Der Terror trägt Lederhosen
Es klingt wie politische Fantasy und ist doch unbestreitbare Tatsache: Der Stimmenanteil der SPD lag einstmals in Bayern in etwa auf demselben – aus heutiger Sicht muss man sagen: hohen – Niveau wie im gesamten übrigen Bundesgebiet. Die Landtagswahl 1962 bescherte der Partei 35,3 Prozent der Stimmen (Bundestagswahl 1961: 36,2 Prozent), während die CSU mit 47,5 Prozent – zum ersten Mal in ihrer Geschichte – eine dünne absolute Mehrheit der Mandate erreichte. Noch bis in die achtziger Jahre bekam die SPD in Bayern stets etwa ein Drittel der Stimmen – dann begann die rasende Talfahrt, die die Partei heute an den Rand dessen gebracht hat, bei Wahlsendungen unter der Rubrik »Sonstige« geführt zu werden.
Dass der Niedergang der Sozialdemokratie in Bayern noch viel dramatischer ausfällt als im Rest der alten Bundesrepublik, hat spezifische Gründe: Mehr noch als anderswo war die SPD in Bayern Klassenpartei, die damit auch in klarem Gegensatz zur christlich-agrarischen »Volkspartei« stand, in der Weimarer Zeit zur Bayerischen Volkspartei (BVP), in der Bonner Zeit dann zur CSU, die noch erfolgreicher als die BVP wurde, weil sie sich zum einen stärker an der katholischen Soziallehre orientierte, zum anderen sich für protestantische Christen öffnete.
Klassenpartei war die SPD schon allein deshalb, weil sie in Bayern in agrarischen Gebieten quasi inexistent war, dafür aber industriegeprägte Hochburgen besaß: die Städte Nürnberg beziehungsweise Fürth, München, Augsburg und Regensburg sowie die ostbayerischen Industrieregionen, namentlich in der Oberpfalz und Oberfranken mit ihren Minen, Tagebauen, Stahlwerken, Glas- und Porzellanfabriken.
Genau diese territoriale Beschränktheit aber drohte schon von jeher, die Partei (und ihre früheren linken Abspaltungen) als »unbayerisch« erscheinen zu lassen, obwohl das lange Zeit keineswegs den Tatsachen entsprach, außer man sieht Oskar Maria Graf, Karl Valentin und sogar Gustl Bayrhammer, die allesamt mit der Arbeiterbewegung sympathisierten, auch als »unbayerisch« an.
Auf gemütlich-aggressive Weise erklärt der Bauernhof der Fabrik, das Land der Stadt einen symbolischen Krieg der Verdrängung aus der öffentlichen Wahrnehmung.
Doch das, was man mit Bayern für gewöhnlich assoziiert, erweist sich als letztlich erfolgreiche Erfindung von Kabinetten und Kirche. Von Anfang an war das in Bayern geförderte »Volkstümliche« auf Verdrängung des Proletarischen ausgerichtet. »Volkstümliches« spielt ausschließlich in den Kulissen des agrarischen Voralpenlands, seine Sitten, Trachten und Sozialcharaktere (Großbauern und Knechte beiderlei Geschlechts) sind ausschließlich diesem südlichsten Streifen des Staatsgebiets entlehnt; Großstädte – und damit Arbeiter – sind unbekannt, sie scheinen nur in der Figur preußischer, stets dummdreister Zugereister auf.
Auf gemütlich-aggressive Weise erklärt so der Bauernhof der Fabrik, das Land der Stadt einen symbolischen Krieg der Verdrängung aus der öffentlichen Wahrnehmung. Ein Krieg, der 1919 auch blutig wurde: Die Freischärler, die nach der Niederschlagung der Räterepublik vor der Feldherrnhalle paradierten und in den Münchner Arbeitervierteln übelst marodierten, trugen Tracht – der weiße Terror in Lederhosen, eine Invasion, die sich mittlerweile alljährlich zum Oktoberfest in subtilerer Weise wiederholt.
Dieses monopolisierte »Volkstümliche« als Staatsideologie hilft kräftig dabei mit, dass die allgemeine Krise der Sozialdemokratie in Bayern besonders suizidal wirkende Züge annimmt. Die Hinwendung der Partei zu den sogenannten neuen Mittelschichten hinterließ insbesondere in ihren von Deindustrialisierung und Niedergang gezeichneten einstigen Hochburgen ein wasteland der Desorientierung: Die Krisenregionen betreiben eifrige Mimikry an den Oberbayern-Kultus, der aber den örtlichen ökonomischen Umständen krass Hohn spricht; ein Widerspruch, der die SPD zum Zwergendasein verurteilt, in jüngerer Zeit aber nicht der CSU, sondern ihren rechtsradikalen Abspaltungen zugute kommt.