Redefreiheit und »religiöse Gefühle«

Der Geist der Fatwa

Seit Khomeini vor 20 Jahren seine Mord-Fatwa gegen Salman Rushdie erließ, findet eine Einschränkung des Rechts auf Meinungs- und Redefreiheit statt – aus Angst, »religiöse Gefühle« könnten verletzt werden. Die postkoloniale Linke ist daran nicht ganz schuldlos.

Die Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie wirkt bis heute. Ihr Geist weht sogar durch die Uno. Die Forderungen nach Einschränkung der Redefreiheit zum »Schutze« religiöser Gefühle und zur Eindämmung der »Islamophobie« haben längst Eingang in die Agenda der Vereinten Nationen gefunden. Zuletzt wurde, vor allem auf Betreiben der Staaten der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC), am 18. Dezember auf der UN-Vollversammlung eine Resolution zur »Bekämpfung der Diffamierung von Religionen« durchgesetzt, in der konkret als Religion nur der Islam erwähnt wird. Zuvor hatte der UN-Menschenrechtsrat (UNHRC) bereits eine Reihe ähnlicher Resolutionen verabschiedet. (Jungle World 32/08) Der »Sonderberichterstatter zur Beförderung und zum Schutz der Meinungs- und Ausdrucksfreiheit« wurde zudem aufgefordert, »über Fälle zu berichten, in denen der Missbrauch der Redefreiheit den Tatbestand der rassistischen oder religiösen Diskriminierung erfüllt«. Damit wird der Sinn des Paragrafen 19 der allgemeinen Menschenrechtserklärung, auf den sich einst die Verteidiger und Herausgeber von Rushdies »Satanischen Versen« in Deutschland beriefen, in sein Gegenteil verkehrt. Der eigentliche Skandal an dem UN-Beschluss vom Dezember ist, dass es so gut wie keinen Skandal gab.

 

Khomeinis Triumph

Vor 20 Jahren hatte Salman Rushdie noch viel Solidarität erfahren, als man ihn mit dem Tod bedrohte, nicht zuletzt von linksliberalen Intellektuellen und Medien. Während die Fatwa nach wie vor Bestand hat, hat sich der Diskurs um Meinungsfreiheit versus religiöse Gefühle jedoch drastisch verschoben. »Durch die Legenden, dass die Ablehnung der ›Satanischen Verse‹ religiös begründet sei, dass die Muslime sich beleidigt fühlten und dass Redefreiheit in einer pluralen Gesellschaft notwendigerweise engere Grenzen habe, haben Linke und Liberale eine Kultur des Beleidigt­seins gezüchtet, in der die Behauptung von Verletztheit zum Identitätsbeweis wird«, resümierte der britische Publizist Kenan Malik in einem Beitrag für perlentaucher.de die Folgen der Rushdie-Affäre. Khomeini mag mit dem Versuch gescheitert sein, durch seine Fatwa die Verbreitung des Buchs zu unterbinden, hinsichtlich der Ausbreitung eines Klimas der Selbstzensur und der Einschränkung der Redefreiheit angesichts religiöser Gefühle jedoch war dem Ayatollah mit seiner Fatwa posthum ein Triumph beschieden. Die Linke hat daran einen beträchtlichen Anteil.

Um das zu verstehen, müssen zunächst einige Mythen um die Rushdie-Affäre geklärt werden. So hatte die Veröffentlichung von Rushdies Buch seinerzeit keineswegs spontane Proteste von in ihren religiösen Gefühlen verletzten Muslimen ausgelöst. Zwar wurden drei Monate nach Erscheinen des Romans in nordenglischen Städten Exem­plare des Buches bei Demonstrationen verbrannt. Dies war jedoch das Ergebnis einer Kampagne: »Seit Beginn der Auseinandersetzungen um den ›blasphemischen‹ Roman haben Großbritanniens Mullahs die sensitiven religiösen Gefühle der moslemischen Minderheit auf der einen und die falsche Rücksichtnahme der liberalen Öffentlichkeit auf der anderen Seite geschickt ausgenutzt. Nachdem die (…) berüchtigten Imams aus Bradford den Streit um Rushdies Roman vom Zaun gebrochen hatten, ist längst das gesamte Mullah-Netzwerk Großbritanniens in den Glaubenskrieg (…) eingestiegen«, berichtete damals die taz. Das erinnert an den Beginn des »Karikaturenstreits« 2006, als ebenfalls erst eine ausgedehnte Kampagne dänischer Imame die weltweiten Proteste entfachte.

Als die Proteste sich ausbreiteten und bereits mehrere Todesopfer bei Krawallen vor allem auf dem indischen Subkontinent zu beklagen waren, eskalierte der iranische Religionsführer Ayatollah Khomeini mit seiner Fatwa die Situation. Am 14. Februar 1989 rief er die Muslime der Welt zum Mord an Rushdie auf: »Der Verfasser des Buches ›Die Satanischen Verse‹, das gegen den Islam, den Propheten und den Koran erdichtet, gedruckt und verlegt worden ist; ebenso die, die an seiner Veröffentlichung beteiligt sind und den Inhalt kennen, sind zum Tod verurteilt.«

Dabei spielten eher politische Motive eine Rolle als theologische. Denn Khomeini war politisch geschwächt, nachdem er einem als Niederlage empfundenen Waffenstillstand im damaligen iranisch-irakischen Krieg hatte zustimmen müssen. Mit der Fatwa wollte er in der Ummah, der muslimischen Gemeinschaft, wieder die Vorherrschaft über konkurrierende sunnitisch-islamistische Strömungen unter saudischer Patronage erlangen. Nach Ausrufung der Fatwa kam es weltweit zu Gewaltakten und Massendemonstrationen. Rushdie musste jahrelang unter Polizeischutz im Versteck leben, Verleger und Übersetzer der »Satanischen Verse« wurden zum Ziel von Mordanschlägen, auf Buchläden wurden Brandanschläge verübt. Im türkischen Sivas kam es während eines alevitischen Kulturfestivals im Juli 1993 zu einem regelrechten Massaker. 37 Menschen kamen zu Tode, als ein vor allem aus türkischen Islamisten und Faschisten der »Grauen Wölfe« zusammengesetzter Mob ein Hotel anzündete, in dem sich der türkische Übersetzer der »Satanischen Verse«, Aziz Nesin, aufhielt.

 

Inszenierter Kulturkampf

Die Ereignisse jener Zeit markieren einen Wendepunkt in der Wahrnehmung politisch-gesellschaftlicher Konflikte. Mit dem Fall Rushdie wurde erstmals eine politische Auseinandersetzung als globaler Kulturkonflikt inszeniert. Das Verständnis der sozialen Hintergründe von Kämpfen und Konflikten im Zusammenhang mit Migration verschob sich von materiellen und politischen Faktoren wie rassistischer Gewalt, Armut und Diskriminierung bei Jobs und Bildung auf die Ebene von kulturell und religiös begründeten Gefühlen und Identitäten.

In engem Zusammenhang mit dieser Entwicklung stehen auch der wachsende Erfolg des Islamismus unter der muslimischen Bevölkerung in Europa und die globale Dimension des Jihadismus. Rushdie galt in den Augen der iranischen Führung um Khomeini als Personifikation des »verwestlichten Muslim«. Die antiwestliche Ideologie der Mullahs dürfte für die Fatwa bedeutsamer gewesen sein als der theologische Vorwurf der Blasphemie gegen sein Werk.

Wie eng der Aufstieg der Identitätspolitik mit der Popularität des militanten Islam bei der Rush­die-Affäre gerade in Europa verbunden war, wurde in Großbritannien deutlich. Kenan Malik, der die Rushdie-Affäre als antirassistischer Aktivist und Journalist in Großbritannien erlebte, hat beschrieben, wie ihm damals ehemalige linke Freunde plötzlich als Teilnehmer an den Bücherverbrennungen bei Anti-Rushdie Demonstrationen begegneten. Bereits seinerzeit tauchte auch der heute allgegenwärtige Vorwurf der »Islamophobie« auf, der von islamischen bzw. islamistischen Gruppen als politischer Kampfbegriff benutzt wurde. So wurde die Verkehrung von Täter und Opfer vollzogen: Nicht der durch islamistische Mordaufrufe bedrohte Schriftsteller erschien als Opfer, sondern die durch seinen satirisch-­religionskritischen Roman in ihrem Selbstwertgefühl und ihrer moralischen Integrität »verletzte muslimische Gemeinschaft«.

 

Kulturrelativismus und »Islamophobie«

Inzwischen hat sich die kulturrelativistische Auffassung, dass sich in einer multikulturellen Gesellschaft die Redefreiheit den Sensibilitäten der religiösen Gefühle unterzuordnen und aus Respekt vor der kulturellen »Identität« des »Anderen« zurückzutreten habe, genauso auf breiter Front durchgesetzt wie die Vorstellung, dass aufgrund einer allgegenwärtigen »Islamophobie« die Muslime besonders verletzlich seien. Dass trotz aller Proteste, Anschläge und Morddrohungen in Großbritannien der Penguin-Verlag vor 20 Jahren nicht daran dachte, die Veröffentlichung von Rushdies Roman zurückzuziehen, sondern lieber seine Mitarbeiter in kugelsicheren Westen zur Arbeit antreten ließ, erscheint heute kaum noch vorstellbar. Spätestens nach dem Karikaturenstreit genügt oft schon die bloße Antizipation muslimischer Proteste, um zurückzuweichen. Im jüngsten Fall der geplanten Veröffentlichung einer schwülstigen Liebesgeschichte um Mohammed und seine jüngste Frau Aisha reichte die Expertise einer besorgten Islamwissenschaftlerin, damit der amerikanische Verlag Random House das Projekt sofort einstellte.

Bereits im Jahr 1993 ereignete sich in Genf eine für diese Entwicklung bezeichnende Geschichte: Der für seine Nähe zur globalisierungskritischen Bewegung bekannte »Euro-Islamist« Tariq Ramadan protestierte in einem offenen Brief gegen eine geplante Aufführung von »Mahomet«, einem Stück des Aufklärers Voltaire, weil dieses die Gefühle der muslimischen Gemeinde verletze. Es waren dann Erica Deuber-Pauli, die als »alternativ« geltende damalige Genfer Kulturchefin, sowie der grüne Kulturminister des Kantons, Alain Vessade, die die Aufführung verhinderten, indem sie dem Projekt die nötigen Subventionen verweigerten.

 

Die Rolle des Postkolonialismus

Zur Geschichte des von der Rushdie-Affäre ausgehenden Kulturrelativismus gehört auch die Rolle des Postkolonialismus, der sich während der neun­ziger Jahre zu einer Art Leittheorie der antirassistischen und Kulturlinken mauserte. Zunächst fand Rushdie hier durchaus Unterstützung. Der bedeutende postkoloniale Theoretiker Homi K. Bhabha etwa zitierte in seinen Arbeiten regelmäßig Passagen aus den »Satanischen Versen« als Beispiele für sein Konzept der Hybridität. Doch es waren schließlich gerade auch Postkolonialisten, die die ideologische Unterfütterung für die islamistische Identitätspolitik lieferten. Das zeigt etwa ein Blick in postkoloniale Standardliteratur wie den von Tariq Modood und Pnina Werbner 1997 herausgegebenen Sammelband »Debating Cultural Hybridity«. Dort urteilte Peter van der Veer über mordlüsterne Anti-Rushdie-Demonstranten, die »wütenden Reaktionen der muslimischen Immigranten drückten deren berechtigte Gefühle aus«, und fand es »ironisch, dass die Migranten, welche die Vorhut des politischen Widerstandes gegen die assimilatorischen Tendenzen des Nationalstaates bilden (…), verdammt werden, während der postmoderne hybride Romancier (von Liberalen und dem Staat) für seinen Kampf gegen genau diesen oppositionellen Widerstand gepriesen wird«. Das richtete sich nicht nur gegen Rushdie, sondern sollte auch noch eine linke Kritik des »elitären«, »sterilen« und natürlich »bourgeoisen« Hybriditätskonzeptes des Rushdie-Anhängers Homi Babha darstellen. Pnina Werbner sagte: »Solche Blasphemie polarisiert und verschärft nur moralische Gegensätze.«

Aus einer scheinbaren Äquidistanz, die »Essentialisierungen auf beiden Seiten« zu kritisieren vorgab, wurde der von Islamisten angestachelte, bücherverbrennende Mob, der keineswegs die Mehrheit der Migranten repräsentierte, zum »authentischen« Repräsentanten migrantischer Kämpfe erklärt. Der religionskritische Kosmopolitismus Rushdies hingegen wurde als Kollaboration mit westlicher »Islamophobie« und Kultur­imperialismus denunziert. Zwar distanzierte man sich selbstverständlich vom Mordaufruf Khomeinis, dennoch vollzog man den Schulterschluss mit dessen antizivilisatorischem Affekt. Indem ausgerechnet die hinter den islamistischen Anführern versammelten, regressivsten Angehörigen der britisch-muslimischen Bevölkerung zu den authentischen Vorkämpfern für deren berechtigte Belange erklärt wurden, leistete man dem stereotypen Bild der Muslime als religiös fanatisierter Freiheitsfeinde in Wirklichkeit noch Vorschub.

 

Islamistische Identitätspolitik

Die Fatwa gegen Rushdie geriet aus dieser Art postkolonialer Perspektive zu einem Gründungsakt legitimer muslimischer Identitätspolitik in Großbritannien und der gesamten europäischen Diaspora. Das wird bis heute auch so von Tariq Modood vertreten, der bereits Anfang der neunziger Jahre »Islamophobie« als angebliches Motiv der Verteidiger Rushdies ausmachte. An ihm lässt sich gut zeigen, wie postkolonialistische Sozialwissenschaftler die islamistische Identitätspolitik seit der Rushdie-Affäre akzeptierend begleitet haben. Modood tritt seit den frühen neunziger Jahren für die Ausweitung der auf das Christentum zugeschnittenen britischen Blasphemiegesetze auf den Islam ein, ebenso für die Einführung eines Gesetzes gegen »Anstachelung religiösen Hasses«, mit dem sich gegen »islamophobe« Beleidigungen vorgehen ließe. Beides zählte auch von Anfang an zu den Forderungen der islamistischen Rushdie-Gegner und wird bis heute von islamischen Verbänden wie dem Muslim Council of Britain (MCB) eingeklagt, dem wichtigsten islamischen Verhandlungspartner der britischen Regierung. Kenan Malik weist darauf hin, wie die seit den achtziger Jahren in Großbritannien verfolgte Politik des Multikulturalismus zum Aufstieg des Islamismus beigetragen hat, indem die Moscheegemeinden und ihre religiösen Führer als Gesprächspartner für alle sozialen Probleme im Zusammenhang mit Migration herangezogen wurden. Das »gab der konservativen Führung dieser Gemeinden eine größere Autorität und drückte die eher weltlichen Gruppierungen an den Rand«.

Viele Führungsfiguren des MCB waren während der Rushdie-Affäre radikale Führer der Kampagne. Der 2005 von der Queen zum Ritter geschlagene langjährige MCB-Vorsitzende Sir Iqbal Sacranie äußerte damals, der Tod sei eine noch viel zu geringe Strafe für Rushdie. Anlässlich erneuten Aufruhrs um die Verleihung der Ritterschaft auch an Salman Rushdie im Juni 2007 distanzierte sich Inayat Bunglawala, ein weiterer prominenter Sprecher des MCB, von Aufrufen zur Gewalt und seiner eigenen früheren Beteiligung an Bücherverbrennungen. Gleichzeitig schwelgte er aber in geradezu nostalgischen Erinnerungen an die alle ansonsten verfeindeten islamischen Fraktionen in Großbritannien einigende und für die britisch-muslimische Community identitätsstiftende Wirkung der Proteste gegen Rushdies Buch.

 

Selbstzensur und Kumpanei

Auch in Deutschland empfehlen heute postkolonialistische linke Kultur- und Sozialwissenschaftler regelmäßig Selbstzensur aus Rücksicht auf religiöse Empfindlichkeiten von Muslimen, wie im Falle der Mohammed-Karikaturen und anlässlich der Ermordung des niederländischen Regisseurs Theo van Gogh 2004 wegen seines zusammen mit Ayaan Hirsi Ali gedrehten islamkritischen Films »Submission«. Ayaan Hirsi Ali und andere islamkritische Feministinnen wie Seyran Ates oder Necla Kelek werden oft denselben Vorwürfen ausgesetzt wie ehedem Salman Rushdie: Kollaboration mit westlicher Hegemonie, »Islamophobie« und Rassismus.

Wie weit die Kumpanei mit dem Islamismus und das antiwestliche Ressentiment in der postkolonialen Theorieszene im weiteren Gefolge der Rushdie-Affäre geht, zeigt beispielhaft ein Blick auf einen neueren Text von Pnina Werbner, in dem sie sich mit der britisch-muslimischen »Community« und der »Translocation of Culture« beschäftigt. Sie behauptet, von der Rushdie-Affäre ausgehend über den israelisch-palästinensischen Konflikt, 9/11, den Irak-Krieg bis zu den Londoner Anschlägen vom Juli 2005 sei eine »Spirale fortschreitender Entfremdung von Muslimen in Großbritannien« in Gang gesetzt worden und habe zu wachsender »Islamophobie« im Westen geführt. Als hoffnungsvolle Gegenentwicklung und Zeichen einer »wachsenden Integration von Muslimen in die britische Gesellschaft« führt sie dann ausgerechnet die Allianz von Friedensgruppen und der den Muslimbrüdern nahestehenden Muslim Association of Britain (MAB) in der »Stop the War Coalition« (StWC) an. Das ist der von einem Bündnis aus trotzkistischen Linken der SWP und den Islamisten der MAB dominierte Zusammenschluss, dessen Demonstrationen gegen den Irak-Krieg durch mangelnde Distanz zum mörderischen Regime Saddam Husseins und aggressiven Antizionismus auffielen. Zuletzt organisierte die StWC in London im Januar Massendemonstrationen gegen den Gaza-Krieg, auf denen es zu Parolen wie »Wir sind alle Hamas« und zu antisemitischen Hassausbrüchen kam. Werbner selbst zieht damit im Zeichen des Postkolonialismus eine ­direkte, affirmative Linie von der Rushdie-Affäre zu den übelsten Allianzen heutiger Linker mit Islamisten.