Ein Besuch im Gazastreifen vor dem geplanten israelischen Abzug

Streifen im Gaza

Wo Hamas und Al-Aqsa-Brigaden zu Hause sind, ist man skeptisch, was den Abzugsplan der israelischen Regierung betrifft.

Kleine Jungen lassen Drachen steigen, bunte Schirme schützen vor der drückend heißen Mittagssonne, ein braungebrannter junger Mann bietet unter Werbetafeln von Coca-Cola Getränke zum Verkauf. Auf den ersten Blick deutet wenig darauf hin, dass »Gaza-Beach« nicht gerade zu den gewöhnlichsten Stränden der Welt gehört. Nur ein Fischerboot, das in den spärlichen Wellen vor sich hinschaukelt, gibt einen Hinweis.
An einer Stange des Holzkahns hängt die mit einem roten Keil versehene schwarz-weiß-grüne Fahne jenes Staates, der bis heute keiner ist: Palästina. Vereinzelt flanieren Frauen. Mit ihren langen Kleidern und schwarzen Kopftüchern machen sie jedoch nicht den Eindruck, als seien sie zum Baden gekommen. Schwimmen ist für Frauen und heranwachsende Mädchen am Strand von Gaza-Stadt nicht vorgesehen.

»Früher war hier viel mehr los«, erinnert sich Ahmed, der im Gazastreifen geboren wurde. »Früher«, das ist für den Mittvierziger vor der zweiten Intifada, Anfang bis Mitte der neunziger Jahre. »Damals sind auch Israelis hierhergekommen, und es gab viele Partys am Strand«, sagt er. Es war die Zeit der Osloer Friedensverhandlungen, im israelisch-palästinensischen Konflikt war Entspannung angesagt und man bemühte sich um den Ausbau der touristischen Infrastruktur. Von solchen Plänen zeugen einige Häuserblocks auf der anderen Seite der staubigen Straße, die zur Strandpromenade hätte aufblühen können.

Warum aus dem »Gaza-Beach« nichts wurde

Doch aus dem Mittelmeerstrandbad Gaza wurde nichts, und die von Plastiktüten, Gemüseabfall und anderem Müll umgebenen Hotelruinen symbolisieren das vorläufige Ende der Hoffnung auf einen Wirtschaftsaufschwung. »Seit dem September 2000 wird hier nichts mehr getan«, erklärt Ahmed. Mit der israelischen Blockade seien Baumaterialien unerschwinglich geworden. »Die Investoren haben sich zurückgezogen, als die Intifada begann.« Geblieben sind die Hilfsprojekte der Vereinten Nationen, ohne die im Gazastreifen nichts funktionieren würde.
Die Uno versorgt 128.000 Familien mit dem Lebensnotwendigsten. Über die Hälfte der Menschen, die hier zwischen ägyptischer Grenze, Mittelmeer und Wüste Negev leben, ist arbeitslos. Zwar deuten einige ausladende und gepflegte Einfamilienhäuser darauf hin, dass es im Gaza auch einen wohlhabenden palästinensischen Mittelstand gibt, doch über 60 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Für die meisten der rund eineinhalb Millionen Palästinenser und Palästinenserinnen gibt es über den Verantwortlichen für diese Misere keinen Zweifel.

»Wir haben keine Freiheit, die Israelis behandeln uns wie Sklaven«, schimpft ein älterer Mann auf dem Markt im Zentrum von Gaza-Stadt. Seinen Namen will er lieber nicht nennen. Er sei Lehrer und gehöre zur gebildeten Schicht der palästinensischen Gesellschaft. Während er spricht, sammelt sich zwischen aufgehängten toten Rindern und Melonenbergen eine Traube von Menschen.
Eine Frau faucht den etwa 60jährigen aufgeregt an, als wolle sie vermeiden, dass er weiter mit Ausländern spricht. Dennoch fährt der Lehrer fort: »Weil die Juden mir mein Haus weggenommen haben, musste ich 1948 aus Jaffa flüchten.« Ein Junge neben ihm greift den Satz auf. »Die Juden«, sagt der kleine Araber und fährt sich mit dem Finger wie mit einem Messer an der Kehle entlang. Zwischen Jaffa und Gaza-Stadt liegen knappe 50 Kilometer. Doch bis er hier ein neues Zuhause gefunden habe, sei er mit seiner Familie fünf Jahre in Zeltlagern untergekommen, erklärt der Lehrer.

Abzug aus dem Gazastreifen – wird dann alles besser?

Damals gehörte das Gebiet noch nicht zu Israel. Erst im Rahmen des Sechstagekrieges im Jahr 1967 wurde der Gazastreifen vom israelischen Militär besetzt, Siedler ließen sich in 17 heute hoch geschützten Enklaven nieder. Sollte sich Israels Regierungschef Ariel Sharon durchsetzen, werden sie im Laufe des nächsten Jahres die Gegend verlassen. Ab August, so sieht es Sharons Abzugsplan vor, sollen die ersten Siedlungen geräumt werden. Wer bis Ende des Jahres 2005 noch nicht freiwillig den Absprung gemacht hat, wird gewaltsam herausgeholt. Auch das israelische Militär soll abziehen. Wird dann alles besser?

Auf dem Markt von Gaza-Stadt glaubt niemand so richtig, dass das Vorhaben realisiert wird. Aber wenn, da sind sich Leute wie Ahmed, der Lehrer, und viele der Händler einig, dann haben endlich »wir« die Kontrolle über »unser« Land. »Wir«, das wird formal die Palästinensische Autonomiebehörde sein. Wer aber dann konkret das Sagen haben wird, darüber gehen die Meinungen auseinander.
Mahmoud al-Zahar, der Führer der islamistischen Terrororganisation Hamas im Gaza, hat jüngst klargestellt, dass seine Organisation »Teil jeder palästinensischen Regierung« sein müsse. Schließlich habe man die Hauptrolle gespielt, um die Siedler zu vertreiben.
Und wie die Hamas können auch Yassir Arafats nationalreligiöse Al Fatah und deren Al-Aqsa-Brigaden sowie andere terroristische Gruppen im Gazastreifen auf breite Zustimmung zählen. Ein Blick genügt, um das zu bestätigen.

Zwischen Kreditkartenwerbung und Marlborowelten prangen an den Mauern die Wandbilder bewaffneter Märtyrer, die bei Selbstmordattentaten oder im Kampf gegen israelische Truppen ihr Leben verloren haben. In vielen Läden und hinter Marktständen hängen die Konterfeis der jüngst von der israelischen Armee getöteten Hamas-Führer Sheikh Yassin und Abdel Aziz Rantisi.
In Gaza jedoch nach der Hamas zu fragen, ist ebenso vergeblich, wie sich mit einem Sizilianer über die Mafia unterhalten zu wollen.

Terrororganisation Hamas: großer Einfluss im Gazastreifen

»Seit Yassin mitten in Gaza-Stadt ermordet wurde, sind die Leute vorsichtig geworden«, sagt Ahmed. Dass die Israelis den im Rollstuhl sitzenden Chef der Hamas auch noch mit einer Rakete von einem Kampfhubschrauber aus getötet haben, habe der Organisation nur noch mehr Zulauf verschafft.
»Heute hat fast jeder hier ein Bild von Yassin in der Wohnung hängen«, meint er. Ob der derzeitige Rückgang der Zahl der Selbstmordattentate nicht auf diese Angriffe zurückzuführen sei? Ahmed ist skeptisch. Die Zurückhaltung sei eher anderen Gründen geschuldet. Gewalttaten könnten nach dem vorgeschlagenen Abzugsplan israelische Vergeltungsanschläge provozieren. Und dann würden sie dem Ziel schaden, die Hegemonie in der palästinensischen Gesellschaft zu erlangen. »Das sind intelligente Leute«, urteilt Ahmed über die Hamas.

Die Terrororganisation kann sich nicht über mangelnde Verankerung im Gazastreifen beklagen. Allein in der Flüchtlingsstadt Jabaliyya kontrolliert sie die Hälfte der 24 Moscheen. Nach Angaben des Washington Institute hat die Hamas in den letzten zwei Jahren 70 Millionen Dollar für Sozialprogramme ausgegeben. Sie soll mehrere Dutzend Krankenhäuser kontrollieren und über rund 100 Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zur Hochschule verfügen.
Auch an der Islamischen Universität ist der Einfluss radikaler Islamisten nicht zu übersehen. Parolen der Intifada verzieren die Mauer des Universitätskomplexes, die Gebäude sind streng nach Geschlechtern aufgeteilt. Gelehrt wird vor allem der Da’wa, der »Ruf zum Islam«, der immer auch den Kampf gegen Israel und die Juden meint.

Für Sharons Abzugspläne haben islamistische Organisationen folgerichtig wenig übrig. Die Al-Aqsa-Märtyrer, die nach Angaben der Jerusalem Post in Gaza über etwa 5.000 Kämpfer verfügen, haben jetzt angekündigt, sich nicht der als Ordnungsmacht vorgesehenen Palästinensischen Autonomiebehörde unterzuordnen.
Auch für den Hamas-Führer Zahar ist »das einzig Sichere«, dass »wir mit unserem Widerstand fortfahren«. Wenn die Israelis den Gazastreifen verlassen, bedeute das schließlich nicht das Ende der Besetzung, denn »sie wollen weiterhin den See- und Luftraum kontrollieren«.
 

Am Checkpoint Erez: »Habt ihr etwa eine Fatwa mitgebracht?«

Für die israelische Bevölkerung haben diese scharfen Kontrollen deutlich positive Auswirkungen. Nur noch die wenigsten Terroranschläge der zweiten Intifada gingen von Gaza aus. Was nicht verwundert, denn die Chancen, Sprengstoffgürtel oder Bomben von palästinensischem auf israelisch bewohntes Gebiet zu schmuggeln, sind in der Gazaregion denkbar gering. Unzählige Nato-Stacheldrähte, elektrische Sicherheitszäune und Betonplatten durchziehen das Land.

Am Checkpoint Erez trennt ein gut 100 Meter langer überdachter Gang die beiden Welten. Um Schusswechsel aus der Ferne zu vermeiden, verlaufen die Betonwände leicht gekrümmt. Wer weiter will, muss hinter rot-weißen Barrieren aus Hartplastik an einem der vielen Drehgitter warten.
»Take number four«, raunzt eine unfreundliche Stimme aus dem Megafon. Sie gehört offensichtlich einem Soldaten, der sich etwa 15 Meter weiter vorne hinter Sandsäcken verschanzt hat. Dann die nächste Prozedur: Pässe abgeben, warten, ein Drehkreuz passieren, wieder zurück, wieder warten, noch einmal durch den Metalldetektor, bis sich nach einer knappen Stunde ein Stahltor einen kleinen Spalt weit öffnet und den Passanten den Weg zur nächsten Kontrolle freigibt. In einem weiteren Gebäude sorgten früher 27 solcher Durchgänge dafür, dass Palästinenser in israelische Industrieanlagen und auf Plantagen gelangen konnten. Heute steht der riesige Betonschuppen leer, denn seit einem Jahr dürfen die Niedriglohnarbeiter nicht mehr ausreisen.

Für privilegierte Grenzgänger öffnet sich jenseits des Zauns eine neue Welt. Vier junge Soldatinnen stehen am letzten Posten. »Habt ihr etwa eine Fatwa mitgebracht?«, fragt eine uniformierte Schwarze mit Rastazöpfen und lacht. Kurz zuvor hatte Ahmed noch daran erinnert, Besucher mögen ihm doch beim nächsten Mal ein paar Flaschen Bier mitbringen. Er selbst hat den Gazastreifen noch nie verlassen.