Im Iran werden Schulen seit Monaten mit Gas attackiert

Gift gegen Mädchen

Im Iran gibt es eine Serie schwerer Vergiftungen an Mädchenschulen, die seit Wochen anhält. Das Regime zeigt wenig Willen, die Angriffe aufzuklären.

Die Meldungen über Vergiftungen an Mädchenschulen und Wohnheimen für Studentinnen im Iran häufen sich. Der erste Fall ereignete sich Ende ­vorigen Novembers in Qom, dort wurde auch der erste Todesfall bekannt: Am 26. Februar starb ein Mädchen an den Folgen einer Vergiftung in dem zentraliranischen Wallfahrtsort. Inzwischen sind Schülerinnen im ganzen Land betroffen, der regimefeindlichen Nachrichtenplattform 1 500 Tasvir vom 5. März zufolge wurden mehr als 304 Schulen mit Giftgas angegriffen.

Nach Angaben eines Parlamentsabgeordneten mussten in den vergangenen Wochen mehr als 1 200 Mädchen wegen Atemnot, Übelkeit und Herz­rasen medizinisch behandelt werden, davon 800 allein in Qom. Einige hatten berichtet, sie hätten zischende Geräusche gehört und dann Dämpfe ­eingeatmet, die nach Mandarinen, Chlor und Reinigungsmitteln gerochen ­hätten.

Proteste von Eltern gegen diesen Terror gegen junge Mädchen und teilweise auch Studentinnen weiteten sich am Wochenende auf das ganze Land aus. Mit einem Schulstreik machten Schülerinnen landesweit auf die Gefahren an ihren Schulen aufmerksam. Die iranischen Lehrergewerkschaften schlossen sich an und forderten Sicherheit für die Kinder. Das Regime spielte die Vorfälle zunächst herunter: Die Mädchen seien nicht Opfer von gezielten Vergiftungen ge­worden, sondern hätten andere gesundheitliche Probleme.

Dann änderte es die Kommunikationsstrategie. Anfang Februar schaltete sich Präsident Ebrahim Raisi ein und wies das Innenministerium an, die Vergiftungsserie zu ­untersuchen. Es war die erste öffentliche Reaktion des Präsidenten auf die Vorfälle. In einer Rede am Freitag vergangener Woche sprach er von einer »Verschwörung des Feindes, um Angst und Verzweiflung in der Bevölkerung zu schüren«. Wer der Feind sein soll, erwähnte er nicht, üblicherweise sind mit dieser Rhetorik Israel und die USA gemeint.

Die deutliche Mehrheit der Iraner:innen im In- und Ausland geht davon aus, dass hinter den Attacken das Regime selbst steht.

Einige Abgeordnete aus Irans Pseudoparlament machen extremistische ­religiöse Gruppierungen für die Anschläge verantwortlich, die gegen die Bildung von Mädchen seien; eine Vermutung, die vereinzelt auch in Deutschland aufgegriffen wurde. Die deutliche Mehrheit der Iraner:innen im In- und Ausland geht hingegen davon aus, dass hinter den Attacken das Regime selbst stehe. Im Iran werden ­sogar Farbkäufe kontrolliert, um festzustellen, wer möglicherweise regimekritische Slogans auf Wände malt – es gilt als ausgeschlossen, dass eine unabhängige Organisation Giftgas besorgen und systematisch im ganzen Land Anschläge ausüben könnte, ohne vom Regime bemerkt zu werden. Zudem zeigt das Regime keinen ernsthaften Willen, die seit Monaten andauernden Angriffe aufzuklären.

Bis zum Wochenende wurden keinerlei ­Ermittlungsergebnisse präsentiert, die verwendete Substanz ist noch nicht identifiziert. Am Montag äußerte sich erstmals der Oberste Führer Ali Khamenei, der im Iran in allen politischen Grundsatzfragen das letzte Wort hat, zur Vergiftungswelle und bezeichnete sie als »unverzeihliches Verbrechen«, deren Urheber »streng bestraft werden« müssten. Am nächsten Tag gab der stellvertretende Innenminister Majid Mirahmadi im staatlichen Fernsehen erste Verhaftungen bekannt, ohne nähere Angaben zu den Personen.

Die in die USA emigrierte iranische Journalistin und Frauenrechtlerin Masih Alinejad sieht ein Motiv der Vergiftungen darin, gegen die Mädchen vorzugehen, die an der Spitze der Protestbewegung stünden, die nach dem Tod der 22jährigen Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam ihren Anfang nahm. Nach Einschätzung von Menschenrechtlern sind seit Beginn der Proteste im September mehr als 500 Menschen getötet und fast 20 000 Demonstrierende festgenommen worden.

Auf Twitter verwies Alinejad auf eine Rede Khameneis, der am 3. Oktober in seiner ersten Stellungnahme zu den Protesten gesagt habe, die Mädchen müssten »bestraft« werden, auf diese Weise werde das Problem mit den Protes­tierenden gelöst. Zudem hätten einige vergiftete Studentinnen Vorladungen zur Moralpolizei bekommen, berichtete 1 500 Tasvir; das könnte für eine ­gezielte Rache des Regimes sprechen. Außerdem wurden am Wochenende ­Videos verbreitet, die zeigen, wie unter den Vergiftungen leidende Mädchen brutal von Wachleuten in Kleinbusse gezerrt wurden.

Oppositionelle kritisieren die unzureichenden Reaktionen der westlichen Welt auf diesen mutmaßlichen Staatsterrorismus. Eine dieser schwachen Reaktionen kam von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock. Auf Twitter forderte sie, die Fälle müssten »lückenlos aufgeklärt« werden. Damit appelliert sie weiter an das Regime. Eine mögliche Ausweisung des iranischen Botschafters und die Listung der Revolutionsgarden als Terrororganisation in der EU, wie Oppositionelle fordern, erwähnte sie nicht.

Unterdessen wurden am Montag drei Journalisten und drei Dissidenten zum Verhör vorgeladen, nachdem sie den Umgang der Regierung mit den Vorfällen in Frage gestellt hatten.

Auch der Moderator Ali Pourtabatabaei, der für die Website Qomnews regelmäßig über die Giftanschläge in Qom berichtet hatte, wurde der reformorientierten Zeitung Etemad zufolge verhaftet. Weitere Mädchen wurden am Dienstag in Krankenwagen aus ihren Schulen gebracht, während vor dem Bildungsministerium in Teheran Demonstra­tionen stattfanden, wie die Nachrichtenagentur AFP berichtet. Lehrer hätten demnach in mehreren iranischen Städten protestiert, Ordnungskräfte mehrere Demonstrationen mit Wasserwerfern und Tränengas aufgelöst und führende Gewerkschaftsvertreter festgenommen.