Dienstag, 13.11.2018 / 12:27 Uhr

»Wenn das die Deutschen wüssten«

Von
Volker Weiß
böse bücher

Unauslöschlich zu sein scheint der Mythos, »… dass die Deutschen, hätten sie ›Mein Kampf‹ wirklich gelesen, so einen Idioten wie Hitler niemals gewählt hätten.« Zumindest meint ein Frédéric Schwilden in der Welt am Sonntag unter dem Titel »Ich habe die bösen Bücher gelesen« diese Behauptung zu Papier bringen zu müssen. Fragt sich nur, woher der Journalist weiß, dass keiner von »den Deutschen« »Mein Kampf« gelesen hat. Das Buch war schon vor dem Januar 1933 mit fast einer Viertelmillion Exemplaren ein Bestseller. Anschließend wurde er in bibliophiler Aufmachung oder als Volksausgabe systematisch unter die Leute gebracht. Glaubt Schwilden ernsthaft die Mär vom unbekannten Hitler, weil man es nach 1945 behauptete?

In einem Reigen sinnloser Kommentare dürfte Schwildens Einlassung wohl der Tiefpunkt gewesen sein. Denn die »Stokowski-Lehmkuhl-Debatte« war nichts als künstliche Erregung.

Schwildens »Sie wussten ja von nichts« ist Unsinn. Ob vor den März-Wahlen 1933 oder danach, die Nationalsozialisten hielten nie mit ihrer Weltanschauung hinterm Berg. Um diese Gedankenwelt kennenzulernen, musste man nicht »Mein Kampf« lesen. Für die brachiale Variante der Hitler’schen Weltanschauung konnte man auch in den Völkischen Beobachter schauen, im Stürmer blättern oder sich an einen der vielen öffentlichen Stürmer-Schaukästen ergötzen.

Daneben gab es NS-Ideologie in allen Fassungen, von trivial bis elaboriert, von Volk im Werden oder den Nationalsozialistischen Monatsheften, der Illustrierten Signal oder der NS-Frauenwarte. Man konnte auch die diversen Verordnungen zum Reichsbürgergesetz beachten, die neuen Regelungen für diverse Berufe oder für die Eheschließung (bei der dann mitunter im Standesamt »Mein Kampf« als Hochzeitsgabe

überreicht wurde). Sie konnten dem Radioprogramm lauschen, ins Theater gehen, ins Kino, Plakate lesen, überall gab es Weltanschauung, dick aufgetragen oder in bekömmlichen Dosen. Dank der Schulungen auf Heimabenden von HJ und BDM waren alle Altersstufen informiert. Den Rest erledigten Arbeitsdienst, NS-Kraftfahrerkorps, NS-Frauenschaft etc.

»Die Deutschen« wussten ziemlich genau, was im Kopf ihres »Führers« vorging. Sie trugen die Uniformen und Abzeichen seiner »Bewegung«, traten massenhaft in seine Organisationen ein und sparten auf den KdF-Wagen. Später schrieben sie Briefe, um an das Eigentum ihrer jüdischen Nachbarn zu kommen und schickten Päckchen mit Diebesgut aus den eroberten Gebieten. Und nun meint Schwilden zu wissen, das alles wäre nicht passiert, hätten sie mal gewusst, was für ein »Idiot« Hitler war. Das ist seltene Unbedarftheit in der Pose des Popjournalismus.

Natürlich zielte Schwildens Text auf die Absage der Lesung von Margarete Stokowski in der Münchner Buchhandlung Lehmkuhl. Der Autor hat das Geschäft sogar ganz investigativ besucht und die »rechten Bücher«, an denen sich die Kolumnistin dort gestört hatte, wirklich in die Hand genommen. Hitler ist in dieser Erzählung quasi die Krönung der Argumentation, warum »rechte« Literatur überall zu kaufen sein sollte. Denn, so die Pointe, hätten die Deutschen »Mein Kampf« gelesen, wäre schon damals alles anders gelaufen. Deswegen soll sich Stokowski heute mal nicht so haben, wenn irgendwo der Sieferle und der Kubitschek rumstehen.

In einem Reigen sinnloser Kommentare dürfte Schwildens Einlassung wohl der Tiefpunkt gewesen sein. Denn die »Stokowski-Lehmkuhl-Debatte« war nichts als künstliche Erregung. Der »Skandal« ernährte sich vollkommen selbst.

Eigentlich ist es nämlich banal: die Buchhandlung Lehmkuhl kann sich in ihre Regale stellen, was sie will, Stokowski kann Lesungen zu- und absagen, wie sie will.

Es ist allerdings bemerkenswert, dass diejenigen, die Stokowski vorhalten, sie habe die Auslage des Buchhändlers zu akzeptieren, selbst nicht in der Lage sind, ihre Entscheidung zu akzeptieren. Sie hat die Absage ja nicht einmal selbst öffentlich gemacht. Dagegen haben nun alle, die Stokowski vorhalten, den Rechten durch ihre Haltung Aufmerksamkeit zu bescheren, mit ihren Heißluftbeiträgen nun selbst ein Vielfaches davon generiert.

Ständig wird diskutiert, was man gegen das Erstarken der Rechten tun könne, was »die Medien« anders machen sollten. Vor allem sollten sie aufhören, solche Scheindebatten zu führen.