Die islamistische Hizb ut-Tahrir verstärkt seit dem 7. Oktober ihre Aktivitäten

Kämpfer fürs Kalifat

Seit dem Überfall der Hamas auf Israel intensivieren Islamisten ihre Propagandatätigkeit in Deutschland, allen voran die Hizb ut-Tahrir.

Seit einiger Zeit wehen auf deutschen Straßen immer öfter die Fahnen der ­Islamisten. In Essen bei einer Demonstration Anfang November mit 3.000 Teilnehmern, mehrmals auf Kundgebungen auf dem Berliner Alexanderplatz, bei einer Demonstration Ende Oktober in Hamburg mit knapp 500 Menschen: Immer wieder sah man schwarze Flaggen mit dem islamischen Glaubensbekenntnis in Weiß – das Erkennungszeichen der islamistischen Hizb ut-Tahrir (HuT).

Die HuT ist in Deutschland seit 2003 verboten, ist aber durch Stellvertreterorganisationen weiterhin tätig. Die Demonstration in Essen Anfang November wurde von einer Gruppe namens Generation Islam veranstaltet, die dem Umfeld der HuT zugerechnet wird. Die Versammlung war als Solidaritätskundgebung für Palästinenser verkauft worden, entpuppte sich aber als eine islamistische Veranstaltung, bei der Männer und Frauen getrennt marschierten und ein Kalifat gefordert wurde.

Schätzungen zufolge hatte die HuT vergangenes Jahr 750 Mitglieder. Trotz ihrer relativ geringen Mitgliederzahl kann die oft als sektenhaft beschriebene HuT sehr effektiv Propaganda betreiben. Derzeit nutzt sie den Krieg in Israel, um neue Mitglieder zu rekrutieren. Öffentlich in Erscheinung treten die drei Gruppen Generation Islam, Realität Islam und Muslim Interaktiv. Dem Bundesamt für Verfassungsschutz zufolge weisen alle drei Gruppen eine ideologische Nähe zur HuT auf. Sie treten schon seit langem durch spektakuläre Aktionen, hohe Medienkompetenz und die Fähigkeit hervor, besonders junge Muslime für ihre Demonstrationen und Kundgebungen zu mobili­sieren. So hat zum Beispiel die Gruppe Muslim Interaktiv im Februar dieses Jahres in Hamburg 3.500 Menschen auf die Straße gebracht, um gegen die ­Koranverbrennungen in Schweden zu protestieren.

Das Internet und die sozialen Medien spielen für Hizb ut-Tahrir eine wichtige Rolle. Die hohe Internetaffinität scheint sich auszuzahlen: Die Mitgliedszahlen sind zuletzt gestiegen.

Die HuT ist jahrzehntealt und weltweit aktiv. Ihr arabischer Name bedeutet »Partei der Befreiung«. Gegründet hat sie der palästinensische Rechtsgelehrten Taqi al-Din al-Nabhani (1909–1977) in den frühen fünfziger Jahren in Jerusalem. Sein Ziel war die Errichtung eines Kalifats, doch wollte er auch beweisen, dass sein orthodoxes Islamverständnis alles mitbrachte, um technische und ökonomische Entwicklung zu ermöglichen. In seinem Buch »Nizam al-Islam« (»Die Lebensordnung des Islam«) beschreibt er, wie der Islam sich Wissenschaft und Technologie zunutze machen könne, ohne dabei seine Prinzipien zu verraten.

Das Logo der HuT zeigt eine schwarze Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis vor einem Erdball, auf dem in roter arabischer Schrift »Hizb ut-Tahrir« steht. Die Flagge mit der Shahada, dem Glaubensbekenntnis, wahlweise auf einem schwarzen oder einem weißen Hintergrund, ist bei Demons­trationen der HuT häufig zu sehen.

Es handelt sich nicht um eine Partei im klassischen Sinne, eher kann die HuT als eine transnationale, panislamische Bewegung verstanden werden. Zur Zeit ihrer Gründung verstand sie sich, wie die Islamwissenschaftlerin Hanna Baron schreibt, als radikalere Alternative zur Muslimbruderschaft.
Zunächst ging es der HuT vor allem um die Zerstörung Israels, später verschob sich der Schwerpunkt zum weltweiten Kampf gegen den Westen und den Kapitalismus im Namen des Islam. Auf der offiziellen Website des Medienbüros der Hizb ut-Tahrir lässt sich lesen, dass ihr Ziel die Vereinigung der Muslime in einem Kalifat ist, welches nach frühislamischem Vorbild eingerichtet sein und auf überlieferten Rechtsgrundsätzen der Sharia fußen soll.

Der Herrschaftsanspruch der HuT ist explizit global. Die Partei strebe die »Führung der Ummah« und die »Rechtleitung der Menschheit« an, damit sich der Islam »weltweit durchsetzt«. Die Idee des Kalifats als erdumfassender Theokratie richtet sich auch gegen Nationalstaaten – das erklärt, warum bei antiisraelischen Demonstrationen der HuT manchmal keine einzige palästinensische Nationalflagge zu sehen ist, so beispielsweise am 30. Oktober in Hamburg.

In Deutschland versuchte die HuT bis in die frühen nuller Jahre gezielt, vor ­allem Studierende und Akademiker zu rekrutieren. Im Jahr 2003 wurde die Gruppierung verboten.

Die HuT versteht den Islam als eine allumfassende Lebensordnung. Ihre Ideologie ist geprägt von einem geschlossenen, antisemitischen Weltbild, klare Feindbilder sind der Westen beziehungsweise die »kapitalistische Welt«, vor allem die USA. Inzwischen hat Hizb ut-Tahrir in 40 Ländern Organisationsstrukturen aufgebaut, in Europa spielt besonders Großbritannien eine wichtige Rolle.

In Deutschland versuchte die HuT bis in die frühen nuller Jahre gezielt, vor ­allem Studierende und Akademiker zu rekrutieren. Im Jahr 2003 wurde die Gruppierung verboten. Kurz darauf erschien in der NPD-Zeitschrift Deutsche Stimme ein ausführliches Interview mit dem HuT-Mediensprecher Shaker Assem. Geführt hatte es der stellvertretende NPD-Vorsitzende Holger Apfel, der in der Einleitung schrieb, das Verbot der HuT sei »ein politisches Bauernopfer sowie ein Ergebenheitsgruß an die USA und Israel«. Die Überschrift lautete: »Palästina von Zionisten befreien!«.

Im Interview wurde deutlich, dass der gemeinsame Nenner dieses rechtsex­trem-islamistischen Tête-à-Tête in erster Linie antiisraelische und antiamerikanische Hetze war; hinzu kamen die Ablehnung der »kranken Ideen der Spaßgemeinschaft« und des »grenzenlosen Individualismus«, wie Assem es ausdrückte – und ethnopluralistische Ideen. Wenn es erst das Kalifat gäbe, würden die meisten Muslime in ihre Heimatländer zurückkehren, versicherte Assem.

Shaker Assem lebt heute in Wien, wo er weiterhin als Mediensprecher der Hizb ut-Tahrir für den deutschsprachigen Raum auftrat. Auf seinem Youtube-Kanal veröffentlicht er seit 2017 regelmäßig Videos, in denen er sich zu aktuellen Geschehnissen äußert. »Die Ereignisse in Gaza und Palästina sind eine Zäsur in der Geschichte der islamischen Ummah«, sagte er dort sechs Tage nach dem Überfall der Hamas. »Jetzt muss die Ummah sich erheben, jetzt müssen sich die Armeen der Muslime erheben, die Ketten sprengen, die Grenzen niederwalzen und in den Kampf ziehen«, um »Palästina – ganz Palästina – zu befreien«.

Das Internet und die sozialen Medien spielen für die HuT eine wichtige Rolle. Die hohe Internetaffinität scheint sich auszuzahlen: Die Mitgliedszahlen der HuT sind in den vergangenen Jahren gestiegen. Für 2019 schätzte der Bun­desverfassungsschutz, die HuT habe 430 Mitglieder, für 2022 gab das Bundesinnenministerium 750 an.

Das 2003 erlassene Tätigkeitsverbot führte nicht dazu, dass die Gruppe ihre Aktivitäten aufgab. Viele Mitglieder passten ihr Auftreten an die neuen Gegebenheiten an und tarnten sich, um handlungsfähig zu bleiben und strafrechtlichen Konsequenzen zu entgehen.

Islamisten wie die HuT propagieren ein identitäres Freund-Feind-Denken. Deshalb wollen sie die Entfremdung der Muslime von der deutschen Gesellschaft vorantreiben

Die Vereinigung Realität Islam hat ihren offiziellen Sitz in Frankfurt am Main. In ihrem Namen treten häufig der Konvertit Suhaib Raimund Hoffmann und Ali Kil auf. Der Youtube-Kanal von Generation Islam hat 60.000 Abonnenten, die Instagram-Präsenz der Gruppe hat 75.000 Follower. Bisher ­beschränkte sich die Arbeit der Gruppe vor allem auf das Internet, erst seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober ruft sie regelmäßig zu Demonstrationen und Kundgebungen wie der Demonstration in Essen auf. Generation Islam hat ihren Sitz in Hamburg, ist aber deutschlandweit aktiv. Leitende Funktionen haben Ahmed Tamim und Umar Qadir inne.

Seit 2020 agiert in Hamburg noch eine weitere Organisation: Muslim Interaktiv. Ihre Aktionen, zum Beispiel eine Demonstration gegen die schwedischen Koranverbrennungen im Februar in Hamburg, zeugen von Professionalität und Internetaffinität.

Wichtig für die Propaganda der drei Gruppen ist es, Muslime generell als Opfer darzustellen. Immer wieder wird behauptet, die deutsche Politik und ­Gesellschaft seien zutiefst muslimfeindlich und rassistisch. Muslime unterlägen einem »Assimilationszwang« und einer »Wertediktatur« und würden ­gezwungen, ihre »islamische Identität« aufzugeben. Alle Muslime weltweit stellten eine Schicksalsgemeinschaft dar, die vom Westen beziehungsweise der »kapitalistischen Welt« unterdrückt werde.

Islamisten wie die HuT propagieren ein identitäres Freund-Feind-Denken. Deshalb wollen sie die Entfremdung der Muslime von der deutschen Gesellschaft vorantreiben. Wie schon der HuT-Sprecher Shaker Assem 2003 seinem Gesprächspartner von der NPD versicherte: Auch die HuT stehe der »Integ­rationsforderung der etablierten Parteien sehr skeptisch gegenüber«.