Mittwoch, 13.09.2023 / 15:50 Uhr

Priester, Puszcza und Piroggen: Von Gänsen und Gurken

Von
Jörn Schulz
Pipa arbeitet
Bild:
Archiv 2. Juni

                                                                                                                                                                                                                                   Viele Nationen haben einen Vogel. Doch obwohl es mehr als 11 000 Vogelarten gibt, zeigt man in den meisten Ländern bei der Auswahl eines Wappentiers für die Flagge erschreckend wenig Phantasie. Als lobenswerte Ausnahme kann hier Papua Neu-Guinea gelten, das sich für den Paradiesvogel entschied; die Flagge Ugandas ziert ein Kronenkranich und und Dominica wählte den Papagei. Ansonsten aber: Adler, Adler, Adler – so auch auf Polens Staatsflagge. In Zeiten, da Staaten sich als Wettbewerber auf einem globalen Markt verstehen, ist das eigentlich nicht mehr zeitgemäß. Welches Unternehmen würde sich der Kundschaft als Raubtier präsentieren, das lauernd am Himmel kreist und gierig herabstürzt, sobald es Beute erspäht?

Warum nicht mal eine Gans? Polen befindet sich derzeit im Gänsefieber, das auch die Jungle-Reisegruppe angesteckt hat. Es geht dabei nicht um irgendeine Gans, sondern um Pipa, die nun in unzähligen Plüschvarianten zum Verkauf angeboten wird. Könnte die Gans nicht den Adler ersetzen? Den Militarist:innen kann man ja erklären, dass Gänse nicht nur zuverlässig vor Invasoren warnen, sondern kampfstärker sind, als gemeinhin angenommen wird. Obwohl von der Natur benachteiligt, können sie sich sogar im Duell mit einem Adler behaupten, sie attackieren sogar hin und wieder einen.

Leider hatten wir keine Gelegenheit, diese Idee mit der hiesigen Staatsführung zu diskutieren, obwohl wir ihr näher gekommen sind als auf sonstigen Auslandsreisen. Genau genommen ist sie uns näher gekommen, denn die Kirche, in der alljährlich der Gedenkgottesdienst für die Opfer des Flugzeugabsturzes von Smolensk 2010 abgehalten wird, befindet sich direkt vor einer unserer Wohnungen. Kaczyński und Morawiecki waren anwesend, aber es war zu spät, um sich noch auf die Gästeliste zu schummeln.

Die Jungle-Wohnungen liegen in der Altstadt, die auch ein Touristenviertel ist. Das hat den Vorteil, dass es hier eine Unmenge von Restaurants gibt und man auch zu später Stunde noch Piwo erwerben kann. Aber unweigerlich finden sich in so einer Gegend auch Straßenmusiker:innen ein, deren Kunst nicht immer hohen ästhetischen Ansprüchen genügt. Und man kann das ganz besondere Pech haben, dass jemand unmittelbar vor der Haustür stundenlang zwei sehr kurze Lieder intoniert, deren einziger Text aus „Gurke“ und „Was sagt der Papa“ besteht. Schon ist sie da, die autoritäre Versuchung: Haben die Münchner und Brüsseler, die solche Leute erstmal eine Qualitätsprüfung ablegen lassen, womöglich recht?

Unweigerlich geht es in Warschau auch um wesentlich ernstere Themen. Unsere Wohnungen befinden sich in der Nähe des ehemaligen Warschauer Ghettos. Gedenkpolitik ist immer auch Gegenwartspolitik und Deutungshoheit, schon die Platzierung eines Gedenksteins kann eine Überschreibung und Machtdemonstration sein. Über die Debatten in dieser Hinsicht werden Sie am 22. September mehr erfahren, an dieser Stelle sei nur eine merkwürdige Denkmalsetzung erwähnt.

Anlässlich des 30. Jahrestags des Kniefalls Willy Brandts wurde 2000 ein an eben jenen Kniefall erinnerndes Denkmal enthüllt, im Beisein von Gerhard Schröder und Günter Grass (immerhin nicht Walser). Der Kniefall kann als respektabelste Handlung der deutschen Außenpolitik gelten, ungeachtet des nicht in jeder Hinsicht unproblematischen realpolitischen Hintergrunds. Aber dafür gleich ein Denkmal auf dem Gelände des POLIN Museum of the History of Polish Jews? Besser wäre es vielleicht vor dem bayerischen Landtag aufgehoben.

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