Das Liefergeschäft boomt, die Arbeitsbedingungen der Fahrradkuriere bleiben schlecht

Liefern bis zum Letzten

Das kalte Wetter der vergangenen Wochen machte den Fahrrad­kurieren von Lieferdiensten wie Lieferando, Wolt und Gorillas zu schaffen. Ein Unternehmen hingegen gehört jedenfalls zu den Gewinnern der Pandemie.
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Als das Wetter in den ersten Februarwochen immer kälter und das Radfahren immer gefährlicher geworden sei, habe das Problem in den Netzwerken der sogenannten Rider die Runde gemacht, sagt M. im Gespräch mit der Jungle World. Er arbeitet in Berlin als Rider, also als Auslieferer, beim Lieferdienst Lieferando und will anonym bleiben.

Die Schwierigkeiten seien für Fahrerinnen und Fahrer aller Unternehmen erheblich gewesen: Es sei zu kalt, die Straßen und Wege seien glatt gewesen, Gangschaltungen und Bremsen hätten nicht mehr zuverlässig funktioniert. Während der Fahrt seien Getränke in den Flaschen eingefroren, die Kleidung habe nicht warmgehalten. »Spätestens, als es zu schneien begann, war klar, dass es so nicht weitergehen konnte«, sagt M. Aber es seien weiterhin Bestellungen eingetroffen. Einige Rider hätten E-Mails an ihre sogenannten Dispatcher, die die Aufträge zuteilen, geschrieben, andere die App zur Kommunikation genutzt, um auf die gefährlichen Umstände hinzuweisen.

Beim Lieferdienst Gorillas wurde die Arbeit den Angaben der Initiative »Riders United Gorillas« zufolge nach der Intervention der Arbeite­rinnen und Arbeiter für eine ganze Woche eingestellt.

T., der in Berlin für den Lieferdienst Wolt arbeitet und ebenfalls anonym bleiben will, sagt, er habe seinen Arbeitgeber wiederholt auf die Wetterlage hingewiesen. Statt vernünftiger Vorschläge zur Problemlösung habe er die nur vordergründig freundliche Nachricht erhalten: »Dann fahr vorsichtig« – mit einem blauen Herzchen geschmückt.

Schließlich verständigten sich die ­Rider in ihren Netzwerken, nicht auf eine Weisung von oben zu warten, ­sondern den Unternehmen zu melden, dass das Wetter die Arbeit nicht zulasse. So wollten sie erwirken, dass der Betrieb eingestellt wird.

In den sozialen Medien wandten sich die Rider dann an die Öffentlichkeit und wiesen darauf hin, dass man ihnen mit einer Bestellung bei Anbietern helfen könne, bei denen den Auslieferern freigestellt sei, zu arbeiten oder nicht. Das habe Druck aufgebaut, sagt M. Lieferando stellte vor zwei Wochen den Betrieb stufenweise ein, überließ die Entscheidung, Essen auszuliefern, den Fahrerinnen und Fahrern oder ordnete an, die Bestellungen zu Fuß auszuliefern.

Wolt gab lange nicht nach. In einem Interview mit dem Videoprojekt Kom­­mon erzählt ein Rider, das Unternehmen habe lange darauf beharrt, dass keine Gefahr bestehe und weiterge­fahren werden könne. Erst als vor zwei Wochen ein Schneesturm tobte, habe der Betrieb vorübergehend pausiert, sagt die Person in dem Interview. Alle Interviewten wollten anonym bleiben.

T. erinnert sich noch an den Moment, als ihm die Arbeit im Schneetreiben vor Augen geführt habe, was es heißt, wenn Profit über Sicherheit geht. Die Arbeit sei noch anstrengender als sonst gewesen und er habe im größten Gestöber eine Lieferung abgegeben. »Da schickt einem die App einfach den nächsten Auftrag. Das ist gnadenlos.« Für ihn habe das Verhalten seines Arbeitgebers einen Vertrauensbruch dargestellt, nach dem es schwer sei, weiterzuarbeiten.

Bei Gorillas wurde die Arbeit den Angaben der Initiative »Riders United Gorillas« zufolge nach der Intervention der Arbeiterinnen und Arbeiter für eine ganze Woche eingestellt. Sie hatten, so die Mitteilung, in den Warenlagern direkt abgestimmt und entschieden, dass es zu gefährlich sei, bei Minusgraden und Schnee weiterzuarbeiten. Das Unternehmen dementierte dies auf Anfrage der Website supermarktblog.com: Es habe den Schichtbetrieb »eigenständig eingestellt und kein Fahrer wurde zu irgendeiner Zeit gezwungen, Bestellungen auszuliefern«. Einen »Berlin-weiten Streik der Rider« habe es nicht gegeben.

Öffentliches Aufsehen wegen schlechter Arbeitsbedingungen ist nichts Neues in der Branche. Scheinselbständigkeit, unbezahlte Wartezeiten sowie das Arbeiten mit dem eigenen Fahrrad und dem eigenen Smartphone statt mit einer von der Firma gestellten Ausrüstung sind weit verbreitet. Auch adäquate Winterausrüstung müssen viele Auslieferer aus eigener Tasche zahlen.

Da kommt ein Stellenangebot von Gorillas fast arbeitnehmerfreundlich daher (Schneller, als die Eiscreme schmilzt). Das Start-up-Unternehmen hebt hervor, den ­Ansatz »Riders First« zu verfolgen: feste Arbeitsverhältnisse, eine Bezahlung von 10,50 Euro in der Stunde plus Trinkgeld, bezahlte Wartezeit und E-Bikes als Arbeitsmittel. Ein Twitter-Post der »Riders United Gorillas«, rückt diesen Eindruck zurecht. Aus dem Englischen übersetzt heißt es da: »Willkommen im Jahr 2021, in dem ein befristeter Ein-Jahres-Vertrag mit einem Stundenlohn knapp über dem Mindestlohn, E-Bikes und gelegentliches Trinkgeld vom Arbeitgeber als Vergünstigungen ange­sehen werden.«

Anderswo sieht es nicht besser aus: Wolt zahlt zu einem Basislohn von zehn Euro in der Stunde streckenabhängige Pauschalen je Lieferung. Angaben der Berliner Zeitung zufolge arbeiten in Berlin 1 500 Auslieferer für die Firma.

Das Unternehmen Lieferando gehört zu den Gewinnern der Pandemiekrise, trotz der öffentlich bekannt gewordenen schlechten Arbeitsbedingungen. »Im dritten Quartal sind wir hier um 38 Prozent gewachsen. Monatlich vermitteln wir derzeit rund zehn Millionen Bestellungen an Restaurants in Deutschland«, sagte Katharina Hauke, die Geschäftsführerin von Lieferando Deutschland, im Dezember dem Tagesspiegel. Wolt und Gorillas nutzten die erhöhte Nachfrage nach Lebensmittellieferungen in der Pandemie, um ins Geschäft einzusteigen. Lie­ferando hat auch eine sogenannte kontaktlose Lieferung eingeführt, »um die Sicherheit aller Beteiligten zu erhöhen«: Die Bezahlung wird online abgewickelt, die Auslieferer klingeln, legen die Bestellung vor der Tür ab und warten mit Sicherheitsabstand, bis die Kunden sich die Ware ins Haus geholt haben.

Aus Sicht der Arbeiterinnen und Arbeiter gestaltet sich aber längst nicht alles so sicher. Orry Mittenmayer, ehemaliger Rider und Mitbegründer der Kampagne »Liefern am Limit«, kritisiert schon seit Beginn des ersten Lockdowns die fehlenden Schutzmaßnahmen und fordert mit einer Online-Pe­tition: »Desinfektionsmittel, Schutzkleidung und bessere Arbeitsbedingungen für Lieferando-Fahrer!« Ähnliche For­derungen stellt auch die Lieferando-Betriebsgruppe der Gewerkschaft FAU.