Dienstag, 27.04.2021 / 12:44 Uhr

Unruhen in Jerusalem und „TikTok-Intifada“

Von
Gastbeitrag von Yvette Schwerdt
East Jerusalem
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Nachdem es in Jerusalem zu Ausschreitungen und Übergriffen auf orthodoxe Juden gekommen war, mobilisierten auch rechte Gruppierungen zu Gegendemonstrationen.

 

Ein Jahr lang und mehr herrschte in Israel so ziemlich Ruhe zwischen Juden und Arabern. Alle waren hauptsächlich mit dem eigenen gesundheitlichen und finanziellen Überleben beschäftigt.

Jetzt, nachdem sich die Corona-Krise in Israel ihrem Ende zuneigt, und der Fastenmonat Ramadan begonnen hat, ist der traditionelle Unruheherd wieder aufgeflammt. Letzte Woche kam es in Jaffa und in Jerusalem zu üblen Ausschreitungen. Es scheint, als hätten gleich mehrere Faktoren gleichzeitig zur Eskalation beigetragen.

Da gab es einmal die antisemitischen Angriffe gegen religiöse Juden. So wurden beispielsweise zwei nichtsahnende, im Gespräch-vertiefte Studenten, die an ihrer Kleidung leicht als orthodoxe Juden zu erkennen waren, in der Straßenbahn von einem Palästinenser so hart geohrfeigt, dass ihnen Hut und Brille vom Kopf flog. Als Gipfel der Unwürde hatte ein weiterer Palästinenser das Spektakel vorsätzlich gefilmt und lud das dergestalt-erstellte Video triumphierend auf die trendige Social Media-Plattform TikTok hoch.

Diese und ähnliche Zwischenfälle schienen viele militante, arabische Jugendliche zu amüsieren, die ähnliche Szenen nachstellten und im Internet hochluden, sodass man schon begann, von einer TikTok-Intifada zu sprechen.

UNRWA-Lager als Unruheherd

Laut David Bedein, dem Direktor des Zentrums für Politikforschung im Nahen Osten, ist der Ursprung der Unruhen ausgerechnet in den UNRWA-Camps in Shuafat zu finden. Dort würden sich hunderte Jugendliche versammeln und verkünden, die Straßen Jerusalems wären bald in ihrer Gewalt. Jeden Tag, wenn sie in die Straßenbahn steigen, die sie in zwölf Minuten in die Innenstadt Jerusalems bringen kann, sängen sie, Jerusalem würde bald brennen.

Arabische Gewalt in Jaffa

Auch in Jaffa, der schönen Hafenstadt, die von Juden und Arabern gemeinsam bewohnt wird, kam es zu einem dramatischen Zwischenfall. Rabbiner Eliyahu Mali, der in Jaffa eine Talmud-Schule anführt, wollte sich gemeinsam mit einem Kollegen freie Wohnungen ansehen, die er möglicherweise für seine Jeschiwa kaufen wollte.

Zwei arabische Einwohner der Stadt forderten die beiden Juden auf, zu verschwinden. Als der Rabbiner, der über 60 Jahre alt ist, sich weigerte, begannen die Angreifer ihn brutal zu schlagen und zu treten. Das Ganze wurde auf Kamera festgehalten.

Sperrmaßnahmen am Damaskus-Tor

Von arabischer Seite wird ein anderer Trigger für die gewaltsamen Zwischenfälle genannt. Im Zuge des Ramadan gehen hundert Tausende muslimische Gläubige zum Tempelberg, um dort zu beten. Hernach setzten sich viele gerne auf die Stufen beim Damaskus-Tor am Rande der Altstadt, um sich auszuruhen, zu plaudern oder auch nur den Fasttag ausklingen zu lassen.

In diesem Jahr hat die israelische Polizei den Zugang zum Damaskus-Tor allerdings gesperrt. Ihre Begründung: Man wolle den Gläubigen einen geordneten Zugang zum Tempelberg ermöglichen und dicht-gedrängte Zusammenkünfte aus gesundheitlichen Gründen verhindern. Die arabische Bevölkerung kann diese Begründung allerdings nicht akzeptieren und fühlt sich durch die Sperrmaßnahmen gedemütigt.

Situation schaukelt sich hoch

Gleich welcher der genannten Trigger letztendlich auschlaggebend war, eines steht fest: Viel bedarf es nicht, um das das labile Gleichgewicht in Jerusalem aus der Balance zu bringen, und so hat sich die Situation rasch hochgeschaukelt, obschon von offizieller Seite aus – sprich: von der Regierung und der Polizei – die Unruhen am liebsten totgeschwiegen werden würden.

Am weitesten aus dem Fenster lehnte sich Naftali Bennett, der Chef der Yamina-Fraktion, der von manchen als nächster Premier gehandelt wird. „Der Staat Israel ist kein Schtetl [jüdische Städtchen in Osteuropa vor dem zweiten Weltkrieg, die oft Ziel von Pogromen wurden], in denen Juden Schaden zugefügt werden kann”, erklärte Bennett, der die „vorsätzlichen, antisemitischen Attacken” auf das Schärfste verurteilte. Konkrete Schritte schien aber auch er, gegenwärtig, vermeiden zu wollen.

Gewaltsame Ausschreitungen

Die Bevölkerung aber lässt sich nicht beschwichtigen. Rund um das Damaskus-Tor kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Mittlerweile mischen auch jüdische Demonstranten kräftig mit. Die gemäßigteren unter ihnen tragen Plakate mit der Aufschrift: „Wir lassen uns nicht so einfach unterkriegen.“

Mit härteren Geschützen fährt allerdings die ultrarechte Gruppe Lehava auf. Sie will sich nicht auf den Schutz der Polizei verlassen, und plant Gegenangriffe notfalls selbst durchzuführen. „Anstatt dem Terror einen tödlichen Schlag zu versetzen zeigt die Polizei beispiellose Schwäche, die den Terror nur zusätzlich schürt”, kritisiert Bentzi Gopstein.

Der Lehava-Anführer rief Anhänger letzte Woche zu einer Gegendemonstration mit „israelischer Fahne, viel jüdischem Stolz und ohne Angst“ auf. Viele hundert Anhänger folgten seinem Aufruf, und so kam es denn auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern, die die Polizei mit Kavallerie, Schlagstöcken, Wasserwerfen und Blendgranaten niederzuschlagen suchte.

Regionale Eskalation

Die Unruhen sind nicht nur lokal gefährlich, sie könnten sehr rasch auch weitere Gewaltkreise ziehen. In der Tat haben sich Terrororganisationen in Gaza bereits befugt gefühlt, einzugreifen. Letzten Samstag feuerte die DFLP – ein maoistischer Ableger der PFLP – fast 40 Raketen vom Gazastreifen auf Israel ab, und letzte Nacht wurde Israels Süden erneut angegriffen. Auch der bewaffnete Arm von Mahmud Abbas‘ Fatah-Fraktion bekannte sich zu den Angriffen.

Die Hamas wiederum feuert die Terroristen an und fordert sie auf, „den Finger am Abzug“ zu behalten. Die diversen bewaffneten Gruppierungen sollten „die Reihen schließen“ und die Kämpfer sich weiterhin „in der Altstadt von Jerusalem sammeln und die Gebete in der Al-Aqsa-Moschee aufrechterhalten“, hieß es gestern in einer Erklärung des palästinensischen Ablegers der Muslimbruderschaft.

Vordergründig will die Hamas damit Solidarität mit ihren „muslimischen Brüdern“ bekunden. In Wirklichkeit hat die Terrororganisation aber wohl auch noch andere Beweggründe für die aktuelle Aggressionsrunde.

Bekanntlich sollen im Mai Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Gaza-Streifen und im Westjordanland stattfinden. Die Hamas rechnet sich gegenüber der bislang führenden Fatah-Fraktion gute Chancen aus und will eine Verschiebung der Wahlen unbedingt vermeiden. Der amtierende Präsident Mahmoud Abbas hingegen neigt zu diesem Schritt, weil, so seine vorgeschobene Begründung, Israel nicht erlaubt, die Wahlen auch in Ostjerusalem abzuhalten.

Auf alle Eventualitäten vorbereitet

Israel hat diesmal beschlossen, nicht auf die Provokation einzugehen. Offenbar will man eine weitere Eskalation vermeiden. Trotzdem ist den Verantwortlichen klar, wie heikel die Situation gegenwärtig ist.

Generalstabschef Aviv Kochavi hat seine geplante Reise nach Amerika abgesagt. Dort wollte er gewichtige Themen diskutieren, etwa Israels Bedenken gegen die erneute US-Annäherung an den Iran. Zwar sei, seiner Einschätzung zufolge, keine der Parteien in der Region an einem Krieg interessiert, man wolle aber auf alle Eventualitäten optimal vorbereitet sein.

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch