Virginie Despentes’ Roman »Liebes Arschloch« gilt in Frankeich nicht als preiswürdig

Post vom winselnden Chihuahua

In Virginie Despentes’ Briefroman »Liebes Arschloch« geht es um Wut, die sich auch mit Drogen nicht mehr betäuben lässt.

Sarah Jessica Parkers Wutausbruch wurde berühmt. »Jeder hat«, empörte sich die Schauspielerin in einem ­Interview 2021 über hämische Kommentare zu ihrem Alter, »etwas zu sagen: ›Sie hat zu viele Falten, sie hat nicht genug Falten.‹ Ich weiß, wie ich aussehe. Ich habe keine Wahl. Was soll ich dagegen tun? Aufhören zu altern? Verschwinden?«

Auch Schauspielerin Rebecca, eine der drei Hauptfiguren in Virginie Despentes’ neuem Roman »Liebes Arschloch«, kämpft mit über 50 Jahren um Rollen, Beachtung und Anerkennung und gegen beschämende Kommentare. Gerade hat der ebenfalls nicht mehr ganz junge Schriftsteller Oscar auf seinem Instagram-Account behauptet, von ihrer einst göttlichen Schönheit sei nichts mehr übriggeblieben, Rebecca sei alt, auseinandergegangen, verlebt, sie habe schlechte Haut und sei überhaupt zu einem schmuddeligen, lauten Weibsstück verkommen.

Die Schauspielerin antwortet prompt und ­direkt auf den unverschämten Post: »Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie eine Taube, die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter kackt. Das ist dreckig und sehr unangenehm. Fiep, fiep, fiep, ich bin ein kleiner Angsthase, für den niemand sich interessiert, und winsle wie ein Chihuahua, weil ich davon träume, dass man mich bemerkt.« Nach einem solch deftigen Wortwechsel, möchte man meinen, sollte erst mal Ruhe sein. Doch für Oscar und Rebecca ist es nur der Auftakt zu einer digitalen Brieffreundschaft. In hingebungsvollem Hass verbunden, schreiben sie einander immer neue Mails, die sich durch eine schizophrene Mischung von Verachtung und Mitgefühl für­einander auszeichnen.

Während der aus dem Proletariat stammende Oscar sich nach jeder Abweisung nur noch stärker zu Rebecca hingezogen fühlt, wirkt diese von der Aura des bösen Buben zunehmend fasziniert. Oscar steht derzeit im Mittelpunkt eines riesigen Shitstorms, nachdem seine frühere Assistentin Zoé ihn des sexuellen Missbrauchs bezichtigt hat. Nun klagt der Autor seiner neuen Komplizin sein Leid. Rebecca hadert zwar mit der neuen Generation junger Feministinnen, aber sie hat keinen Zweifel daran, dass Oscar ein übergriffiges Ekel ist und dass alle Vorwürfe, die seine ehemalige Referentin gegen ihn erhebt, der Wahrheit entsprechen – anzügliche Blicke und sexistische Sprüche, Berührungen, Nachstellungen und vieles mehr. Anstatt sich zu den Vorwürfen zu äußern, verdrängt Oscar die Sache, indem er dem Alkohol frönt und sich beleidigt wegduckt. Für ihn läuft das alles unter offensivem Flirten.

Im Buch bietet nicht die Politik den Weg zur Erlösung, sondern der Gang zu den Narcotics Anonymous, der anonymen Selbsthilfeorganisation für Drogensüchtige.

Zoé ist eine radikale Netzfeministin, und wie es sich für eine solche gehört, ist sie fast nur in Form ihrer Blogeinträge präsent. Was sie so treibt, wenn sie nicht gerade einen solchen schreibt, erfährt man nicht. Despentes stellt mit Rebecca und Zoé zwei Frauen vor, die für ihre jeweilige Generation durchaus typisch sind. »Simone de Beauvoir«, ätzt Zoé, »hätte sich nie über die Hand auf ihrem Hintern beschwert, nein Simone, das war die Belle Époque – damals schwiegen die vergewaltigten Frauen, drückten sich die hässlichen an den Wänden entlang, versteckten sich die Lesben, jagte man die Dienstmädchen davon, die man mit einer schnellen Nummer geschwängert hatte.« Wo die Rebeccas dieser Welt die Schmach aushielten, fangen die Zoés an zu reden.

Während Zoé noch einigermaßen die sprachliche Contenance bewahrt und kämpferische Blogeinträge über die Zukunft des Feminismus verfasst, scheißen Rebecca und Oscar auf sensible Sprache. Nicht etwa, weil sie diese nicht beherrschen würden, sondern weil sie in ihren Augen eine Sprache der Loser ist. So reden bloß Menschen, die in ihrem Leben nichts aushalten, um nichts kämpfen mussten; Menschen, die die Sprache der Straße nie kennengelernt haben.

Denn auch das schimmert bei all der Härte, die Oscar im Umgang mit sich und anderen zeigt, immer wieder durch – die Wut darüber, dass man die soziale Herkunft nie ganz abstreifen kann und sie einen sogar noch zur Dankbarkeit zwingt: »Als müsste ich persönlich für die Ungleichheiten im Kapitalismus, für den defekten sozialen Fahrstuhl haften – oder man reibt mir feixend unter die Nase, ›na, an den Luxus hast du armes Arbeiterkind dich aber schnell gewöhnt‹. Ich mag ihn, ihren Luxus, aber es kommt mir vor, als müssten sie sich ständig aufs Neue beweisen, dass die restliche Welt sie beneidet. Deshalb müssen sie für so viel Elend sorgen.«

Es ist diese Härte, mit der die beiden auf die Welt blicken, die sie der Gesellschaft entfremdet. Ihre Verletztheit verbergen die beiden, so gut es geht. Die Kindheit, das Erwachsenwerden, die Karriere, der Fall, die Drogen.

Überhaupt: die Drogen! Nie käme Rebecca auf die Idee, ihre Eltern für ihre Sucht verantwortlich zu machen: »Wenn man als Junkie auf dem Polizeirevier seine Abrechnung bekommt, denkt man selten an die Eltern. Selbst wenn sie dich nicht geliebt haben, wenn du sie genervt hast, wenn du das überzählige Kind warst das enttäuschende Kind das dumme Kind das hässliche Kind. Die Wahrheit, die du im Gefängnis findest, ist eine politische Wahrheit.« Im Buch bietet nicht die Politik den Weg zur Erlösung, sondern der Gang zu den Narcotics Anonymous, der anonymen Selbsthilfeorganisation für Drogensüchtige.

Fünf Jahre sind vergangen, seit der letzte Band von Despentes’ Bestseller »Das Leben des Vernon Subutex« erschienen ist. Auch ihr neuer Roman »Liebes Arschloch« ist ein scharfsinnig-pointiertes Gesellschaftsporträt. Trotz der Arschlochhaftigkeit der Charaktere kann man überraschenderweise auch gewisse Sympathien für sie entwickeln, auch dafür, dass die Protagonisten ihrer Wut verbal freien Lauf lassen.

Obgleich der Roman in Frankreich viele positive Kritiken bekam, hat er es nicht auf die Longlist des wichtigsten Literaturpreises, des Prix Goncourt, geschafft hat. Die rohe Sprache, mit der der Sexismus im Literatur- und Theaterbetrieb dargestellt wird, sei nicht mit den Kriterien der Académie Goncourt zu vereinbaren, ließ diese verlauten.

Virginie Despentes: Liebes Arschloch. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis. Kiwi, Köln 2023, 336 Seiten, 24 Euro