17.08.2023
Helena Maleno Garzón, Migrationsforscherin, im Gespräch über die »Kanaren-Route« und die EU-Migrationspolitik

»Das Geschäft mit den Grenzen wird weiter wachsen«

Die Zahl der Flüchtlinge auf dem Weg zu den Kanaren nimmt wieder zu. Boote aus den westafrikanischen Staaten Mauretanien, Senegal und Gambia steuern meist die vor der nordafrikanischen Atlantikküste gelegenen Inseln Teneriffa oder Gran Canaria an. Eine weitere Seeroute führt von Marokko oder der Westsahara zu den nächstgelegenen Inseln Lanzarote oder Fuerteventura.

Die Fluchtroute in Richtung der Kanarischen Inseln gilt als eine der gefährlichsten der Welt. 2018 re­gistrierte Spanien noch die meisten Ankünfte irregulärer Einwanderer an der Mittelmeerküste, seitdem sinken die Zahlen. Doch noch immer versuchen jedes Jahr Abertausende Migrant:innen, auf diesem Weg auf EU-Territorium zu gelangen.
Seit 2020, als Marokko die westliche Mittelmeer-Route über das Alborán-Meer nach Südspanien geschlossen hat, wird die Kanaren-Route deutlich stärker genutzt. Seit Juni legt die überwiegende Mehrzahl der Schiffe wieder im Senegal ab, was mit der ansteigenden politischen Instabilität im Land zusammenhängt, nicht mehr in Mauretanien oder der Westsahara.

Die EU und Tunesien haben im Juli eine Absichtserklärung unterzeichnet, um die Migration über das Mittelmeer einzuschränken. Die tunesische Regierung locken Finanzhilfen und wirtschaftliche Vorteile. Wie sehen Sie die EU-Migrationspolitik?
Alle Migrationsrouten sind gefährlich. Durch die EU-Politik, die meiner Ansicht nach darauf abzielt, den Flüchtlingen Hilfe zu verwehren, werden sie noch gefährlicher. Es sterben immer mehr Menschen. Das sehen wir in Griechenland, in Italien oder auf den Kanaren. Mit Drittstaaten wird auch nicht kooperiert, um Menschen zu schützen, sondern wegen der »Migrationskontrolle«.

Im Juni überließ die spanische Küstenwache, die nur eine Stunde entfernt war, eine Seenotrettung der marokkanischen Marine. Deshalb dauerte es letztlich über zehn Stunden, bis die Marine bei dem betroffenen Boot ankam, mindestens 36 Menschen sind ertrunken.
Das ist Teil der Praxis der spanischen Küstenwache seit 2018. Damals wurden viele der sich dieser Praxis widersetzenden Direktoren der Küstenwache ausgetauscht. So erging es 2019 dem Direktor in Almería, Miguel Jesús Zea Gandolfo; auch Kapitäne wurden entlassen.

»Mi­gran­t:innen erzählen, dass sie dem Ertrinken überlassen werden.«

Im von Ihnen genannten Fall haben wir den Notruf weitergeleitet und standen mit den Menschen an Bord in Telefonkontakt. Wir haben Beweise für unterlassene Hilfeleistung und die Daten weitergegeben. Die Staatsanwaltschaft der Kanarischen Inseln hat bei den Gerichten von Las Palmas de Gran Canaria Strafanzeige gestellt und die Einleitung einer Untersuchung des Geschehen beantragt, als NGO treten wir als Kläger auf. Wir arbeiten mit einer Mutter zusammen, deren vierjähriger Sohn bei dem Unglück gestorben ist, und waren bei der ersten Identi­fikation des Leichnams vor Ort. Mi­gran­t:innen erzählen, dass sie dem Ertrinken überlassen werden. Die spanische Küstenwache weist solche Vorwürfe stets zurück. NGOs und Aktivist:innen, die mit Seenotrufen zu tun haben, wissen aber, dass das eben ihr Vorgehen ist.

Insbesondere die politische Rechte fordert, die Grenzen zu schließen, andere fordern »sichere Korridore«. Macht es einen Unterschied, welches politische Lager die Migrationspolitik bestimmt?
Das Problem sind nicht nur die Rechten und Ultrarechten. Alle Regierungen der EU folgen einer ähnlichen Migra­tionspolitik. Der Grenzschutz und die Kontrolle der Migrationsbewegungen sind ein großes Geschäft, an dem auch Rüstungskonzerne beteiligt sind, und dass die EU in den bewaffneten Schutz der Grenzen investiert, tragen die Mitgliedstaaten mit. In dem Punkt gibt es kaum Unterschiede zwischen Italiens neofaschistischer Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Spaniens, Pedro Sánchez, oder Innenminister Fernando Grande-Marlaska, ebenfalls von der Partei PSOE.

»Da die Migrationsrouten schärfer überwacht werden und immer mehr Geld an diktatorische Drittstaaten fließt, steigt auch die Bedeutung der organisierten Kriminalität.«

Das Geschäft mit den Grenzen wird weiter wachsen. Man muss sich nur vor Augen führen, was die Summe von einer Milliarde Euro bewirken wird, die die EU an Tunesien für die Küstensicherung zahlen will. In Tunesien sind Dutzende Migrant:innen gestorben, die in der Wüste ausgesetzt wurden.

Es scheint auch ein gewisses Desinteresse an der Rettung von Flüchtlingen in Teilen der Bevölkerung zu geben.
Manche wollen die Flüchtlinge wohl einfach sterben lassen. Wir müssen uns eingestehen, dass wir kein »Europa der Menschenrechte« sind. Es ist eher ein Europa der Privilegien, des systematischen Brechens grundlegender Menschenrechte der Migrant:in­nen. Viele, die die Überfahrt überleben, werden zu Arbeits­sklav:innen in der Landwirtschaft, der Pflege oder in sexueller Ausbeutung.

In den Medien und von Politik­er:in­nen wird häufig von einer »Menschenhändler-Mafia« gesprochen. Wie schätzen Sie die Rolle der organisierten Kriminalität ein?
Die Realität ist eine andere als der Diskurs der Politik über die Schlepper-Mafia. Der ist stark vereinfacht und soll davon ablenken, auf welch unterschiedliche Art Menschen die Grenzen überqueren. In Nordmarokko haben sich Migrant:innen zusammengeschlossen, kauften ein Schlauchboot und stachen damit in See. Eine ähnliche Selbstorganisation gab es auch bei den Migrant:innen, die versucht haben, die Grenzanlagen der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla zu über­winden. Die meisten der Leute, die aus Algerien ablegen, sind junge Al­ge­rier:in­nen, die sich zusammen Fischerboote nehmen.

»Wer weiß, vielleicht wird die EU einmal für diese Verbrechen, die unentwegt an den Grenzen begangen werden, zur Rechenschaft gezogen.«

Da die Migrationsrouten gefährlicher und schärfer überwacht werden und immer mehr Geld an diktatorische Drittstaaten fließt, steigt aber auch die Bedeutung der organisierten Kriminalität. Die EU-Politik nährt mit ihren Maßnahmen eben diese kriminellen Gruppen, beide Seiten profitieren voneinander. Mit den bewaffneten Gruppen in Libyen geht die EU auch Geschäftsbeziehungen ein. Seit vielen Jahren gibt es vorgeblich den Kampf gegen diese organisierte Kriminalität und trotzdem wächst sie weiter.

Unlängst erst hat das spanische Verfassungsgericht den Fall der sogenannten Tragödie von Tarajal* im Februar 2014 in Ceuta wiederaufgenommen. Wie kam es dazu?
Wir arbeiten seit über neun Jahren mit anderen NGOs an dem Fall und unterstützten die Familien der Opfer. Das Verfassungsgericht hat die von uns eingereichte Petition aufgegriffen, die Familien anzuhören. Im bisherigen Verfahren, das ad acta gelegt worden war, hatte man ihnen nie die Möglichkeit gegeben, sich zu äußern oder als Nebenkläger aufzutreten. Die Familien und Überlebenden fordern nun Entschädigung, im September wird dar­über entschieden. Die Leichen sollen auch endlich von den Familienangehörigen selbst identifiziert werden.

Die »Tragödie von Melilla« vom Juni 2022 ist auch noch nicht geklärt.
In diesem Fall sind wir mit vier anderen NGOs Mitkläger, die Klage wurde am Gericht von Melilla angenommen. Wir hoffen darauf, dass die zuständige Richterin auch die Überlebenden und Familien der Opfer anhört. Es sind für die Angehörigen immer lange und schmerzhafte Verfahren. Wir haben von den Familienangehörigen viel gelernt. Mir sagte eine Mutter eines Opfers, dass die Geduld einer Mutter einfach unendlich ist. Sowohl ein Vater als auch eine Mutter eines Opfers sind bereits verstorben, die weitere Auf­klärung fordern nun deren Kinder für ihre toten Geschwister. Und wer weiß, vielleicht wird die EU einmal für diese Verbrechen, die unentwegt an den Grenzen begangen werden, zur Rechenschaft gezogen.
 

Helena Maleno Garzón

Helena Maleno Garzón

Bild:
Caminando Fronteras

Helena Maleno Garzón ist eine spanisch-marokkanische Menschenrechtlerin, Journalistin, Schriftstellerin und Forscherin sowie Mitgründerin und Leiterin der NGO Caminando Fronteras (Grenzen überschreiten). Seit 2001 arbeitet sie am westlichen Abschnitt der europäisch-afrikanischen Seegrenze, wo sie Menschenrechtsverletzungen anprangert und subsaharische Migrant:innengruppen unterstützt. Über die rund um die Uhr erreichbare Seenotruf-Telefonnummer hat Caminando Fronteras nach eigenen Angaben geholfen, über 197.000 Menschen das Leben zu ­retten. Maleno bekam Morddrohungen und wurde 2014 in Tanger von einem mit Macheten bewaffneten Mob angegriffen. Sie beklagt, aufgrund ihrer Arbeit kriminalisiert zu werden. Ein Gerichtsverfahren gegen sie, das auf Anschuldigungen der spanischen Nationalpolizei beruhte, hat das spanische Nationale Gericht 2016 ein­gestellt. Die Strafakten wurden aber nach Marokko geschickt, wo Maleno 2017 vom Berufungsgericht in Tanger wegen »Menschenhandels und Förderung illegaler Einwanderung« angeklagt wurde. 2019 stellte das Gericht das Verfahren gegen sie ein. 2021 wurde sie trotzdem aus Marokko nach Spanien abgeschoben.
 

* Bei der »Tragödie von Tarajal« von 2014 ertranken 15 Menschen beim Versuch einer Gruppe von etwa 200 Menschen aus dem subsaharischen Afrika, schwimmend vom Strand von Tarajal in Marokko in die spanische Enklave Ceuta zu gelangen. Die Guardia Civil versuchte, das zu vereiteln und feuerte Gummigeschosse, Tränengas und Platzpatronen auf sie. Bei der »Tragödie von Melilla« versuchten am 24. Juni 2022 bis zu 2.000 Menschen, größtenteils sudanesische Asylsuchende, von Marokko aus in die spanische Enklave Melilla zu gelangen. Marokkanische und spanische Beamte setzten Gummigeschosse und Tränengas ein, warfen aber auch große Steine auf die Migranten. Mindestens 23 Menschen starben. Menschenrechtsorganisationen beklagen, dass die Umstände ihres Todes nicht untersucht worden seien; ein Jahr später hätten demnach noch immer Menschen in den Leichenhallen in Marokko gelegen.   mh