Montag, 09.01.2017 / 22:17 Uhr

Mangelnde Staatsferne, zweiter Akt

Von
Detlef zum Winkel

Das Bundesverfassungsgericht hat einen Termin angesetzt. Am 17. Januar wollen die Richter ihr Urteil über den Verbotsantrag des Bundesrats gegen die NPD verkünden. Die Länderkammer hatte den Antrag im Dezember 2013 gestellt. Anders als im ersten Verfahren gegen die Partei, das zehn Jahre zuvor gescheitert war, schlossen sich Bundesregierung und Bundestag dem Vorgehen nicht an.

Im Jahr 2003 hatte das BVerfG nicht in der Sache geurteilt, sondern bereits die Eröffnung des Verfahrens abgelehnt. In führenden Positionen der NPD seien zu viele V-Leute des Verfassungsschutzes vertreten; daher sei es nicht möglich, staatlich veranlasste Aktivitäten und genuine Aktivitäten der Partei auseinanderzuhalten. Für diese Gemengelage prägten die Richter den Begriff der „mangelnden Staatsferne“. Mit mathematischer Präzision heißt das: Wenn A nicht weit entfernt von B ist, dann ist auch B nicht weit entfernt von A. Willentlich oder unwillentlich ist damit nicht nur die Geschichte dieser Partei, sondern auch das Verhältnis der bundesdeutschen Politik zum Nazierbe beschrieben.

Die Innenminister des Bundes und der Länder versprachen Besserung und zogen ihre Agenten aus den NPD-Vorständen, sicher nicht aus der Partei, zurück. Damit war der Weg frei für einen zweiten Anlauf. Neue Anlässe, darunter die jahrelange NPD-Mitgliedschaft des NSU-Angeklagten Ralf Wohlleben und einiger wichtiger NSU-Unterstützer, führten dazu, dass der Bundesrat einstimmig – bei einer Enthaltung durch das Bundesland Hessen – einen neuen Antrag stellte, den die Karlsruher Richter dieses Mal nicht zurückwiesen. Jetzt kommt es also zu einer Entscheidung über die Verfassungsfeindlichkeit der NPD.

Doch drei Wochen, bevor sie gefallen sein wird, erlöst uns die Bundesregierung von der angespannten Erwartung. „NPD-Verbot vor dem Aus“ verkündete die „Bild“ am 30.12.16 und berief sich auf eine „interne Einschätzung“ der Regierung. Die NPD habe durch ausbleibende Wahlerfolge „nicht die Schwelle zur Gefährdung überschritten“ und sei weit davon entfernt, „entscheidenden Einfluss“ auf die öffentliche Ordnung ausüben zu können. Außerdem müsse man auch die europäische Rechtsprechung berücksichtigen. Tags darauf rauschte die Nachricht durch den Blätterwald, „Bundesregierung rechnet nicht mit NPD-Verbot“, „NPD-Verbot droht zweite Pleite“, „unwahrscheinlich“, „wird wohl nicht kommen“, „zu unbedeutend für ein Verbot“ usw. Die Urlaubsbesetzung des Innenministeriums dementierte: Ein solches Papier sei im Haus nicht bekannt und seine Existenz würde auch dem gebotenen Respekt vor dem höchsten Gericht widersprechen. Doch das nützte nichts: Die mediale Öffentlichkeit nimmt die unbestätigte Meldung für bare Münze und erklärt das Urteil, noch bevor es verkündet ist. Eben das wollte die Publikation lancieren: das Gericht steht unter Druck.

Der außergewöhnliche Vorgang zeigt, welche heftigen politischen Interessen mit dem Thema, das scheinbar so unwichtig ist, verbunden sind. Eine starke, einflussreiche Fraktion will die Feststellung der Verfassungsfeindlichkeit einer mutmaßlichen Nazipartei unbedingt verhindern. Dabei bildet der Verfassungsschutz die Spitze des Eisbergs. Er füttert Entscheider, Abgeordnete und Multiplikatoren mit Einschätzungen und Analysen, die der aktuellen Veröffentlichung zum Verwechseln ähneln. Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren es Geheimdienstler selber, die in den Jahren 2002 und 2003 einige V-Leute bekannt machten, um das erste NPD-Verbotsverfahren gegen die Wand zu fahren. Das geht aus Darstellungen von MitarbeiterInnen der damaligen Schröder/Fischer-Regierung hervor. Weniger bekannt ist, dass sogar der ehemalige VS-Präsident Heinz Fromm an seinen eigenen Leuten scheiterte, weil er andere, sozusagen amtsferne Ansichten zum Thema Rechtsextremismus und zum NPD-Verbot vertrat: „Entscheidend ist grundsätzlich nicht die akute Gefährdung des Systems. Das Prinzip der wehrhaften Demokratie bedeutet, dass frühzeitig gegen verfassungsfeindliche Tendenzen vorgegangen werden kann. In der Vergangenheit sind zahlreiche, mitunter sehr kleine Organisationen verboten worden. Es geht um die Frage der Verfassungsfeindlichkeit und nicht darum, ob eine extremistische Organisation im Parlament vertreten ist.“

Das Argument, die NPD sei zu schwach, um ernst genommen zu werden, ist absurd, wenn in jedem Jahresrückblick über das Anwachsen von Populismus, Rassismus und Nationalismus geklagt wird und wenn selbst bürgerliche und zum Teil konservative Kreise das Gefühl bekennen, unweigerlich an das Aufkommen des Nationalsozialismus erinnert zu werden. Will man uns wirklich weismachen, dass diese Prozesse mit einem Niedergang des NS und seiner Organisationen einhergehen? Und das vor allem in seinem Ursprungsland? Das Argument, die NPD gefährde die öffentliche Ordnung nicht oder zu wenig, ist zynisch angesichts von 921 Anschlägen auf Flüchtlingsheime im letzten Jahr. Wer sind denn die Leute, die das planen, verabreden, koordinieren, machen? Die Richter haben zu entscheiden, ob eine Partei, die Pogrome propagiert, staatsfern oder staatsnah ist, ob sie von der Verfassung geschützt oder verboten wird. Sie würden das Thema verfehlen, wenn sie sich in Einschätzungen übten, ab wann die täglichen Gewalttaten von Nazis ausreichen, um die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. 2000 Anschläge pro Jahr? Oder erst ab 5000?

Schließlich fragen einige kluge Köpfe, welchen Sinn ein NPD-Verbot mache, wenn die weit bedeutendere AfD unbehelligt bleibt. Die Antwort lautet: Es macht Sinn, einen Zaunpfahl zu nehmen, ihn vor den Herren Gauland, Bachmann und Elsässer zu implementieren und klarzumachen, dass diese Grenze ab sofort kontrolliert wird. Das wäre ein Handeln, das die Überschrift wehrhafte Demokratie verdient.