Die Pro-Choice-Bewegung vermeidet die Auseinandersetzung mit pränataler Diagnostik

Keine Angst vor Komplexität

Die Pro-Choice-Bewegung sollte sich auch komplizierten Fragen stellen, wie denen zur Pränataldiagnostik.
Disko Von

Nicht alle Schwangerschaftsabbrüche werden vorgenommen, weil die Schwangerschaft ungeplant oder ungewollt war. Bei einigen Abtreibungen hatten sich die werdenden Eltern sogar schon auf ihr zukünftiges Kind gefreut – diese sind die wohl schwierig­sten Abbrüche für die Schwangeren selbst, aber auch in der politischen Einordnung für die feministische Bewegung. Wenn die Schwangerschaft erwünscht oder angenommen war, aber wegen der pränatalen Feststellung einer Beeinträchtigung des Fötus wieder in Frage gestellt und oft auch spät abgebrochen wird, ändern sich die persönlichen Prozesse und die gesellschaftlichen Bewertungskriterien. Bei solchen Abbrüchen greift die Pro-Choice-Bewegung mit ihrer Fokussierung auf die freie Entscheidung für oder gegen die Fortsetzung einer Schwangerschaft als Ausdruck reproduktiver Autonomie zu kurz. Dennoch vermeidet die Bewegung die Beschäftigung mit pränataler Diagnostik und späten Abtreibungen weitestgehend.

Die Kritik an der Kriminalisierung von Schwanger­schaftsabbrüchen und diejenige an Pränataldiagnostik ohne Behandlungsoption als Ausdruck von Ableismus sind miteinander vereinbar.

Die Pro-Choice-Bewegung möchte sich für alle Personen einsetzen, die (ungewollt) schwanger werden können. Sie tendiert jedoch dazu, vor allem bestimmten Geschichten Aufmerksamkeit zu verschaffen, worauf bereits Rona Torenz hingewiesen hat. Die Komplexität des Themas reproduktiver und sexueller Gesundheit und Selbstbestimmung wird dadurch häufig reduziert.

Die Entscheidungen für oder gegen pränataldiagnostische Untersuchungen und das Austragen eines Fötus mit Beeinträchtigung oder einen späten Schwangerschaftsabbruch werden geprägt von gesellschaftlichen Normen und Machtstrukturen. Wie frei und selbstbestimmt kann die Entscheidung tatsächlich sein in einer kapitalistischen, leistungsorientierten Gesellschaft, die Behinderung weiterhin als defizitbehaftete und leidvolle individuelle Tragödie versteht?

Zwar wurde in Deutschland die em­bryopathische Indikation im Zuge der jüngsten Reform des Paragraphen 218 im Jahr 1995 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, da sie als behindertenfeindlich angesehen wurde. Trotzdem finden weiterhin späte Schwangerschaftsabbrüche nach einem auffälligen pränatalen Befund statt. Besteht die »Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung« des »seelischen Gesundheitszustands« der schwangeren Person und kann diese »Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden«, kann von ärztlicher Seite nach Paragraph 218a eine medizinische Indikation gestellt werden.

In den Erfahrungsberichten von Personen, die einen solchen Spätabbruch nach pränataler Diagnose vornehmen ließen, geht es jedoch wenig um ihre eigene psychische Gesundheit, sondern vielmehr um die Sorgen um das Wohl des werdenden Kindes, von dem sie befürchteten, dass es ihm wegen der Behinderung nicht gut gegangen wäre, und dem sie ein schweres Schicksal ersparen wollten. Im Vordergrund der Erzählungen steht also das vermeintlich leidvolle Leben, das dem zukünftigen Kind nicht zugemutet werden soll.

Die Annahme, aus einer Behinderung lasse sich ableiten, dass das spätere Kind kein glückliches Leben zu erwarten habe, entspricht allerdings mehr gesellschaftlich verbreiteten Vorurteilen als den realen Empfindungen behinderter Menschen. Eine intersektionale feministische Bewegung, wie sie die Pro-Choice-Bewegung sein will, sollte gute Lebensbedingungen für alle fordern, um auch Entscheidungen gegen die Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik und für die Geburt eines Kindes mit Behinderung ohne Nachteile und Angst zu ermöglichen. Dies fordern Feministinnen mit Behinderung schon seit Jahrzehnten, genauso wie die Auseinandersetzung von nichtbehinderten Feministinnen mit diesen Problemen und ihrer eigenen Behindertenfeindlichkeit.

Aber auch die Beschäftigung mit den Angeboten der Pränataldiagnostik ist wichtig. Viele Pro-Choice-Feministinnen gehen davon aus, dass mehr Wissen besser sei, da es eine bessere Entscheidungsgrundlage biete. Allerdings ist die Annahme, die in einer gynäkologischen Praxis angebotenen Tests dienten immer dem Wohl des werdenden Kindes, irrig. Es können zwei Arten pränataler Untersuchungsmethoden unterschieden werden. Zum einen gibt es Untersuchungen, die nach gesundheitlich relevanten Auffälligkeiten suchen, die medizinisch behandelt werden können. Hierzu zählen beispielsweise Ultraschalluntersuchungen, mit deren Hilfe Organfehlbildungen wie Herzfehler festgestellt und nach der Geburt entsprechend behandelt werden können. Solche Untersuchungen sind tatsächlich sinnvoll. Zum anderen gibt es pränatale Untersuchungen, die nur eine Information über die Gene des Fötus liefern, zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Trisomie 21. Eine Aussage über die zu erwartende Ausprägung der Beeinträchtigung ist damit allerdings nicht möglich. Da es sich hierbei um eine genetische Variante und keine Fehlbildung oder Erkrankung handelt, kann und muss nicht medizinisch interveniert werden. Die einzige Handlungsoption, die sich aus dem Ergebnis für werdende Eltern ergibt, ist die Entscheidung für einen späten Abbruchs aufgrund der Diagnose.

In der Praxis verschwimmen medizinisch begründete Pränataldiagnostik und Methoden ohne anschließende Behandlungsoption allerdings häufig zu einer unübersichtlichen Vielfalt von Angeboten, wobei angeblich alle Untersuchungen Sicherheit geben, Ängste nehmen, dem Wohl des werdenden Kindes zuträglich sein sollen und somit sinnvoll erscheinen.

Eine feministische Auseinandersetzung mit der Thematik ist auch wichtig, um eine kritische Alternative zu Pränataldiagnostik und Spätabtreibungen ablehnenden Positionen von rechtskonservativer Seite zu bieten. Wie bereits Lina Dahm dargelegt hat, beansprucht die »Lebensschutzbewegung« das Thema Pränataldiagnostik für sich und inszeniert sich als moralische Instanz gegen Behindertenfeindlichkeit. Dabei geht es dieser Bewegung aber nur um die Verhinderung von Abbrüchen. Während die »Lebensschutzbewegung« die Rechte schwangerer Personen weiter einschränken will, zielt eine feministische Kritik auf einen antiableistischen gesellschaftlichen Wandel. Durch eine Auseinandersetzung mit dem Thema bliebe eine klare Abgrenzung gegenüber der »Lebensschutzbewegung« erhalten oder würde diese sogar schärfen.

Warum also widerstrebt es so vielen Pro-Choice-Aktivistinnen, im Sinne eines intersektionalen Feminismus, der sich für wirkliche Entscheidungsfreiheit einsetzt, Positionen zu Pränataldiagnostik, späten Abtreibungen und Ableismus zu entwickeln? Es wird argumentiert, die Diskussion über Spätabbrüche nach einer pränatalen Diagnose könnte den Konsens innerhalb der Pro-Choice-Bewegung gefährden. Dabei sind die Kritik an der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und diejenige an Pränataldiagnostik ohne Behandlungsoption als Ausdruck von Ableismus durchaus miteinander vereinbar. Denn letztere Kritik richtet sich wohlgemerkt nicht gegen schwangere Personen, die Pränataldiagnostik in Anspruch nehmen und sich im Fall eines auffälligen Befunds für einen Abbruch entscheiden, sondern gegen die behindertenfeindlichen Denkweisen, die die Gesellschaft und auch die Medizin durchziehen. Die von Pro-Choice-Feministinnen hochgehaltene Selbstbestimmung sollte kritisch hinterfragt werden, sobald sie gesellschaftliche Probleme in Form individualisierter Eigenverantwortung thematisiert.

Dass die Pro-Choice-Bewegung eine antiableistische Position zu Pränataldia­gnostik einnimmt, ist überfällig. Sie könnte zum Schulterschluss mit Feministinnen aus der Behindertenbewegung führen, dem »Lebensschutz« eine fortschrittliche Inklusionsforderung entgegenstellen und die radikale Forderung nach der Streichung des Paragraphen 218 weiter kontextualisieren.