Mittwoch, 01.12.2021 / 19:08 Uhr

Warum verlassen so viele Kurden den Irak?

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Straßenszene in Suleymaniah, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Viele tausende der Flüchtlinge an der belorussisch-polnischen Grenze stammen aus Irakisch-Kurdistan, das eigentlich als sicher und stabil gilt.

 

Masrour Barzani, Premierminister des Kurdistan Regional Government of Iraq (KRG) behauptete jüngst gegenüber der FAZ, er sei „kalt von der Krise an der belorussisch-polnischen Grenze erwischt“ worden.

Ein Großteil jener als „illegale Migranten“ titulierten Menschen, die seit Monaten verzweifelt versuchen, über die polnische Grenze in die EU zu gelangen, stammen nämlich aus Irakisch-Kurdistan, das von seiner Regierung so gerne als „der andere Irak“ gelobt wird. Die Region, so heißt es oft, sei, anders als andere Teile des Irak, sicher und prosperiere.

Warum haben sich dann alleine seit Beginn des Jahres 2021 fast 75.000 Kurden auf den Weg gemacht, um irgendwie nach Europa zu gelangen? Ich habe diese Frage Salam Omar, dem Chefredakteur des irakischen Online-Magazins und langjährigen Partners von Wadi KirkukNow, gestellt. Seine Antworten geben wenig Grund zu Hoffnung:

„Irakisch-Kurdistan leidet unter einem völlig dysfunktionalen politischen System und unter unzähligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Es ist eine der korruptesten Regionen im Nahen Osten, die Ressourcen der Region liegen in den Händen der Herrscherfamilien in Erbil und Sulaimaniyah.

Die Meinungsfreiheit verschlechtert sich und unabhängiger Journalismus steht unter massivem Druck. Betrachtet man das Bild aus den Augen dieser jungen kurdischen Generation, so ist die Region sehr unsicher und instabil mit einer vagen Zukunft.

Es gibt keine Hoffnung für sie, da sie das Vertrauen in die regierenden Politiker verloren haben, denen fast alles gehört. Die Jugendlichen gehen weg, weil sich die politische Lage verschlechtert, es keine Arbeitsmöglichkeiten gibt und keine Hoffnung auf echte Reformen in der Region besteht.“

Versagen der Regierung

Zu ganz ähnlichen Schlüssen kommt auch der Publizist Kamal Chomani:

„Das Versagen der nationalistischen Regierungen in der Region ist offensichtlich, und der Arabische Frühling hat uns gezeigt, wie die Jugend im Nahen Osten nach Jahren repressiver und undemokratischer Herrschaft genug hatte. (…) Zwei Familien – die Barzanis und Talabanis – haben für sich die Ressourcen der Region monopolisiert und gehen gegen abweichende Meinungen vor, um ihre Macht zu erhalten.“

In der Tat sieht es für jüngere Menschen, die nicht gerade aus den Regierungsparteien nahe stehenden Familien kommen, düster aus. Mehr als 50% der Bevölkerung Irakisch-Kurdistans sind unter 25 Jahre alt, während die Arbeitslosenquote in der Altersgruppe 18-35 Jahre bei über 20% liegt.

Hatten viele bis 2014 – als die Ölpreise zu fallen begannen und gleichzeitig der Islamische Staat (IS) seinen Vormarsch im Nordirak startete – noch auf eine bessere Zukunft gehofft, befindet sich Kurdistan seitdem in einer Dauerkrise: Gehälter werden oft gar nicht oder nur mit monatelanger Verspätung gezahlt.

Kaum Perspektiven

Vor Jahren fasste eine westliche Journalistin mit Blick auf Ägypten die Situation dieser Generation treffend in einem Tweet zusammen. Sie schrieb, junge Menschen hätten angesichts der dort herrschenden Verhältnisse eigentlich nur die Wahl zwischen Aufstand, Flucht oder dem Anschluss an die Islamisten, die Besserung mit Gottes Hilfe versprächen.

Auch in Irakisch-Kurdistan sieht es nur wenig besser aus. Tomáš Kaválek schreibt im Zenith Magazin:

„Steigende Preise, Einkommensunterschiede, fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten und mangelnde Aussichten auf sozioökonomische Mobilität: Diese Gründe sind sowohl in der Autonomen Region Kurdistan zu hören, wenn die Menschen über derzeitige Lage und ihre Zukunftsaussichten klagen und ihre Optionen abwägen, als auch bei denjenigen, die sich bereits entschieden haben, das Land zu verlassen.

2020 gaben bei einer Umfrage des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) 30 Prozent der befragten Jugendlichen an, darüber nachzudenken, außerhalb der Autonomen Region Kurdistan einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz suchen zu wollen. (…)

Amnesty International berichtet, dass allein zwischen März 2020 und April 2021 über 100 Menschen, darunter Journalisten und Organisatoren von Protesten, willkürlich festgenommen wurden.

Während die meisten von ihnen wieder auf freien Fuß kamen, blieben andere für längere Zeit in Haft, und einige wurden wegen verschiedener fragwürdiger Anschuldigungen wie Spionage, Verleumdung von Behörden durch Aktivitäten in sozialen Medien oder Gefährdung der nationalen Sicherheit verurteilt. Darüber hinaus ließen die Behörden immer wieder Medien vorübergehend schließen.“

Kein Zulauf bei Islamisten

Salam Omar stimmt der Einschätzung, dass es unter den bestehenden Bedingungen keine Perspektive für Jugendliche gibt, zu, fürchtet allerdings nicht, dass deshalb die Islamisten erneut Zulauf erhalten würden:

„Heutzutage besteht kaum die Gefahr, dass sich kurdische Jugendliche den Islamisten anschließen, aber die beiden anderen Optionen werden von der kurdischen Jugend derzeit praktiziert. Was an der weißrussisch-polnischen Grenze passiert, zeigt, wie unsere Jugend alle möglichen Fluchtwege aus der Region zu nutzen versucht.

Aber auch die andere Möglichkeit wird genutzt, wie gerade  Studentenproteste vom vergangenen Wochenende zeigen. Sie runden das Bild perfekt ab. Die Regierungsparteien und -familien der KRG sind zu weit gegangen und haben seit Jahren Kritik und Warnungen seitens der Zivilgesellschaft und der Opposition vor genau der Situation, die wir jetzt durchmachen, ignoriert.“

In der Tat gab es genug Warnungen, zuletzt während der irakischen Parlamentswahlen, bei denen etwa in Suleymaniah die Mehrheit einem Aufruf zum Boykott folgte, um so ihrem Unmut über die herrschenden Parteien und Verhältnisse Ausdruck zu verleihen.