Mittwoch, 02.06.2021 / 09:20 Uhr

Keine Perspektive in Gaza

Von
Mohammed Altlooli

Bild: Simon Mannweiler / Wikimedia Commons

Der Krieg ist vorbei, für die Menschen in Gaza bleibt die Lage ohne Perspektive.

 

Der Krieg zwischen der Hamas und Israel ist vorbei, es herrscht ein Waffenstillstand und in den Medien wird kaum noch über die Lage der Menschen in Gaza berichtet. Sie aber sind diejenigen, die den Preis für diesen Wahnsinn bezahlen und seit Jahren bezahlen. Ich schreibe diesen Text, während ich in Deutschland sitze und die Menschen sich an dem schönen Wetter freuen. Aber ich kann mich nicht wirklich mit ihnen freuen, da ich an die schwierige Situation meiner Familie und Freunde in Gaza denke, die ich verlassen musste, weil die Hamas es mir nicht erlaubte weiter mit ihnen zu leben. Das ist das Schicksal von uns Flüchtlingen: Nicht nur fürchten wir jeden Tag, dass unser Asylsuchen abgelehnt wird, in Gedanken sind wir immer auch bei denen, die wir zurückgelassen haben.

Ich schreibe dies auch in der Hoffnung, dass sich vielleicht jemanden finde, der mir hilft, meiner Familie beizustehen, damit auch sie wein wenig Freude hat. Meine Familie besteht aus achtzehn Mitgliedern. Mein Vater wurde verletzt und sein Bein musste amputiert werden, als er Anfang der 90er Jahre in Israel arbeiten wollte, aber durch Kugeln der israelischen Armee verletzt wurde, was das Leben unserer einfachen Familie, die in einer kleinen Wohnung im Jabalia Flüchtlingslager lebt, stark beeinträchtigte.

Da ich in letzter Zeit einiges geschrieben habe, interessieren sich jetzt auch größere Zeitungen für meine Geschichte und das Schicksal derjenigen, die es wagen in Gaza gegen die Hamas ihre Stimme zu erheben. So wurde ich kürzlich für die Neue Zürcher Zeitung interviewt und konnte etwas über ihr Schicksal erzählen:

Die Familie von Mohammed al-Altlooli lebt beispielsweise mit achtzehn Personen in einem einfachen kleinen Haus im Norden des Gazastreifens. Der Vater, seine beiden Ehefrauen und ihre gemeinsamen Kinder bekommen wegen ihres Flüchtlingsstatus – der nur bei Palästinensern vererbt werden kann – Lebensmittelpakete mit Grundnahrungsmitteln, gesundheitliche Versorgung und Schulausbildung vom Uno-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA).

«Die Hamas hat uns in einen Krieg gestürzt, weil sie keine Lösung für die Probleme in Gaza hat»

Darüber hinaus versuchen sie sich mit traditionellen Stickereien und anderen Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. «Während der Luftangriffe hat sich meine Familie in einem Raum versammelt und auch dort geschlafen», sagt Altlooli. Sie hätten das Haus nur im Notfall verlassen, sich von möglichen Zielen der Israeli ferngehalten und sich in nichts eingemischt.

Zum Glück ist meine Mutter eine Künstlerin, die traditionelle palästinensische Folklore herstellt, um mit meinem Vater so die Ausgaben für den Haushalt zu teilen. Das ging früher einigermaßen, aber durch Ereignisse der letzten Monaten, die schon schwierige Situation durch Corona und nun den Krieg leidet meine Familie Not. Außerdem wirkt sich meine Aktivität negativ auf sie aus, ich gelte als erklärter Gegner der Hamas und darunter hat auch meine Familie zu leiden, denn sie bekommt jetzt keine Unterstützung von den Parteien mehr. Zwar haben sie ein Recht auf Essensrationen von der UNRWA, aber mit Linsen, Zucker und Mehl können sie nicht überleben. Es bedrückt mich, dass meine Familie, bestehend aus Studentinnen und Studenten, Schülerinnen und Schülern nicht weiß, wie sich in der nächsten Zeit über die Runden kommen kann und ich kann ihnen nicht helfen. Schlimmer noch, zum Teil müssen sie leiden, weil ich mich entschieden habe, nicht länger über das Unrecht, das den Menschen in Gaza angetan wird, zu schweigen.

Immer mehr Menschen denken an Flucht

In diesem Interview sage ich es offen und ich weiß, dass die Hamas es auch liest:

«Die Hamas steckt jeden, der widerspricht, ins Gefängnis, wo man beleidigt und geschlagen wird», (...) Oft sei er mit einem Drohanruf abends ins Bett gegangen und mit den Sirenen von Polizeiwagen vor seinem Haus morgens aufgewacht. Oppositionelle würden mit Gewalt zum Schweigen gebracht, so dass es immer weniger kritische Stimmen gebe.

Immer mehr Palästinenser wollten Gaza verlassen und nach Europa fliehen. Besonders jetzt, wo noch mehr zerstört sei und noch mehr nicht funktioniere, wachse die Wut auf die Hamas. Doch die Menschen unterdrückten diese Wut, weil sie sonst mit Waffen konfrontiert würden. «Nicht wenige wissen auch, wo die Tunnel sind, wagen aber aus Angst vor der Hamas nicht, etwas zu sagen.» Niemand will sich vorwerfen lassen, den Widerstand zu schwächen oder ein Spion Israels zu sein.

«Die Hamas hat uns in einen Krieg gestürzt, weil sie keine Lösung für die Probleme in Gaza hat», sagt Altlooli. Die Tragik besteht allerdings darin, dass die Palästinenser kaum politische Alternativen haben, selbst wenn nach fünfzehn Jahren tatsächlich erstmals wieder gewählt würde. Die rivalisierende Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, die im Westjordanland regiert, ist in viele Fraktionen zersplittert, sie gilt als zutiefst korrupt und politisch kaum weniger repressiv als die Hamas.

Schon nach dem Krieg 2014 haben sich einige Palästinenser im Gazastreifen, die vor den Trümmern ihrer Häuser standen, gewünscht, die Israeli würden zurückkommen und regieren. Immerhin funktionierte unter israelischer Besatzung die Infrastruktur, es gab ein gemeinsames Industriegebiet an der Grenze, und viele fanden in Israel Jobs. «Inzwischen ist der Wunsch, die Israeli sollten zurückkommen, fast schon zu einer populären Forderung geworden», erzählt Altlooli. Eine bizarre Bilanz nach fast fünfzehn Jahren Hamas-Herrschaft.

Jedesmal frage ich mich, ob ich so offen sprechen soll, wenn am Ende meine Familie darunter zu leiden hat. Auch so geht es vielen anderen Flüchtlingen, die ich inzwischen kennen gelernt habe und nur wenige Menschen hier in Europa können sich vorstellen, was es bedeutet, endlich in Freiheit zu sein und sich an dieser Freiheit nicht so freuen zu können, wie wir es erhofft hatten. Gäbe es diese Freiheit nicht, müsste ich mich nicht jedes mal fragen, ob ich besser schweige, damit meine Familie keine Probleme bekommt.

Ich würde ihnen so gerne anders helfen, aber als Flüchtling habe ich diese Möglichkeiten nicht. Ich mag es nicht um Hilfe zu bitten, auch in Gaza, als wir gegen die Hamas demonstrierten, haben wir um keine gebeten, aber meine Familie geht mir nicht aus dem Sinn. Wer eine Idee hat, wie man ihr irgendwie helfen kann, den bitte ich mich zu kontaktieren: mohammedaltaluli@gmail.com.

Ich hoffe sehr, bald anerkannt zu werden und dann endlich in der Lage zu sein, für mich und auch sie zu sorgen.