Freitag, 08.01.2021 / 18:00 Uhr

Erhebung auf der Erhebung

Von
Mike Davis

Die gestrige "Entweihung" unseres Tempels der Demokratie – ach, du arme besudelte Stadt auf dem Hügel, etc. – lässt sich nur im Sinne einer schwarzen Komödie als „Aufstand“ darstellen. Im Grunde war das eine als Zirkusdarsteller verkleidete und mit Kriegsüberschusswaren ausgestattete Biker-Gang – einschließlich des als Bison posierenden Typen mit dem bemalten Gesicht, dem Fellmantel und den Hörnern – die den ultimativen Country Club stürmte, sich auf dem Thron von Pence breitmachte, Senatoren in die Kanalisation jagte, ungezwungen in der Nase bohrte und Akten durchwühlte, insbesondere aber unzählige Selfies für die zuhause gebliebenen Kumpels schoss. Ansonsten waren sie total unbedarft. (Die Ästhetik war Buñuel und Dali pur: "Wir gingen nach einer einfachen Regel vor: kein Gedanke oder Bild, welches sich irgendeiner rationalen Erklärung erschloss, wäre akzeptabel.")

Und dann passierte unerwartet Profundes: Ein Deus ex machina bannte den Fluch Trumps, der auf den Karrieren konservativer Kriegsfalken und rechter Junglöwen lag und deren Ambitionen bis gestern noch durch den Kult um den Präsidenten gehemmt worden waren. Dies war das Signal für einen langersehnten Gefängnisausbruch. Das Wort "surreal" ist schnell zur Hand, trifft aber genau die überparteiliche Orgie der gestrigen Nacht, in der die Hälfte jener im Senat, die Bidens Wahlsieg geleugnet hatten, dessen Aufruf zur "Rückehr zur Anständigkeit" aufgriff und große Mengen widerlichster Frömmelei herauswürgte.

Um es klar zu sagen: Die republikanische Partei hat gerade eine irreparable Spaltung durchgemacht. Nach dem Führerprinzip-Standard des Weißen Hauses sind Pence, Tom Cotton, Chuck Grassley, Mike Lee, Ben Sasse, Jim Lankford und sogar Kelly Loeffler von nun an Verräter, sie stehen auf der anderen Seite. Ironischerweise erlaubt ihnen gerade das, ernstzunehmende Präsidentsschaftsanwärter in einer Partei zu werden, die nach Trump weiterhin rechtsaußen stehen wird. Seit den Wahlen und hinter den Kulissen haben das Big Business und viele republikanische Megasponsoren ihre Brücken zum Weißen Haus abgebrochen, als sensationellstes Beispiel dafür darf die superrepublikanische Institution der National Association of Manufacturerers (NAM) gelten, die gestern Pence aufforderte, Trump unter Anwendung des 25. Zusatzartikels der Verfassung abzusetzen. Selbstredend waren sie in den ersten drei Jahren des Regimes mehr als glücklich über die kolossalen Steuersenkungen, die umfassenden Rollbacks der Umweltschutzbestimmungen und Arbeitnehmerrechte sowie dem Meth-befeuerten Aktienmarkt. Aber im Laufe des letzten Jahres setzte sich unvermeidbar die Erkenntnis durch, dass das Weiße Haus nicht fähig ist, schwere Krisen erfolgreich zu bewältigen und für grundlegende Stabilität in Wirtschaft und Politik zu sorgen.

Das Ziel ist eine Neuordnung der Macht innerhalb der Partei mit traditionelleren Interessensgruppen des Kapitals wie NAM und dem Business Roundtable sowie der Familie Koch, die mit Trump nie so recht konnte. Man sollte sich jedoch nicht der Illusion hingeben, dass plötzlich die "gemäßigten Republikaner" wieder dem Grab entstiegen seien. Das sich nun abzeichnende Projekt wird die Kernallianz zwischen christlichen Evangelikalen und Wirtschaftskonservativen bewahren und voraussichtlich den Großteil der in der Trump-Ära verabschiedeten Gesetze verteidigen. Institutionell werden die Republikanern im Senat die Führung übernehmen, mit einer starken Riege von jungen Talenten, die im erbarmungslosen Selektionskampf (insbesondere im Kampf um die Nachfolge von McConnell) einen Generationswechsel und eine Verjüngung herbeiführen werden, lange bevor bei den Demokraten die Oligarchie der Achtzigjährigen das Feld geräumt haben wird. (Der Hauptkampf im republikanischen Lager nach Trump wird in den nächsten Jahren wahrscheinlich auf die Außenpolitik und den neuen kalten Krieg mit China konzentriert sein.)

Soweit zur einen Seite der Bruchstelle. Die andere ist dramatischer: die wahren Trumpisten sind de facto zu einer dritten Partei geworden, die sich im Repräsentantenhaus gut verschanzt hat. Da Trump sich erbitterten Rachegelüsten hingibt, wird eine Aussöhnung der zwei Lager wohl unmöglich sein, obwohl es vereinzelt Überläufer geben mag. Mar-a-Lago wird zum Basislager des Trumpschen Todeskults avancieren, von wo aus eingefleischte Anhänger weiterhin im Vorwahlkampf zur Terrorisierung von Republikanern mobilisiert werden und sichergestellt wird, dass sich ein großes, zum harten Kern gehörendes Kontingent im Repräsentantenhaus und in den von Republikanern regierten Bundesstaaten hält. (Republikaner im Senat sind mit ihren Zugang zu enormen Wahlspenden von Unternehmen weniger anfällig für solche Herausforderungen.)

Morgen mögen uns liberale Koryphäen versichern, dass die Republikaner Selbstmord begangen haben, dass das Zeitalter Trumps vorbei ist und die Demokraten kurz davor stehen, die Hegemonie wieder zu erlangen. Ähnliche Stellungsnahmen waren freilich schon bei den republikanischen Vorwahlen 2015 abgeben worden. Damals klang das alles sehr überzeugend. Aber ein offener Bürgerkrieg unter den Republikanern würde den Demokraten wohl höchstens kurzzeitige Vorteile bescheren, deren eigene Zerrissenheit durch Bidens Weigerung, die Macht mit dem progressiven Lager zu teilen, vertieft worden ist. Befreit von Trumps elektronischen Fatwas könnten sich zudem manche der jüngeren republikanischen Senatoren als weit formidablere Konkurrenten im Kampf um die Stimmen der weißen Hochschulabgänger in den Vororten erweisen, als es zentristischen Demokraten bewusst ist. Wie dem auch sei, die einzige Zukunft, die sich mit Gewissheit voraussagen lässt – das Andauern extremer sozioökonomischer Turbulenzen – macht politische Kristallkugeln nutzlos.

 

Erstveröffentlichung am 7. Januar 2021 auf dem Blog der Zeitschrift New Left Review

Mike Davis, Riot on the Hill — Sidecar (newleftreview.org)

Übersetzung: Johannes Weinkirn