Die Bundesregierung will das Budget für die psychosoziale Betreuung Geflüchteter kürzen

Bloß nicht durchdrehen

Die psychosoziale Betreuung von Flüchtlingen ist schon unterfinanziert, nun will die Bundesregierung zehn Millionen Euro kürzen.

Lamin kann sich noch genau daran erinnern, wie ihm in Libyen eine Pistole an den Kopf gehalten wurde. Sie war nicht geladen, die Scheinhinrichtung diente nur der Belustigung seiner Peiniger. Der heute 20jährige flüchtete vor sechs Jahren aus Eritrea über die Mittelmeer-Route und landete schließlich in Deutschland. Nach einer kurzen Eingewöhnung kam er auf eine Förderschule in Hamburg – ohne therapeutische Begleitung. Die Schulzeit gestaltete sich schwierig, da er in Stresssituationen schnell ausrastete und sich bedroht fühlte. Bis heute hat er keine Therapie in Anspruch genommen. Menschen, die sich von hinten nähern, versetzen ihn immer noch in Panik.

Schätzungsweise 580.000 geflüchtete Menschen leiden in Deutschland unter Traumafolgestörungen. Für eine Studie der AOK wurden 2018 Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan befragt. Etwa drei Viertel (74,7 Prozent) hatten demnach unterschiedliche Formen der Gewalt erfahren und waren oft mehrfach traumatisiert. Mehr als 40 Prozent der Befragten zeigten Anzeichen einer Depression.

Angesichts solcher Zahlen reicht das Therapieangebot bei weitem nicht aus. Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e. V. (BAfF) betreut in ihren Zentren in Deutschland gerade einmal knapp 21.000 Menschen. »Wir können zusammen mit unseren Kooperationspartnern nur 4,1 Prozent des potentiellen Versorgungsbedarfs abdecken«, sagte Jenny Baron, Referentin für Grundsatzfragen bei der BAfF, der Jungle World.

Die Zentren haben strenge Aufnahmekriterien, da die Plätze sehr knapp sind. Außerdem landen in der Regel nur Menschen mit ungesichertem Status und ohne Krankenversicherung in den Psychosozialen Zentren (PSZ) – oder vielmehr zunächst auf einer Warteliste. »Alle anderen müssen sich in der Regelversorgung zurechtfinden«, sagt Baron.

Die PSZ werden vor allem über zeitlich begrenzte öffentliche Fördermittel finanziert. Dabei sind sie auf verschiedene Finanzierungsquellen angewiesen, der bürokratische Aufwand ist groß. 14 verschiedene Förderquellen listet die BAfF in ihrem Jahresbericht für 2022 auf. »Die Zentren müssen jedes Jahr wieder aufwendig um ihre Finanzierung kämpfen. Eine langfristige Planung ist so überhaupt nicht möglich«, kritisiert Baron.

Für eine Studie der AOK wurden 2018 Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan befragt. Mehr als 40 Prozent von ihnen zeigten Anzeichen einer Depression.

Mitten in diese ohnehin angespannte Situation platzte nun die Nachricht, dass die Bundesregierung plant, im Haushalt 2024 die Mittel für die psychosoziale Betreuung geflüchteter Menschen um knapp 60 Prozent zu kürzen. Der Etat für die Psychosozialen Zen­tren soll von 17 Millionen auf sieben Millionen Euro gekürzt werden. Auch die Mittel für unabhängige Beratungsstellen für Migranten und Geflüchtete sollen gekürzt werden. Der Haushaltsentwurf wurde vergangene Woche dem Bundestag übergeben, bis Ende des Jahres soll er verabschiedet werden.

Bundesmittel machten vergangenes Jahr nur 8,9 Prozent der Fördermittel der PSZ aus. Dennoch reagierte die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege alarmiert. Sie sehe »die Versorgung und Teilhabe von ­geflüchteten sowie anderen zugewanderten Menschen massiv gestört und damit auch den gesellschaftlichen ­Zusammenhalt in Gefahr«.

Dennoch verspricht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Verbesserung der psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen. Es gebe die »erhebliche Summe« von 1,5 Milliarden Euro an zusätzlichen EU-Mitteln unter anderem für diesen Zweck, sagte der BAMF-Präsident Hans-Eckhard Sommer (CSU) Anfang des Monats laut Tagesspiegel. Doch nur ein kleiner Teil dieser Fördermittel aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der EU ist für die psychosoziale Betreuung geflüchteter Menschen vorgesehen. 25 Prozent der Mittel sind zum Beispiel für die »Bekämpfung irreguläre Migration/Rückkehr/Reintegration« vorgesehen.

Auf seiner Homepage listet das BAMF bisher nur 14 Projekte auf, die Fördergelder aus dem Topf beziehen, darunter nur ein einziges Psychosoziales Zen­trum – die anderen Projekte betreiben Rückkehrberatung oder universitäre Forschung oder widmen sich der Stärkung von Integration und Ehrenamt, wie die BAfF betont.

Ein weiteres Problem ist die Laufzeit der Finanzierung. Die Förderperiode begann offiziell schon im Jahr 2021. »Die Behörde hat die Ausschreibung allerdings erst ein Jahr später – im August 2022 – veröffentlicht«, so Baron. Die Bewilligung dauerte dann noch einmal bis zu neun Monaten. In diesen zwei Jahren konnten die PSZ laut Baron mit den EU-Mitteln keine einzige Therapiestunde anbieten, es sei denn, sie wären das Kreditrisiko eines »vorzeitigen Maßnahmenbeginns« eingegangen. Bei Ablehnung des Antrags würden sie auf den Kosten sitzenbleiben. Die Rechnung – EU-Gelder er­setzen Bundesmittel – gehe unterm Strich nicht auf.

Die BAfF betont, dass die »tägliche Praxis der Gesundheits- und psychosozialen Versorgung eine staatliche Aufgabe« ist, die entsprechend finanziell abgesichert sein sollte. Traumatisierte Geflüchtete wie Lamin ohne Therapieangebot einfach in eine Schule zu schicken, ist ein Wagnis. Nach zwei Not­einweisungen in die stationäre Psychiatrie wartet Lamin nun auf einen Therapieplatz – und auf eine Arbeitserlaubnis.