Die erste Anwältin ihres Landes
Wo fängt man bei der Geschichte von Lidia Poët und ihrer Verfilmung an? Vielleicht bei der Tatsache, dass die historische Lidia in einen goldenen Käfig geboren wurde. Als Tochter einer wohlhabenden Familie mit waldensischen Wurzeln war ihr Weg im Turin der Belle Époque vorgezeichnet. Eine gewisse Bildung erwerben, um in der besseren Gesellschaft bestehen zu können, gut heiraten, repräsentative Pflichten bei gesellschaftlichen Ereignissen erfüllen und Kinder nach althergebrachten Werten aufziehen (lassen), damit das Spiel in der nächsten Generation genau so weitergehen konnte – das waren die Standards, auf die sich eine junge Frau ihres Hintergrunds einzustellen hatte.
Poët interessierte sich für all das wenig. Sie wollte Rechtsanwältin werden. Also studierte sie Jura an der Universität von Turin, promovierte 1881 und legte 1883 erfolgreich ihre Prüfung vor der Turiner Staats- und Rechtsanwaltskammer ab – als erste Frau in Italien. Danach beantragte sie ihre Aufnahme in eben diese Rechtsanwaltskammer, zunächst ebenfalls mit Erfolg. Aber das war dann doch zu viel für ihre männlichen Kollegen, die darüber bestimmten, wer in Italien Rechtsanwalt sein konnte und wer nicht. Nach unwürdigem Hin und Her wurde ihr die Mitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer mit einem Beschluss vom April 1884 wieder entzogen.
Dies ist der Teil jener wahren Geschichte, auf dem die italienische Netflix-Serie »Das Gesetz nach Lidia Poët« beruht. Aber selbstverständlich kommt eine Serie nicht ohne mythologische Elemente und dramatische Überspitzungen aus. Das fängt schon bei der Hauptfigur an. Sie wird dargestellt von der sehr engagiert spielenden Matilda De Angelis, wird aber so inszeniert, dass sie ein Paradiesvogel bleibt. Es ist zu vermuten, dass das Regie-Team aus Letizia Lamartire und Matteo Rovere genau diesen Effekt erzielen wollte. Allein schon die Kleider, in die man De Angelis gesteckt hat, sind nicht nur für explizite Freunde von Ausstattungsdramen ein Fest. Das gilt übrigens auch für die Kleidung der anderen Hauptfiguren. Überhaupt die Ausstattung: An harte Zahlen kommt man schwer, aber die Serie wirkt richtig teuer.
Das Turin um 1880 war eine Art Mischung aus Paris, Prag und ein bisschen auch London, bevölkert von Anarchisten, Spiritisten, Frauenrechtlerinnen, mörderischen Fabrikprokuristen, ignoranten männlichen Juristen und stolzen Adligen.
Das Turin um 1880 war eine Art Mischung aus Paris, Prag und ein bisschen auch London – zumindest, wenn man Netflix glaubt. Bevölkert von Anarchisten, Spiritisten, Frauenrechtlerinnen, mörderischen Fabrikprokuristen, ignoranten männlichen Juristen und stolzen Adligen, die für den Erhalt ihrer Privilegien über Leichen gehen – was Intrigen und Konflikte angeht, hat »Das Gesetz nach Lidia Poët« einiges zu bieten. Turin hatte allerdings vor der Industrialisierung der Jahrhundertwende (Gründung von Fiat 1899) etwa 250 000 Einwohner; die Modernität und Urbanität der Stadt in der Serie wirkt frisiert, auch wenn Turin von 1861 bis 1865 die erste Hauptstadt des frisch vereinten Italiens gewesen war.
Hier also versucht Lidia Poët, die erste Rechtsanwältin ihres Landes zu werden. In den Opiumhöhlen, Gefängnissen und Psychiatrien brauchen Menschen ihre Hilfe. Der zu Unrecht verfolgte Liebhaber einer ermordeten Balletteuse, die anarchistische Arbeiterin, die angeblich eine Fabrikdirektorin getötet hat, einer ihrer beiden Liebhaber, der eine Prostituierte erwürgt haben soll: Lidia nimmt sich der hoffnungslosen Fälle an. Dass sie selbst ein hoffnungsloser Fall ist, weiß die Serienfigur noch nicht; sie weiß nur, dass sie sich in einer feindlichen Umwelt, die ihr Geschlecht verachtet, etablieren und durchsetzen will.
Die Serienmacher haben sich nicht gescheut, Lidia Poët einen Zweitberuf als Privatdetektivin zuzuschustern; so brilliert sie nicht nur als »Assistentin« ihres Rechtsanwaltsbruders, sondern auch als Ermittlerin. Die Generalstrategie der Serie, historische Tatsachen geschickt auszuschmücken, geht weit genug, um auch echte Anachronismen zuzulassen. So benutzt Poët einen einfachen Lügendetektor, wie er 1883 noch nicht zur Verfügung stand – zwar waren allererste Schritte auf dem Weg zum Polygraphen gemacht worden (Angelo Mosso, 1878), aber nicht in kriminologischem Zusammenhang. Überhaupt setzt die Serie Anachronismen auf wirkungsvolle Weise ein, etwa bei der Musik, die fast ausschließlich nicht historisch ist, aber paradoxerweise sehr gut funktioniert. Zum Beispiel ist die Szene, in der sich Poët (deutlich zu schnell) selbst das Fahrradfahren beibringt, und die mit dem Rocksong »Ça me vexe« der französischen Band Mademoiselle K aus dem Jahr 2006 unterlegt ist.
Die bösartige Misogynie, der sich die wirkliche Lidia Poët ausgesetzt sah, wird in der Serie eher verniedlicht.
Das ist alles nett anzuschauen und sehr unterhaltsam, aber ist es auch mehr als das? Durchaus. Der feministische Impetus durchzieht die ganze Serie; ohne ihn hätte das ganze Unternehmen wenig Sinn. Allerdings muss man zugeben, dass die bösartige Misogynie, der sich die wirkliche Lidia Poët ausgesetzt sah, in der Serie eher verniedlicht wird. Poëts Gegner führten allen Ernstes aus, dass Frauen keine Rechtsanwältinnen sein könnten »wegen ihrer Natur, physischen Beschaffenheit, der täglichen Unteilbarkeit ihrer Person von den möglichen Konsequenzen ihrer Eingeweide und im Allgemeinen wegen des Mangels an angemessenen intellektuellen und moralischen Stärken, Festigkeit, Beständigkeit, Ernsthaftigkeit«. In letzter Konsequenz leugnet eine solche »Argumentation« nicht nur die Vernunftfähigkeit von Frauen, sondern sogar, dass sie im vollen Sinne Menschen sind. Ein Turin des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu zeigen, in dem solche Reden ernst genommen wurden, wäre für ein Massenpublikum vielleicht doch zu starker Tobak.
Neben dem Feminismus werden auch Klassenfragen verhandelt. Lidia Poët wohnt bei ihrem Bruder und seiner Familie, während sie ihre Fälle als seine Assistentin löst und auf ihr Berufungsverfahren wartet. Marianna, die Tochter des Hauses, bewundert ihre mutige Tante über alle Maßen und möchte so frei und unabhängig sein wie sie. Dazu gehört auch, dass sie sich in den Gärtnergehilfen verguckt und mit ihm erste Liebeserfahrungen sammelt – zum absoluten Entsetzen ihrer Mutter Teresa. Hinter Mariannas Rücken fasst Teresa einen Plan: Sie will den Gärtnergehilfen bestechen, damit der Marianna verlässt. Die Szene, in der Teresa den Umschlag mit dem Geld überreicht und der Gehilfe ihn annimmt, ist die zureffendste der ganzen Serie. Später kann dann Teresa die untröstliche Marianna in ihre mütterlichen Arme nehmen, im Bewusstsein, ihre Tochter durch eine niederträchtige Intrige vor der Verbindung mit einem Hilfsarbeiter bewahrt zu haben.
Dass der Anarchismus als eine starke politische Strömung im Italien des ausgehenden 19. Jahrhunderts überhaupt vorkommt, ist an sich schon erstaunlich – aber leider hat man hier eine Chance vertan. Verschiedene Figuren in der Serie liebäugeln mit anarchistischen Positionen, aber als tatsächlich ein aktiver, revolutionärer Anarchist auftritt, ist er natürlich ein messerschwingender Killer, der an einer Verräterin blutige Rache genommen hat. Wie leicht wäre es gewesen, zum Beispiel Errico Malatesta als Figur einzuführen, der nachweislich 1883 in Florenz aktiv war – eine Tagesreise mit der Bahn von Turin entfernt. Es ist offensichtlich, dass die Filmfigur Lidia Poët als die bessere, akzeptablere Kämpferin gegen Ungerechtigkeit, Herrschaft und Unterdrückung präsentiert werden soll.
Aber vielleicht muss man sich vor Augen halten, dass man es hier mit einer Unterhaltungsserie von Netflix zu tun hat, die an den Lebenslauf einer emanzipatorischen Vorkämpferin des 19. Jahrhunderts angelehnt ist, und nicht mit einem Dokudrama, das diesen Lebenslauf realistisch Stück für Stück abschreitet. Sofern es darum geht, der historischen Lidia Poët trotz Fiktionalisierung ein wenig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, macht die Serie ihre Sache ziemlich gut. Ohnehin ist es wichtig, dass man mehr von den vergessenen Frauen hört, ob sie nun Fanny Hensel, Rosalind Franklin oder Lidia Poët hießen.
»Das Gesetz nach Lidia Poët« kann bei Netflix gestreamt werden.