Im Zweiten Weltkrieg wurden Millionen sowjetische Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt

Verschleppt ins Reich

Drei Millionen Menschen aus der Sowjetunion mussten während des Zweiten Weltkriegs im Deutschen Reich Zwangsarbeit leisten. Das Ausmaß der Verbrechen an den »Ostarbeitern« wurde in Deutschland verdrängt, Entschädigungszahlungen wurden lange abgewehrt.

Ein blaues Rechteck mit dem weißen Schriftzug »Ost«, 70 mal 77 Millimeter groß: Mit diesem Stoffabzeichen ver­sahen deutsche Polizisten die zivilen Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion, solche aus Polen trugen ein »P«. Am 20. Februar 1942 gab der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, die sogenannten Ostarbeiter-Erlasse bekannt, eine Reihe rassistischer Sondergesetze über den Status und die Behandlung sowjetischer Zwangsarbeiter. Fast drei Millionen Menschen verschleppten die Nazis aus der Sowjetunion, insgesamt gab es auf dem Höhepunkt, im Sommer 1944, 7,5 Millionen ausländische Arbeitskräfte im Reichsgebiet. In Deutschland schufteten sie in der Industrie, auf Bauernhöfen oder in Haushalten.

Die Mehrheit der sogenannten Ostarbeiterinnen stammte aus der heutigen Ukraine. Die typische Zwangsarbeiterin sei eine 18jährige Schülerin aus der ländlichen Sowjetunion gewesen, schreibt die Historikerin Christine Glauning, die Leiterin des Dokumenta­tionszentrums NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide. Unter der deutschen Besatzung war die sowjetische Bevölkerung einer Strategie des Aushungerns unterworfen. Die letzte Hungersnot lag da noch nicht lang zurück: Als Ende der zwanziger Jahre die sowjetische Regierung die Kollektivierung der Landwirtschaft erzwungen hatte, waren allein in der ukrainischen Sowjetrepublik im später so benannten Holodomor über drei Millionen Menschen verhungert. Nun wurden die ländlichen Kolchosen der Kontrolle der Besatzer unterstellt, Essens­rationen sollten stark reduziert werden. Deutschland plante, die sowjetische Bevölkerung hungern zu lassen, um die eigene Versorgung sicherzustellen.

Vertreter von Firmen und Privat­personen reisten an und suchten sich in Durchgangslagern Arbeits­kräfte aus.

Nadeschda Imsalkowa, die 1942 als Ostarbeiterin von Kiew nach Erfurt verschleppt wurde, hat ihre Erinnerungen genauso wie Hunderttausende weitere Betroffene dem Archiv der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial anvertraut. Darin erzählt sie: »Die Geschäfte in Kiew waren geplündert. Nach zwei Monaten hatten die Leute ihre Vorräte aufgegessen, da begann der Hunger.«

Die Deutschen hatten zunächst nicht vorgehabt, Menschen aus den be­setzten Teilen der Sowjetunion zu verschleppen. Kontakt zwischen der sowjetischen und deutschen Bevölkerung war zu vermeiden, denn in der Ideologie der Nazis galt die Sowjetunion als Träger des »jüdischen Bolschewismus« und die sowjetische Bevölkerung als »Untermenschen«. Doch insbesondere die Rüstungsindustrie brauchte Arbeitskräfte. »Es gab ein kontinuierliches Spannungsverhältnis zwischen Ideo­logie und Ökonomie«, sagt die Historikerin Christine Glauning der Jungle World. Mit Fortgang des Krieges habe sich das Bedürfnis nach Arbeitskräften immer mehr durchgesetzt.

Die Nazis propagierten einen Arbeitseinsatz im »Dritten Reich« als Möglichkeit für die sowjetische Bevölkerung, dem Hunger zu entkommen. »Aufgrund der Hungersnot meldeten sich zunächst einige wenige Menschen aus einer gezwungenen Freiwilligkeit heraus«, sagt Glauning. Kurz darauf griffen die Besatzer jedoch auf brutale Massendeportationen zurück. Jede Ortschaft hatte eine Quote an Zwangsarbeitern zu erfüllen, sonst übten die Nazis Vergeltung. Dazu gehörte das Niederbrennen ganzer Landstriche. Von April bis Dezember 1942 deportierten die Nazis auf diese Weise rund 40 000 Menschen wöchentlich. Gegen Ende der Besatzung, im Jahr 1944, verschleppten sie ganze belarussische Dörfer nach Deutschland, darunter auch Kinder.

In Durchgangslagern wurden die Ostarbeiter ihren Arbeitsorten zugewiesen. Vertreter von Firmen und Privatpersonen reisten an und suchten sich Arbeitskräfte aus. Georgij Tkatschow, der aus dem südlichen Russland nach Bayern verschleppt wurde, erinnerte sich später: »Alle waren gekauft worden, nur ich blieb übrig. Dann kam ein Mann rein, so um die fünfzig, untersetzt, dicklich. Ein Bauer, wie sich herausstellte. Der hat mich dann gekauft, dieser Deutsche.«

Das Leben der sowjetischen Arbeiterinnen und Arbeiter in Deutschland wurde durch die Ostarbeiter-Erlasse reglementiert, Lebensbedingungen und Essensrationen waren schlechter als die von Arbeitern aus Nord- oder Westeuropa. Abgesondert von Zwangsarbeitern anderer Nationen brachte man sie in Lagern unter. Sie durften keinen Kontakt zur deutschen Bevölkerung haben und den Arbeitsplatz nicht verlassen. Die Arbeit war schwer und der Hunger setzte sich in Deutschland fort. Trotzdem verübten vereinzelte Ostarbeiter immer wieder Akte des Widerstands, zum Beispiel Sabotage. Tat­jana Schelamskaja, die für einen deutschen Bauern arbeitete, erinnerte sich: »Um ihnen zu schaden, diesen Schweinen, haben wir es so gemacht – sie ­geben uns Kohl und Rüben, die sollten wir einpflanzen, wir aber heben eine Grube aus und vergraben alles darin.«

Drakonische Strafen gehörten zum Alltag. Gegen Ende des Kriegs sprachen deutsche Richter zuweilen zwei bis drei Hinrichtungsbefehle täglich aufgrund sexueller Kontakte zu deutschen Frauen aus. Auch wer in deutschen Familien arbeiten musste, bekam die menschenverachtende Ideologie der Arbeitgeber zu spüren. Irina Sokolowa, die nach Freising verschleppt wurde, erinnerte sich später an einen Streit mit der Frau des Hauses, weil sie versehentlich deren Schlüssel mitgenommen hatte. Die Auseinandersetzung endete mit den Worten: »Denk dran, nicht weit von hier ist Dachau!«

Der Rassismus der Deutschen gegen osteuropäische Frauen wird auch am Umgang mit schwangeren Ostarbeiterinnen deutlich. Ab 1942 führten Ärzte an ihnen Schwangerschaftsabbrüche durch. Kam es trotzdem zur Geburt, verschleppten die Deutschen die als »schlechtrassig« bezeichneten Neu­geborenen sofort in sogenannte Pflegestätten für Ausländerkinder, wo sie unter Hunger und Vernachlässigung litten. Insgesamt 75 000 Kinder von Ostarbeiterinnen hatten deutsche ­Behörden im Jahr 1944 registriert. Die meisten von ihnen haben nicht bis zum Kriegsende überlebt und liegen heute auf deutschen Friedhöfen be­graben.

Die letzten Kriegsmonate waren für viele der Ostarbeiter besonders traumatisch. Bunker durften sie nicht betreten und ihre Lager lagen häufig mitten in deutschen Städten. Den alliierten Angriffen waren sie deshalb schutzlos ausgesetzt. Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hatte Stalin mit den Alliierten vereinbart, alle so­wjetischen Bürger nach Kriegsende zu repatriieren – also auch die Ostarbeiter, für die ein demütigender Weg in ihre Heimat folgte. In sogenannten Filtrationslagern mussten sie Untersuchungen über sich ergehen lassen, einige von ihnen schickte man wegen »Kollaboration mit dem Feind« ins Straflager. Das Stigma und die Scham aufgrund des Vorwurfs, sie hätten den Deutschen geholfen, ziehen sich durch die Lebensgeschichte der Betroffenen.

Auch auf eine Anerkennung aus dem Land der Täter mussten die Betroffenen lange warten. In ihrem Essay »Rassismus und Geschlechterdifferenz: Zwangsarbeit ausländischer Frauen im Zweiten Weltkrieg« resümiert Christine Glauning: »Fand der Vernichtungskrieg in den besetzten Gebieten jenseits der alltäglichen Wahrnehmung der ›ganz normalen‹ Deutschen statt, so ist die Entrechtung und Ausbeutung von mehrheitlich osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen und auch die Tötung ­ihrer Kinder bereits während des Krieges vielen bekannt gewesen: zu viele Zuschauer:innen, Mit­wisser:in­nen und (Mit-)Täter:innen waren beteiligt, als dass dieses Verbrechen hätte im Verborgenen bleiben können.« Trotzdem erkannte man in Deutschland die Verbrechen an den Ostarbeitern nicht rechtlich an.

Die Nürnberger Prozesse verhandelten zwar den millionenfachen Einsatz von Zwangsarbeitern. In den fünfziger Jahren gelang es der Bundesrepublik ­jedoch, alle Reparationsforderungen bis auf die abschließende Regelung in einem Friedensvertrag aufzuschieben. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis das Thema wieder öffentlich diskutiert wurde. Im Jahr 1989 forderten die Abgeordneten der Grünen erstmals im Bundestag, Millionen von »vergessenen Opfern« in Osteuropa für ihre Zwangsarbeit zu entschädigen. Dass es letztlich dazu kam, ist jedoch weder auf Druck aus der deutschen Bevölkerung zurückzuführen noch auf die späte Einsicht von Politikern oder Unternehmen, sondern vor allem auf Sammelklagen vor US-Gerichten gegen deutsche Unternehmen. Die Bundes­regierung und über 6 000 deutsche Unternehmen gründeten daraufhin im Jahr 2000 gemeinsam die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«, die fortan die Entschädigungszahlungen an einstige Zwangsarbeiter koordinierte. Anträge konnten bis zum 31. Dezember 2001 eingereicht werden. Viele einstige Ostarbeiter waren zu diesem Zeitpunkt jedoch schon verstorben. Häufig haben sie ihr Lebensende in Armut verbracht.

Ihr Schicksal spielt in der deutschen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nach wie vor nur eine randständige Rolle. Die Historikerinnen Franziska Davies und Katja Makhotina sehen in ihrem 2022 veröffentlichten Buch »Offene Wunden Osteuropas« eine Ursache darin, dass jahrzehntelang deutsche Täter das Gespräch über NS-Verbrechen in Osteuropa dominiert hätten – untermalt mit mythologisierten Erinnerungen an Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion und die Schlacht um Stalingrad. In der Bundesrepublik habe sich der Antibolschewismus im Antikommunismus der Jahre des Kalten Kriegs fortgesetzt. In der DDR wiederum habe der antifaschistische Gründungsmythos eine aufrichtige Beschäftigung mit der deutschen Täterschaft verhindert. Eine empathische Auseinandersetzung mit den Opfern aus Osteuropa habe demnach in keinem der zwei Staaten stattgefunden. Viele der Orte, an denen Ostarbeiterinnen arbeiten mussten, verfielen heute, kritisieren die Autorinnen. Zahlreiche Grabsteine seien mit der Inschrift »Unbekannter Russe« gekennzeichnet, nach wie vor werde allzu häufig die Sowjetunion mit Russland gleichgesetzt.
Viel zu lange habe man über die Verbrechen, die die Nazis an den Ostarbeitern verübt haben, geschwiegen, meint auch Christine Glauning. Sie sagt: »Insbesondere jetzt, da die Zeitzeugenschaft endet, ist es wichtig, die Erinnerung an sie am Leben zu erhalten.«