Der Film »Die Unschuld« des japanischen Regisseurs Hirokazu Koreeda

Überall Monster

In »Die Unschuld«, dem neuen Film von Hirokazu Koreeda, geht es um die komplizierte Freundschaft zwischen zwei Jungen, die von den Eltern und Lehrern nicht verstanden wird. Koreeda bleibt seinem Topos der Kindheit treu, erzählt aber dieses mal aus mehreren Perspektiven.

Das Verhalten des jungen Minato (Soya Kurokawa) steckt voller Rätsel. Der etwa Zwölfjährige wirkt abwesend, ganz in sich gekehrt. Eines Tages kommt er mit nur einem Schuh von der Schule nach Hause. Seine Trinkflasche ist mit schlammigem Wasser gefüllt. An einem anderen Tag schneidet er sich unvermittelt seine langen Haarsträhnen ab. Er könne nicht so werden wie sein Vater, in seinem Kopf stecke ein Schweinehirn, das sind die wenigen Sätze, die seine alleinerziehende Mutter (Sakura Andō) aus ihm herausbekommt. Als er eines Abends nicht heimkommt, macht sie sich voller Sorgen auf die Suche nach ihm und findet ihn im Dunkel eines verlassenen Eisenbahntunnels. »Wer ist hier das Monster?« murmelt der Junge ihr im Licht der Taschenlampe entgegen. Ein merkwürdiges, fast schon verstörendes Verhalten, das erst im Laufe des Films aufgeklärt wird.

Mit »Die Unschuld« legt der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda einen für sein Werk typischen, zugleich auch ganz und gar ungewöhnlichen Film vor. Typisch, da er wie in vielen seiner vorherigen Filme (»Nobody Knows«, »Like Father, Like Son« oder »Shoplifters«) auch hier familiäre Konflikte offenlegt, aus der Sicht von Kindern erzählt und Fragen der eigenen Identität und Zugehörigkeit auslotet. Und ungewöhnlich insofern, als er nicht chronologisch erzählt, sondern in einem Triptychon die Ereignisse rund um Minato aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchtet, wobei jeder Blickwinkel eine Schicht der Wahrheit freilegt.

Der erste Teil des Films wird aus der Perspektive der Mutter erzählt, die sich keinen Reim auf das sonderbare Verhalten ihres Sohns machen kann.

Gleich einem Puzzle ergeben die Einzelteile am Ende das Gesamtbild einer herzzerreißenden tragischen Geschichte, die jedoch keine eindeutigen Schlüsse zulässt. Der Film weißt nicht allein Koreedas Handschrift auf: Erstmals seit seinem Debütfilm »Maboroshi« (1995) schrieb nicht er selbst das Drehbuch. Dieses stammt vielmehr von Yūji Sakamoto und gewann im vergangenen Jahr in Cannes den Preis für das beste Drehbuch.

Der erste Teil wird aus der Perspektive der Mutter erzählt, die sich keinen Reim auf das sonderbare Verhalten ihres Sohns machen kann. In ihrer Verzweiflung schickt sie ihn zur Computertomographie, die aber keinen pathologischen Befund ergibt. Wenig später erzählt Minato ihr, sein Lehrer schlage ihn. Konfrontiert damit, reagiert die Schulleitung beschwichtigend bis kaltherzig. Auf Floskeln des Bedauerns (»Es war nichts weiter als ein Missverständnis«) und seltsamen Wortverrenkungen (»Zwischen Hand und Nase kam es zu einer Berührung«) folgt eine unaufrichtige Entschuldigung des Lehrers. Als die Mutter ihn auf dem Schulflur zur Rede stellt, behauptet er, Minato sei gar nicht so unschuldig, er schikaniere vielmehr einen anderen Schüler.

Stress in der Schule. Yori wird von seinen Mitschülern gemobbt

Stress in der Schule. Yori wird von seinen Mitschülern gemobbt

Bild:
2023 MONSTER Film Committee

In der Verästelung und Verkettung der verschiedenen Perspektiven zeigt sich die Stärke des äußerst intelligent geschriebenen Drehbuchs. Eine Szene, die im ersten Teil abrupt endet, wird im zweiten an entscheidender Stelle fortgeführt, diesmal aus Sicht des Lehrers. Denn der anfängliche Verdacht der körperlichen Misshandlung zerstreut sich schnell.

Der Kern der Wahrheit

Nun zeigt sich, dass es sich tatsächlich um einen Irrtum handelt. Doch die Schule ist nicht an einer Aufklärung der verworrenen Situation interessiert. Sie opfert den Lehrer bereitwillig, um jeglichen Skandal, sei er noch so unbegründet, im Keim zu ersticken. Auf die eine Erklärung folgt ein weiteres Rätsel. Denn warum solle ausgerechnet der stille Minato einen Mitschüler schikanieren?

Erst der dritte Teil, der Minatos Perspektive folgt, dringt zum Kern der Wahrheit vor. Es ist die sich entwickelnde Freundschaft zwischen ihm und seinem Mitschüler Yori (Hinata Hiiragi), die all jene Missverständnisse der Erwachsenen hervorruft. Eine Freundschaft, zu der sich Minato nur schwer bekennen kann, denn der sehr zierliche und mit einer höheren Stimme sprechende Yori wird gemobbt. Minatos verschlossenes Verhalten ist die Reaktion auf ein Umfeld, das die Verbundenheit, die sich zwischen den beiden Kindern entwickelt, nicht duldet.

Sie weiß nicht, was mit ihrem Sohn los ist. Minato mit seiner Mutter Saori (Sakura Andō)

Sie weiß nicht, was mit ihrem Sohn los ist. Minato mit seiner Mutter Saori (Sakura Andō)

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2023 MONSTER Film Committee

Die Erwachsenen sind unfähig, die Handlungen der Kinder korrekt zu interpretieren. Minatos Mutter möchte, wie auch sein Lehrer, alles richtig machen, beiden fehlt aber das Verständnis dafür, was in den Kindern vor sich geht. Diese versuchen, in einer Umgebung zurechtzukommen, die keinen Platz für sie bietet. Minatos Frage, wer hier das Monster sei, kann als ein Echo verstanden werden, das in die Welt der Erwachsenen zurückschallt. So gesehen ist der japanische Originaltitel »Kaibu­tsu«, der sich, entsprechend dem englischsprachigen Verleihtitel, mit »Monster« übersetzen lässt, viel treffender als der deutsche, sehr zahme Titel »Die Unschuld«.

Nicht unerwähnt bleiben darf die Musik von Ryūichi Sakamoto

Ein verlassener Waggon unweit des stillgelegten Eisenbahntunnels wird für die beiden Kinder zum verwunschenen Rückzugsort. Ein Ort abseits von Normen, an dem sie einfach Kind sein dürfen. Sie spielen Karten, teilen ihr Essen oder schmücken gemeinsam den Waggon. Kameramann Ryūto Kondō fängt die dichte Natur der Präfektur Nagano, in der der Film gedreht wurde, in betörend schönen Bildern ein. Nicht unerwähnt bleiben darf die Musik von Ryūichi Sakamoto, der die einsame Freundschaft der beiden Jungen in sanften Pianoklängen zum Ausdruck bringt. Es ist die letzte Arbeit des vielfach ausgezeichneten, 2023 verstorbenen Komponisten.

Während der Film zu Beginn noch wie ein Psychodrama anmutet, überführt Koreeda die Geschichte im weiteren Verlauf in den naturalistischen Inszenierungsstil, für den er so bekannt ist. Präzise, äußerst subtil und sensibel arbeitet er das Innenleben seiner beiden Figuren heraus, die mit großer Neugier und Aufgewecktheit ihren Platz in der Welt suchen. Minatos Wutausbruch im Klassenzimmer, der zum vermeintlichen Übergriff des Lehrers führt und andere Ereignisse, die in den ersten beiden Teilen gezeigt wurden, erscheinen später in einem ganz neuen Licht.

Minatos verschlossenes Verhalten ist die Reaktion auf ein Umfeld, das die Verbundenheit, die sich zwischen den beiden Kindern entwickelt, nicht duldet.

»Ich lüge, weil ich es niemandem erzählen kann«, platzt es aus Minato einmal vor seiner Mutter heraus. Worum es dabei geht? Auch das deutet der Film nur an. Yoris alkoholkranker Vater (Shidō Nakamura) möchte aus ihm einen echten Mann machen, wie er sagt. Dann würde seine Mutter auch wieder zurückkommen. Minato fühlt sich zu Yori hingezogen, möchte dafür aber nicht den Spott seiner Mitschüler abgekommen, die keine Gelegenheit auslassen, seinen Freund zu hänseln.

Die Spuren, die der Film legt, lassen den Schluss zu, die Geschichte erzähle vom frühen Aufkeimen homosexuellen Begehrens. Im Zuge der Uraufführung in Cannes erzählte Koreeda in einem Interview: »Die Gefühle, die in diesen jungen Kindern entstehen, werden manchmal gewalttätig gegenüber anderen Menschen ausgedrückt, oder manchmal wenden sich die Kinder gegen sich selbst.« Der Film zeige »die Geburt von Emotionen, von Gefühlen. Es ist schwierig, in Worte zu fassen, was man fühlt.« In einem anderen Interview betonte er hingegen, er sei nicht der Meinung, dass der Film zwei Jungen zeige, die erotische Gefühle füreinander entwickeln, wie es in einigen Kritiken zu lesen gewesen war.

Genau hier liegt womöglich die große Faszination des Films. Koreeda und Sakamoto erzählen ihre Geschichte so geschwungen und kunstvoll, dass endgültige Schlussfolgerungen kaum möglich sind. In einer mehr als rührenden Szene bringt die Schuldirektorin, die selbst mit einem großen Ballast zu kämpfen hat, Minato bei, was man mit Worten macht, die man niemandem sagen kann: Man schnappt sich ein Blasin­strument und pustet die Worte ganz sachte hinein. »Wenn nur einige Menschen es haben können, ist das kein Glück«, gibt sie ihm mit auf den Weg. Denn »Glück ist etwas, das jeder haben kann«.

Die Unschuld (Japan 2023). Buch: Yūji Sakamoto. Regie: Hirokazu Koreeda. Darsteller: Sakura Andō, Eita Nagayama, Soya Kurokawa, Hinata Hiiragi.