Im deutsche Fußball tut sich in Sachen Antisemitismus das, was die Kulturszene vermissen lässt

»Auf ganz dünnem Eis«

Woran liegt es, dass im Bereich des deutschen Fußballs der Kampf gegen Antisemitismus und Israelhass derzeit viel weiter ist als im Kultursektor? Und wird das auch so bleiben?

Regelmäßig finden im Deutschen Fußballmuseum Veranstaltungen zum Thema Antisemitismus statt. Die Deutsche Fußball-Liga (DFL), der Zusammenschluss der Profivereine, unterstützt seit 2021 die Antisemitismus-Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Al­liance, der FC Bayern München pflegt die Erinnerung an seinen einstigen jüdischen Präsidenten Kurt Landauer und seit 2005 bereits verleiht der DFB den Julius-Hirsch-Preis in Gedenken an diesen in Auschwitz ermordeten jüdischen Fußballer.

Als am 9. November kurz vor der jährlichen Gedenkveranstaltung antisemitische Schmierereien auf dem Vereinsgelände von Schalke 04 entdeckt wurden, stellte der Club klar: »Wer solche unsäglichen Schmierereien verursacht, kann kein Teil der Vereinsfamilie sein!«

Beim Erzrivalen Borussia Dortmund war der Geschäftsführer Carsten Cramer stolz darauf, dass der Meldebutton gegen Antisemitismus im Medienzentrum des Dortmunder Signal-Iduna-Parks (vormals Westfalenstadion) vorgestellt wurde, und die Fans von Werder Bremen solidarisierten sich nach den Hamas-Morden mit Israel und riefen zur Hilfe für den im Zuge der Terrorattacke entführten Werder-Fan Hersh Goldberg-Polin auf.

Während sich das deutsche Fußballmilieu nach dem 7. Oktober gegen Israelhass und Antisemitismus stellte, kam aus weiten Teilen der Kulturszene bestenfalls nichts.

Während sich also bedeutende Vereine, Organisationen des deutschen Fußballs ebenso wie viele Anhänger nach dem 7. Oktober gegen ­Israelhass und Antisemitismus stellten, kam aus großen Teilen der Kulturszene bestenfalls nichts. Popstars kamen nicht – wie zum Teil nach Nazi-Anschlägen oder Russlands Überfall auf die Ukraine – zusammen, um mit Benefizkonzerten Solidarität zu zeigen. Erst nach wochenlangem ­Zögern rang sich das Schauspielhaus Bochum dazu durch, auf seiner Anzeigentafel eine Friedenstaube und den Slogan »Gegen Antisemitismus« zu zeigen. Das Wort »Israel« suchte man vergebens.

Der Autorenverband Pen Berlin organisierte über einen Monat nach den Angriffen der Hamas eine Lesung im Deutschen Theater, und nach und nach meldeten sich Filmemacher und Autoren zu Wort, die sich auf die Seite Israels stellten. Doch von den Granden der deutschen Kulturszene, die sich 2020 mit dem Aufruf »GG 5.3 Weltoffenheit« gegen den BDS-Beschluss des Bundestags gestellt und somit die Debatte weg von der Kritik an Antisemitismus hin zur Normalisierung des Israel-Boykotts verschieben wollten, zogen nur zwei ihre Unterschrift nach den Massakern der Hamas zurück.

»Dass sich die oberen Ligen des Fußballs heute klar gegen Antisemitismus positionieren«, sagt der ­Fußballexperte und Autor Dietrich Schulze-Marmeling, »hat seine ­Wurzeln in den späten neunziger Jahren.« Damals hätten Journalisten und Fan-Initiativen begonnen, im Zuge der Aufarbeitung der NS-Geschichte nach den jüdischen Wurzeln in den Vereinen zu suchen.

»Es ging darum, die aus der Geschichte geschriebenen jüdischen Akteure in diese zurückzuholen.« Nach anfäng­lichem Zögern unterstützten die Verantwortlichen der Clubs entsprechende Projekte. Auch der Kicker, die wichtigste Fußballzeitung des Landes, habe sich zu seinem jüdischen Gründer Walther Bensemann bekannt. »Damals erschienen viele Bücher und Artikel, zusammen mit dem Druck der Fans hat sich der Fußball geändert. Er hat seine jüdische Geschichte wiederentdeckt.«

Doch Schulze-Marmeling ist skeptisch, ob das heute weitgehend selbstverständliche Engagement gegen Antisemitismus und die Solida­rität mit Israel Bestand haben: »Wir haben ja am Beispiel des Bayern-Spielers Noussair Mazraoui, der Palästina nach dem Überfall der Hamas ›den Sieg‹ wünschte, gesehen, dass die Solidarität Bayerns mit Israel nur so lange hält, wie sie dem Geschäft nicht im Wege steht. Auch dass der Verein eng mit Katar zusammen­arbeitet hat und in dem Land, in das Israelis nicht einreisen dürfen, sein Winterlager veranstaltete, passt eigentlich nicht zur offiziellen Haltung des Vereins.«

Wenn in den kommenden Jahren der Einfluss arabischer Staaten und Unternehmen auf den europäischen Fußball ebenso zunehme wie der ­Anteil junger Muslime unter den Fans, werde sich zeigen, ob sich die Einstellung zu Israel und Anti­se­mitismus ändere, so Schulze-Marmeling. »Ich weiß nicht, was pas­sieren wird. Wir stehen auf dünnem Eis.«

»Die postkolonialen Aktivisten haben Israel als Beispiel für den letzten Kolonialstaat ausgesucht. Ausgerechnet die einzige Demokratie im Nahen Osten sei nun zum Symbol für alles Böse in der Welt geworden.« Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats

Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, den Organisationen wie der Designtag, die Literaturkonferenz, der Kunst- und Musikrat bilden. Seit Jahren setzt er sich in Politik & Kultur, der Zeitschrift des Kulturrats, gegen Antisemitismus ein, was ihm sowohl Anerkennung als auch Anfeindungen einbrachte. Seiner Ansicht nach haben längst nicht alle Kulturinstitutionen nach dem 7. Oktober versagt: »Der Maßstab, an dem die Solidarität gemessen wurde, war sehr hoch. Nach dem Überfall Russlands haben viele Theatern und Museen eine Ukraine-­Fahne rausgehangen. Im Vergleich zu damals zeigt der Kulturbereich in seiner Breite weniger Solidarität.«

Der Grund ist für Zimmermann klar. Der Postkolonialismus spiele im Kulturbetrieb, aber auch in der Wissenschaft, eine große Rolle. Das vom postkolonialen Denken geprägte ­Milieu habe großen Einfluss. Ob im Theater, in Museen oder auch im Popbereich: Es bestimme die Debatten und sorge dafür, dass die Soli­darität mit Israel längst nicht so selbstverständlich sei wie die mit der Ukraine.

Natürlich müsse man auch die deutsche Kolonialgeschichte aufarbeiten, sagt Zimmermann. Über die Verbrechen und ihre Folgen sollte diskutiert werden. Doch darum gehe es in erster Linie nicht mehr: »Die postkolonialen Aktivisten haben Israel als Beispiel für den letzten Kolonialstaat ausgesucht. Ausgerechnet die einzige Demokratie im Nahen Osten sei nun zum Symbol für alles Böse in der Welt geworden.« Dass China Tibet besetzt hält, in unzähligen an­deren Staaten die Menschen brutal unterdrückt werden, es Ausbeutung und Folter gibt, all das spiele für die Postkolonialen keine Rolle. Der Holocaust sei für diese Szene nur ein ­kolonialistisches Verbrechen von vielen.

»Ich glaube nicht, dass alle, die sich nun gegen Israel stellen oder die BDS-Kampagne unterstützen, überzeugte Antisemiten sind«, so Olaf Zimmermann. Aber der weitverbreitete Antisemitismus in den Gesellschaften des Westens befördere diese Haltung. »Es ist ja kein deutsches Phänomen. In den USA oder Großbritannien ist die Lage zum Teil ja noch deutlich schlimmer als hierzulande.« Für Zimmermann ist das ­alles eine Enttäuschung: »Ich ging lange davon aus, dass die Debatten, die wir über den Holocaust und die Nazi-Zeit geführt haben, dafür gesorgt hätten, dass es eine Immunisierung gegen pauschale Israelkritik gibt. Leider ist dem nicht so.«

Bislang sorgt die postkolonialis­tische Ideologie dafür, dass die Lage, was Israelhass und Antisemitismus betrifft, im Kulturbereich schlimmer ist als beim Fußball.

In der Wissenschaft sei die Lage nicht anders, aber die Kultur stehe stärker im Fokus der Öffentlichkeit, sagt Zimmermann, was keine Entschuldigung sein solle. Für ihn ist der grassierende Antisemitismus, auch wenn er als postkolonialistische Israelkritik daherkommt, unerträglich: »Jede Synagoge in Deutschland muss von der Polizei geschützt werden. Jüdische Schulen gleichen Festungen. Wir haben in Deutschland einen strukturellen Antisemitismus, und das darf der Kulturbereich nicht ignorieren. Und ich erwarte, dass er sich dazu äußert.«

Bislang sorgt die postkolonialis­tische Ideologie dafür, dass die Lage, was Israelhass und Antisemitismus betrifft, im Kulturbereich schlimmer ist als beim Fußball. Aber das ist kein Naturgesetz: In Berlin hat der neue Kultursenator Joe Chialo (CDU) damit begonnen, bei der Vergabe von Geldern darauf zu achten, dass sie nicht in die Hände hip daherkommender Antisemiten gelangen.

Die Dominanz des postkolonialen Denkens nicht nur im Kulturbereich hat auch damit zu tun, dass es lange als trendy, sexy und der heiße Scheiß galt. Es war und ist Ideologie, Geschäftsmodell und Karrierebooster in einem. Stockt der Zufluss öffentlicher Mittel, der den Antisemitenzirkus wirtschaftlich am Leben erhielt, könnte das zumindest in diesem Teil der Gesellschaft ein effektiverer Schlag gegen den Antisemitismus sein als endlose Debatten im Feuilleton.