Straffällige die psychiatrische Behandlung oder den Entzug dem regulären Knast vorzögen.

Manuel Matzke, der Sprecher der Gefangenengewerkschaft GG/BO, vertritt seit vielen Jahren die Interessen von Inhaftierten und kann bei solchen Aussagen nur mit dem Kopf schütteln. »Niemand geht gerne und freiwillig in die Maßregel«, sagt er der Jungle World. Eine Haftstrafe habe in der Regel immerhin ein absehbares Ende. »In der Maßregel nach Paragraph 63 entscheiden Psychiater und Psychologen, wann du rauskommst.«

Geschlossene Welt
»Der Knast ist ja schon eine ganz eigene Welt. Und der Maßregelvollzug ist nochmal anders«, sagt Matzke. Der Maßregelvollzug sei noch mehr als das Gefängnis eine geschlossene Welt, aus der wenig bis nichts nach außen dringe – zum Nachteil der dort Untergebrachten. Gefangene im Maßregelvollzug hätten Matzke von Fällen berichtet, in denen sie in einem Zimmer untergebracht waren, in dem 24 Stunden am Tag das Licht brannte.

2020 hat die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) ein Positionspapier in Auftrag gegeben, das ein »Plädoyer für eine Transformation der Maßregeln der Paragraphen 63 und 64 StGB« darstellt. Der Maßregelvollzug sei gleichermaßen Gefängnis wie Krankenhaus. Weil aber das leitende Personal aus Psychiatern bestehe, werde die Behandlung der Gefangenen auf medizinische Aspekte verengt, weitergehende Maßnahmen der sozialen Integration kämen zu kurz.

Es werden immer mehr Menschen verurteilt, die wegen Suchtproblemen als schuldunfähig gelten; und wer wegen psychischer Erkrankung als schuldunfähig gilt und in den Maßregelvollzug kommt, bleibt statistisch gesehen immer länger dort.

Eine anderes schwerwiegendes Problem sei, dass das medizinische Personal die Entscheidung treffen müsse, wann ein Insasse entlassen wird. Wenn ein ehemaliger Insasse nach seiner Entlassung straffällig wird, werde das von Medien und Politikern häufig zum Skandal gemacht.

Deshalb werde ein solches Risiko selten eingegangen, wie »ein Blick auf die Unterbringungszahlen verrät«. Dadurch liefen die Kliniken Gefahr, »einen enormen Anteil an ›falschen Positiven‹ zu erzeugen«, also Insassen in der Klinik festzuhalten, die »schon lange nicht mehr dort sein müssten und gerade deshalb eher kränker als gesünder werden«. Damit sei die »Unterbringungsdauer und damit der Freiheitsentzug einer Person eine Frage der Willkür und Kontingenz«. Weil die Insassen länger im Maßregelvollzug blieben, nehme ihre Zahl stetig zu.

Voraufenthalt in der Psychiatrie
Die DGSP-Autoren merken zudem an, dass der Anteil der nach Paragraph 63 Inhaftierten mit diagnostizierter Schizophrenie ansteige. 2018 sei es die Hälfte der Insassen gewesen. Die Kriminologen Thomas Feltes und Michael Alex haben bereits 2016 darauf hingewiesen, dass 75 Prozent der Patienten im Maßregelvollzug einen Voraufenthalt in der Psychiatrie hatten, etwa die Hälfte davon aufgrund einer Zwangseinweisung. »Dem Ausbau des Maßregelvollzuges auf der einen Seite« stehe gleichzeitig »ein drastischer Abbau der Bettenzahl in der allgemeinen Psychiatrie auf der anderen Seite« gegenüber.

Profiteure seien »die Krankenkassen, die in der allgemeinen Psychiatrie viel Geld für die notwendige Behandlung von Kranken sparen«, so die Kritik der Forscher. Der Psychiater Norbert Leygraf schrieb 2018 in der Fachzeitschrift Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, dass sich 2015 jeder fünfte stationäre psychiatrische Behandlungsplatz in einer Einrichtung des Maßregelvollzugs befunden habe.