Mittwoch, 30.09.2020 / 14:02 Uhr

Derby in der falschen Liga

Von
GM
Bruno-Plache-Stadion: Rotweißes Flatterband im Wind, das an schmalen Plastikstäben befestigt ist, die ihrerseits in unzähligen mit Sand gefüllten Eimerchen stecken

Bruno-Plache-Stadion: Rotweißes Flatterband im Wind, das an schmalen Plastikstäben befestigt ist, die ihrerseits in unzähligen mit Sand gefüllten Eimerchen stecken

Bild:
instagram.com/picke.graetsche.aus
Die Kunstrasenhalle mit Wandbild auf dem Gelände des Bruno-Plache-Stadions in Probstheida

Die Kunstrasenhalle mit Wandbild auf dem Gelände des Bruno-Plache-Stadions in Probstheida

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GM / instagram.com/picke.graetsche.aus

Für die beiden sächsischen Traditionsclubs Lokomotive Leipzig und Chemnitzer FC könnte der Alltag in der Regionalliga Nordost trister kaum sein. Erinnerungen an bessere Zeiten, anlässlich des 1:1-Unentschieden am 6. Spieltag.

Als ich das letzte Mal ein Heimspiel des 1. FC Lokomotive Leipzig im Bruno-Plache-Stadion besuchte, muss ich so um die acht Jahre alt gewesen sein. Es war jene Zeit, in der die Mannschaft ihre größten Erfolge feierte, 1986 und 1987 zwei aufeinanderfolgende FDGB-Pokalsiege, in der Saison 1985/86 der einzige Meistertitel zum Greifen nah und im Nachhinein aus Sicht vieler Lok-Fans unter anderem vereitelt vom bis heute bekannten „Schand-Elfmeter von Leipzig“, den der BFC Dynamo im direkten Duell in der 94. Minute zum Ausgleich nutzte. Die zwei Punkte fehlten Lok am Ende zwar in der Tabelle, jedoch hatten die Leipziger auch ein schlechteres Torverhältnis. Nicht zu vergessen das Erreichen des Finales im Europacup der Pokalsieger im darauffolgenden Jahr. Das Elfmeterschießen im Zentralstadion vor geschätzten 100.000 Zuschauern, Torwart René Müller, der den entscheidenden Elfmeter zum 6:5 selbst verwandelte. Und ich als kleiner Lok-Fan mittendrin. Schließlich die knappe Niederlage gegen Ajax in Athen.

Nach dem Zusammenbruch der DDR entfremdete ich mich vom Fußball und die einzigen Berührungspunkte mit dem Club, der in dieser Zeit wieder VfB Leipzig hieß, waren die Neonazi-Hools, vor denen es in den #Baseballschlägerjahren galt, sich in Sicherheit zu bringen.

Mehr als 30 Jahre später stehe ich wieder im Stadion in Probstheida, zur Regionalligapartie der Blau-Gelben gegen den Chemnitzer FC. Bis auf die in frischem blau-gelb gestrichene Tribüne ist der Charme der Achtziger in der DDR-Oberliga hier immer noch konserviert, freilich ohne die dazugehörigen Zuschauermassen mit Vokuhilas und Jeanskutten. Es gibt nach wie vor die kampfsportaffinen, tätowierten Schlägertypen im Stadion, es gibt immer noch rassistische und homophobe Pöbeleien auf den Rängen, was zuletzt beim Spiel gegen Hertha in der Vorsaison wieder öffentlich wurde. Doch inzwischen gelingt es auch den Ultras verstärkt, Einfluss auf die Stimmung auszuüben. Sie positionieren sich gegen Rassismus und Diskriminierung, vertreten dies nach außen und erhalten dafür öffentlich Rückendeckung vom Verein, der seinerseits inzwischen offensiver mit dem Thema umzugehen scheint.

Ein mutiger Weg, den auch Dynamo Dresden seit Jahren konsequent geht. Dort kann man sehen, dass dies, bei allen Rückschlägen, durchaus erfolgreich ist. Angesichts jahrelang gefestigter extrem rechter Strukturen im Umfeld von Lok wird dies allerdings vermutlich ein sehr langer Weg mit vielen Hindernissen sein. Beim CFC hingegen war in den vergangenen Jahren leider eher zu beobachten, wohin Leugnen, Wegsehen oder gar offene Kumpanei mit Neonazis führen können.

Zurück zum Sportlichen: Das extrem knappe Scheitern begleitet Lok bis heute. Exemplarisch zu sehen an diesem Sachsen-Derby: Lok fehlte nur ein einziger Treffer in den Aufstiegsspielen der Vorsaison (oder ein Torwartfehler weniger), die Gäste aus Chemnitz hätten wiederum nur zwei Tore mehr erzielen müssen, und dieselbe Paarung wäre in der 3. Liga angepfiffen worden. Doch Chemnitz stieg ab und Lok verpasste die Chance, das erste Mal seit Jahrzehnten wieder in den Profifußball zu kommen.

Vielleicht liegt es daran, dass bei dieser für die Liga recht attraktiven Ansetzung nicht die gesamten angebotenen über 3.600 Plätze besetzt sind. Bei Lok herrscht unter dem ambitionierten neuen Trainer und Sportdirektor Almedin Čiva zwar schon wieder so etwas wie trotzige Aufbruchstimmung, realistischerweise dürfte es aber sehr schwer werden, in dieser starken Liga so bald die erneute Chance zum Aufstieg zu erhalten.

Die Himmelblauen stecken ihrerseits tiefer denn je im Chaos um ihre Insolvenz und Grabenkämpfen zwischen Fans, Verein und dem ehemaligen Insolvenzverwalter. Mit der Situation des CFC werden wir uns später in der Saison noch intensiver befassen.

Während sich die Ränge langsam füllen, schießen sich die Chemnitzer Spieler auf dem Platz zu Hits wie „Lambada“ und „Cotton Eye Joe“ warm. Das Hygienekonzept sieht personalisierte Tickets und zugewiesene Plätze vor, zwischen den Reihen weht rotweißes Flatterband im Wind, das an schmalen Plastikstäben befestigt ist, die ihrerseits in unzähligen mit Sand gefüllten Eimerchen stecken. Das alles heranzukarren und aufzubauen muss eine echte Fleißarbeit gewesen ein und sieht auf jeden Fall ziemlich putzig aus.

Der Spielbeginn beendet die Einlaufmusik, die kaum feierliche Stimmung aufkommen ließ, nun herrscht ein allgemeines Gemurmel. Ein paar vereinzelte Versuche: „L-O-K“ anzustimmen, werden kaum aufgenommen. Wie bei den meisten Spielen, bei denen Rivalitäten vermutet werden, die Fanmischung unmöglich machen, sind auch hier keinerlei Gästefans anwesend. Es dauert sehr lange, bis das erste Mal so etwas wie ein Fangesang zu hören ist. Die Ultras von „Blue Side“ erklären das in ihrem Fanzine, das sie an einem eigenen Stand im Stadiongelände verkaufen, so: „Was in dusseligen TV-Shows perfekt inszeniert werden kann, lässt sich auf die Realität nur schwerlich übertragen. Das kann wohl jeder bestätigen, der versucht, länger als fünf Minuten mit einer Maske zu singen. Dennoch wird trotz all dieser Widrigkeiten auch heute zumindest das eine oder andere Raunen, empörte Aufschreie und auch der eine oder andere Schlachtruf durch das Rund hallen.“

Es setzt sich also fort, was auch an zahlreichen anderen Spieltagen und auf anderen Plätzen zu beobachten war. Die Stimmung passt sich durch die Maßnahmen und die Anzahl der Fans zunehmend dem Spielgeschehen an und unterscheidet sich zeitweise nicht von einem Auswärtsspiel von Bischofswerda bei Optik Rathenow. Es hat durchaus seine Vorzüge, auch einmal auf stumpfe Dauergesänge bei ödem Gekicke zu verzichten, andererseits hat ohrenbetäubender Lärm in einem in Rauch und Feuer gehüllten Stadion natürlich auch etwas für sich. In diesem Spiel gibt es tatsächlich Momente, in denen im ganzen Stadion absolute Stille herrscht.

Doch der Mannschaft von Lok gelingt es, die Zuschauer durch druckvolles Spiel mitzureißen. Immer öfter werden Wechselgesänge angestimmt, an denen sich auch die Ultras beteiligen, die ansonsten eher ihr eigenes Ding machen. Noch in der ersten Hälfte gelingt es den Leipzigern, in Führung zu gehen, sodass in der Pause die blaugelbe Welt in Ordnung ist.

In den verschiedenen, manchmal sehr schlagerlastigen Pausensongs aus den Boxen wird durchgehend die Liebe zum 1. FC Lok besungen, während wieder nur Chemnitzer trainieren, dann geht es nach dem inzwischen obligatorisch getrennten Einlaufen der Mannschaften in die zweite Hälfte, die wesentlich hektischer und ruppiger geführt wird. Immer häufiger gibt es Fouls, Unterbrechungen und Beschimpfungen zwischen den Spielern und von den Rängen, was durch Schiedsrichterentscheidungen noch angefacht wird.

Höhepunkt ist ein schon in der Entstehung umstrittener Freistoß für Chemnitz in aussichtsreicher Position, der, während der Leipziger Torhüter die Mauer noch stellt, vom Chemnitzer Christian Bickel ins leere Tor verwandelt wird. Der Berliner Schiedsrichter Rasmus Jessen, der vorher in ähnlichen Szenen sehr penibel agierte, lässt den Treffer gelten. Fans und Spieler der Leipziger reagieren darauf mit wütenden Protesten, Pfiffen und Fassungslosigkeit. Eine spielerische Antwort bleibt aus. Die Stimmung ist im Keller, direkt nach Abpfiff leert sich das Stadion in wenigen Minuten, die Mannschaft dreht ihre Dankesrunde vor fast leeren Rängen.

Hätte Lok mit einem Sieg den Anschluss zur Spitze wenigstens theoretisch halten können, ist diese nun in weite Ferne gerückt, zumal die Mannschaft in der englischen Woche in Rathenow erneut durch einen späten Gegentreffer zwei Punkte liegen ließ, und zuletzt gegen Cottbus ebenfalls nur ein Unentschieden erreichte. Und das alles, während Spitzenreiter Viktoria Berlin einfach nicht aufhört, zu gewinnen.

Noch schlimmer steht es allerdings um den Chemnitzer FC. Die Himmelblauen, die noch Jahre nach der Wende immerhin fast als einziger Club den ostdeutschen Fußball in den oberen Ligen vertraten, sind nun, auch Dank zweier weiterer Niederlagen gegen die Berliner Mannschaften BFC Dynamo und Hertha, auch tabellarisch jenseits von Gut und Böse. Oder, um zur Situation des CFC und seiner Fans noch einmal das Fanzine der Leipziger Ultras, den „Bahnwärter” zu zitieren: „Wenn es dir mal wieder richtig scheiße geht, weil Lok schlecht spielt, dann denk einfach daran, dass es Menschen gibt, die Fan vom Chemnitzer FC sind.“