Wo ist das Geld?
»Es geht nicht um Tourismusphobie, es geht ums Überleben«, stand auf einem selbstgemalten Pappschild, auf anderen »Tourismus ja, aber nicht so« oder »Ferienhäuser vertreiben mich aus meiner Heimat«. Ein so noch nicht dagewesener Demonstrationszug lief am 20. April die Haupteinkaufsstraße in Arrecife, der Hauptstadt von Lanzarote, entlang.
Auf allen acht bewohnten Inseln des kanarischen Archipels fanden große Demonstrationen statt, an denen sich insgesamt an die 200.000 Menschen beteiligten – etwa ein Zehntel der Bevölkerung. Alle Umzüge standen unter dem Motto »Die Kanaren sind am Limit«. Kritisiert wurden touristische Neubauprojekte, auf der kleinen Insel El Hierro verlasen die Protestierenden eine Resolution gegen die Genehmigung für den Bau von 35 Luxusvillen in La Frontera, einer der drei Gemeinden, die es auf dem Eiland gibt. Die Protestierenden forderten bezahlbaren Wohnraum für Einheimische und eine Umweltsteuer für Urlauber.
Auf allen acht bewohnten Inseln des kanarischen Archipels fanden große Demonstrationen statt, an denen sich insgesamt an die 200.000 Menschen beteiligten – etwa ein Zehntel der Bevölkerung.
Aufgerufen hatte eine Plattform von 15 ökologischen und ökosozialistischen Gruppierungen. »Wir werden diesen Unsinn stoppen« oder »César hat gesagt, dass es so kommen würde« – so stand es auf Transparenten des Demonstrationszugs in Arrecife, an dem sich 9.000 Menschen aller Altersgruppen beteiligten. Auf einem großen Transparent war der Maler, Bildhauer und Architekt César Manrique abgebildet, der bereits Ende der sechziger Jahre die Zurichtung der Insel auf die Profitinteressen der Tourismusindustrie kritisiert hatte.
a seine Familie mit dem damaligen Regionalpräsidenten Pepín Ramírez Cerdá befreundet war, konnte Manrique seinen Ideen zur Erhaltung der traditionellen Bauweise Lanzarotes und zu einem naturverbundenen Tourismus Gestalt verleihen und auf einem Großteil der Insel emblematische Bauwerke initiieren, die sich in die vulkanische Landschaft einpassen. Auf den großen kanarischen Inseln ist dies anders. Seit den sechziger Jahren wurde fast jeder Ort an der Küste, bis auf die Naturschutzgebiete, mit großen Hotelanlagen zugebaut, seit zwei Jahrzehnten kommen dazu noch Neubauten von Ferienwohnanlagen und Ressorts.
Trotz der Tourismusmillionen sind ein Drittel der Bevölkerung von Armut bedroht
Eigentlich sind 40 Prozent des Territoriums der Kanaren geschütztes Gebiet, es gibt 146 ausgewiesene Naturschutzgebiete. Es sind die Naherholungsgebiete insbesondere der ärmeren Bevölkerung, die nicht verreist und sich auch keine teuren Wohnungen oder gar Häuser in Strandnähe leisten kann. »Trotz der Tourismusrekorde, die Jahr für Jahr gebrochen werden, und der Millionen Euro, die die Tourismusindustrie auf den Inseln erwirtschaftet, sind fast 34 Prozent der kanarischen Bevölkerung, fast 800.000 Menschen, von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht«, so die kanarische NGO Ben Magec – Ecologistas en Acción in ihrem Aufruf zu den Demonstrationen mit dem programmatischen Titel »Begrenztes Gebiet, unbegrenzter Tourismus«.
»Ben Magec« bedeutet in der Berbersprache der prähispanischen Bevölkerung der Kanaren »die Kinder der Sonne«. Die NGO gehört zu einer Koordination von rund 30 Gruppierungen aller Inseln, die für ihren Einsatz für die Umwelt und die Rechte der ansässigen ärmeren Bevölkerung weithin anerkannt sind, wie Salvar Tenerife (Rettet Teneriffa) oder Salvar La Tejita (Rettet La Tejita) – ein bislang naturbelassenes Gebiet Teneriffas, auf dem eine große Hotelanlage gebaut werden soll.
Im vergangenen Jahr kamen 14 Millionen Touristen aus dem Ausland auf die Kanaren, 13 Prozent mehr als 2022. Der Tourismus ist die wichtigste Wirtschaftstätigkeit auf den Kanarischen Inseln, er trug 2022 fast 35 Prozent zum BIP bei und beschäftigt fast 40 Prozent der Erwerbstätigen – 350.000 Arbeitnehmer:innen. Aber die Löhne sind niedrig, die Beschäftigung ist oft prekär. Der Tourismus hat unerwünschte Auswirkungen, wie die Verteuerung der Wohnkosten für die Bevölkerung oder die Auswirkungen auf die Umwelt, sei es durch Großprojekte von der Art wie das »Hotel de la Tejita« und die Luxusferienwohnanlage »Cuna del Alma«, die beide derzeit gebaut werden und gegen die ökologische Gruppen seit Jahren protestieren.
Leute ketteten sich an Baumaschinen
»Das touristische Großprojekt ›Cuna del Alma‹ zielt darauf ab, eines der wenigen Gebiete ohne touristische Überfüllung auf der Insel mit mehr als 400.000 Quadratmetern zu entwickeln, auf das 420 Luxusvillen, Hotels und andere Infrastrukturprojekte verteilt werden sollen«, so Ben Magec über das Fischerdorf El Puertito an der Costa Adeje auf Teneriffa. Der Bauträger habe demnach ohne Umweltverträglichkeitsprüfung mit den Arbeiten begonnen. Durch langandauernde Proteste von Ökoaktivist:innen wurde das Bauprojekt zum Symbol eines Tourismus ohne Begrenzung – es gab ein Protestcamp, Leute ketteten sich an Baumaschinen.
Die neue kanarische Regierung hatte Ende Februar einen von drei gegen den Bauträger verhängte Baustopps wieder aufgehoben.
Die Regionalregierung der Kanaren, die bis Juni 2023 aus der sozialdemokratischen Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE), der linken Podemos (Wir können) sowie zwei regionalen Parteien gebildet wurde, hatte das Bauvorhaben nach den Protesten angehalten, weil es in einem Naturschutzgebiet liegt, ohne Umweltverträglichkeitsprüfung begonnen wurde und durch den Bau eine prähispanische archäologische Stätte aus der Zeit der kanarischen Urbevölkerung der Guanchen zerstört würde.
Bei den Regionalwahlen im Mai 2023 flog Podemos aus dem Einkammerparlament der Kanaren – was eine Mehrheit für eine Koalition der konservativ-liberalen Regionalpartei Coalición Canaria (CCa) des jetzigen Regionalpräsidenten Fernando Clavijo Batlle mit dem rechtskonservativen Partido Popular (PP) sowie den regionalen Parteien AHI und ASG, einer PSOE-Abspaltung von der Insel La Gomera, ermöglichte. Die neue kanarische Regierung hatte Ende Februar einen von drei gegen den Bauträger verhängte Baustopps wieder aufgehoben.
Dies wurde von weiten Teilen der Bevölkerung als Freibrief für einen Tourismus ohne Begrenzung angesehen, für eine unbeschränkte Ausbeutung der vor dem Kollaps stehenden Inselressourcen: Es gab bereits temporäre Trinkwasserrationierungen auf Teneriffa, die staatliche Daseinsvorsorge ist unterfinanziert. So war denn auch die Demonstration auf Teneriffa mit über 50.000 Teilnehmenden die größte der Inseln. Auf vielen Schildern wurde gefragt: »Wo ist das Geld vom Tourismus?«