Mittwoch, 21.09.2022 / 19:11 Uhr

Bilanz des Grauens: Rückblick auf die documenta 15

Von
Gastbeitrag von Alex Feuerherd

Wasserspeier in Tonnere, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Bevor die documenta zu Ende geht, gibt es einen weiteren Tiefpunkt: Die gerechtfertigte Kritik von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Kunstschau nennt das Kuratorenkollektiv Ruangrupa »rassistisch« und einen Zensurversuch. Eine kleine Bilanz des Grauens.

 

In wenigen Tagen wird die fünfzehnte Ausgabe der documenta Geschichte sein, und man ist geneigt zu sagen: endlich! Was sich seit Mitte Juni in Kassel zugetragen hat, ist nicht weniger als ein veritabler Antisemitismusskandal, der sich in den vergangenen Tagen ein weiteres Mal zugespitzt hat.

Fünf von acht Mitgliedern des Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung der Ausstellung, das von den Gesellschaftern der documenta mit der Aufarbeitung der antisemitischen Inhalte betraut worden war, resümierten in einer Presseerklärung, »dass die gravierenden Probleme der documenta fifteen nicht nur in der Präsentation vereinzelter Werke mit antisemitischer Bildsprache und antisemitischen Aussagen bestehen, sondern auch in einem kuratorischen und organisationsstrukturellen Umfeld, das eine antizionistische, antisemitische und israelfeindliche Stimmung zugelassen hat«.

Die dringlichste Aufgabe sei es, die Vorführung von pro-palästinensischen Propagandafilmen aus den 1960er bis 1980er Jahren unter dem Namen »Tokyo Reels Film Festival« zu stoppen. Denn »hoch problematisch an diesem Werk« seien »nicht nur die mit antisemitischen und antizionistischen Versatzstücken versehenen Filmdokumente, sondern die zwischen den Filmen eingefügten Kommentare der Künstler:innen, in denen sie den Israelhass und die Glorifizierung von Terrorismus des Quellmaterials durch ihre unkritische Diskussion legitimieren«.

Das historische Propagandamaterial werde »nicht – wie es ohne Zweifel geboten wäre – kritisch reflektiert, sondern als vermeintlich objektiver Tatsachenbericht affirmiert«. Die Filme stellten deshalb »in ihrer potenziell aufhetzenden Wirkung eine größere Gefahr dar als das bereits entfernte Werk ›People’s Justice‹« von Taring Padi, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die kuratorische Gesamtzuständigkeit der Kunstschau liege bei der künstlerischen Leitung, also dem indonesischen Kollektiv Ruangrupa. Dieses habe eine documenta zu verantworten, »in der antisemitische Werke ausgestellt wurden und Israel und Israelis ausschließlich als Täter:innen und Aggressor:innen in Erscheinung treten«.

Krachende Ohrfeige für die documenta

Auch die Organisatoren der Ausstellung wurden von dem Gremium unter der Leitung der Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff in die Kritik genommen: »Für den Umgang mit problematischen Werken scheint die documenta kein Verfahren vorzuhalten, das über die Prüfung der Strafbarkeit eines Exponats hinausgeht.« Die documenta scheine nicht darauf eingestellt zu sein, »im Falle interner oder öffentlicher Kritik an dem Projekt oder der künstlerischen Leitung zu vermitteln«. Das alles ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und war nichts weniger als eine krachende Ohrfeige für alle, die Verantwortung für die documenta tragen.

Ruangrupa denkt gleichwohl gar nicht daran, die Vorführung der Propagandafilme einzustellen, wiewohl das auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth gefordert hatte. In einer Erklärung, die sie gemeinsam mit anderen bei der documenta vertretenen Künstlern und Kollektiven veröffentlichte, bezeichnet Ruangrupa die Stellungnahme des Gremiums als »rassistisch« und dessen Empfehlungen als »Zensur«. »Widerstand gegen den Staat Israel« sei »Widerstand gegen den Siedlerkolonialismus, Apartheid, ethnische Säuberung und Besatzung«, heißt es im Statement. Der »antikoloniale Kampf« der Palästinenser werde auf der documenta in vielen Werken thematisiert, »weil die transnationalen antikolonialen Kämpfe historisch miteinander verbunden« seien.

Findungskommission steht weiter zu Ruangrupa

Die Wissenschaftler ignorierten »absichtlich Geschichte und Fakten im Dienste rassistischer und hegemonialer Agenden«, man werde sich von ihnen nicht »re-kolonisieren« lassen. Sich selbst sieht Ruangrupa als Opfer von Rufmord und Drohungen. Angesichts dieser Worte spricht selbst die Süddeutsche Zeitung von einer »klassischen Täter-Opfer-Umkehr«: »Nicht die Juden, die in der wichtigsten deutschen Kunstschau monatelang als Aggressoren und Übeltäter dargestellt und diffamiert werden, sind also die Leidtragenden, sondern jene, denen man nahelegt, weniger zu hassen und zu diffamieren.« Die Erklärung der Künstler sei »eine Art ressentimentgeladenes Abkotzen, wie man es aus Teilen der sozialen Netzwerke kennt«, und sie lasse einem den Atem stocken: »Solche Leute durften die documenta leiten?«

Ja, solche Leute durften die documenta leiten, und das hält die Findungskommission, die Ruangrupa damit beauftragt hatte, nach wie vor für die richtige Entscheidung. Ausdrücklich stellt sie sich hinter deren Erklärung. Das verwundert nicht: Mehrere Mitglieder dieser Kommission haben Sympathien für die BDS-Bewegung, darunter der indische Künstler und Filmemacher Amar Kanwar sowie der Museumsdirektor Charles Esche.

Kanwar unterschrieb 2013 einen Protestaufruf gegen die wissenschaftliche Kooperation des indischen Bundesstaates Gujarat mit Israel; der Protest war Teil der »Indian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel«. Esche zählte im Dezember 2020 zu den Unterzeichnern eines Aufrufs zur Unterstützung der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«, die den Bundestagsbeschluss vom Mai 2019 ablehnt, in dem die BDS-Bewegung als antisemitisch benannt wird.

Skandal war vorhersehbar

Kanwar und Esche sind längst nicht die einzigen BDS-Sympathisanten, die bei der documenta eine führende Funktion haben. Ada Darmawan und Farid Rakun etwa, zwei Ruangrupa-Mitglieder, haben ebenfalls antiisraelische Boykottaufrufe unterschrieben. All das war schon seit Januar bekannt, weil das Bündnis gegen Antisemitismus Kassel es recherchiert und öffentlich gemacht hatte; viele Medien verbreiteten diese Informationen weiter. Der Skandal war vorhersehbar, er hätte sich verhindern lassen, doch die Verantwortlichen der Kunstschau unternahmen genauso wenig etwas dagegen wie die Stadt Kassel, das Bundesland Hessen und Kulturstaatsministerin Roth als Geldgeber.

Die documenta war ein antizionistischer Frontalangriff, und das war kein Zufall, sondern nur folgerichtig. Wo man BDS gewähren lässt, kommt Antisemitismus heraus, das hat sich nicht erst in Kassel gezeigt. (Post-)Kolonialismus und »globaler Süden« sollten die Themen sein, Israel sollte als Kolonialmacht präsentiert werden, als brutaler Unrechtsstaat, das hat die Ruangrupa-Erklärung auch noch einmal überdeutlich werden lassen. Kritik daran wurde als »Rassismus« abgebügelt, so, als wäre es die Herkunft oder die Hautfarbe, die den Widerspruch begründet, und nicht der Antisemitismus. Und als wäre eine antisemitische Äußerung, Darstellung oder Handlung weniger oder gar nicht antisemitisch, wenn sie von jemandem aus dem »globalen Süden« kommt.

Die documenta hat das Publikum bekommen, das sie sich verdient hat

In vielen Medien und nun auch von wissenschaftlicher Seite wurde deutliche Kritik an der documenta laut, doch man sollte sich nichts vormachen: Personelle Konsequenzen gab es lediglich in Form des späten Rücktritts der documenta-Geschäftsführerin Sabine Schormann, eine Kürzung oder gar Einstellung der öffentlichen finanziellen Förderung ist bislang nicht ernsthaft diskutiert worden.

Die Kunstschau ist nicht vorzeitig beendet worden, und entfernt wurde nur das Schlachtengemälde »People’s Justice« von Taring Padi, alle anderen antisemitischen Exponate wurden weiterhin gezeigt und allenfalls »kontextualisiert«, was in diesem Fall so viel heißt wie: verharmlost und zu einem Problem der Rezipienten gemacht, die alles bloß falsch verstünden. Die Besucherzahlen sind auch nicht eingebrochen – und wenn man liest, was Julia Alfandari und Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank gegenüber der FAZ von ihren zahlreichen Gesprächen mit Besuchern berichten, dann hat die Kunstschau genau das Publikum angezogen, das sie sich verdient hat.

»Sehr häufig kam die Anschuldigung, dass die Juden eine überaus einflussreiche Macht seien, die auch darauf abgezielt habe, die documenta zu zerstören. Manche störten sich daran, dass sich ihrer Ansicht nach alles immer nur um die Befindlichkeiten der Juden und Jüdinnen in Deutschland drehe. Einer sagte, dass die Deutschen sich von ihnen geißeln ließen und das endlich ein Ende haben müsse. Einer weiteren Verschwörungserzählung zufolge ist der Konflikt um die antisemitisch konnotierten Bilder eine gesteuerte Aktion des Mossad gewesen, und die indonesischen Künstler sind in Wahrheit Agenten des israelischen Geheimdienstes, um dadurch vom Mord an einer palästinensischen Journalistin abzulenken.«

Letzteres würde Ruangrupa, so viel ist gewiss, weit von sich weisen.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch