»Das Leben des Vernon Subutex« von Virginie Despentes als Graphic Novel

Der Sensenmann dreht auf

Der ehemalige »Charlie Hebdo«-Karikaturist Luz hat den ersten Band der Trilogie »Das Leben des Vernon Subutex« von Virginie Despentes mehr als nur kongenial in einer ebenso bedrückenden wie rauschhaften Graphic Novel adaptiert.
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In »Jitterbug Perfume«, einem Roman, den der junge Vernon Subutex 1984 garantiert gelesen hat und vermutlich wie alles andere später auf Ebay verscheuern musste, um die Miete immer wieder zusammenzustottern, erzählt Tom Robbins eine frei erfundene Sage: Sie handelt von einem König, der sich jeder Lust und Ausschweifung hingeben kann, ohne auch nur im Geringsten dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Im Gegenteil: Sein Volk, insbeson­dere sein Hofstaat, verzeihen es ihm nicht nur, sie erwarten es sogar von ihm. Er verkörpert das, dem die anderen entsagen müssen, führt ein Leben, wie es Pan in der antiken Mythologie zugeschrieben wird. Und so wie Pan der einzige antike Gott ist, der je zu irdischen Zeiten starb, als seine Zeit abgelaufen war, römischer Drill griechischen Leichtmut verdrängt hatte – so überliefert es jedenfalls Plutarch –, so ergeht es auch diesem König. Da ein Pan mit Arthritis und Glatze nicht vorstellbar ist, wird der sinnenfrohe Monarch getötet, sobald ihm das erste graue Haar wächst, weswegen er sie sich penibel ausrupft, um die Hinrichtung so lange wie möglich herauszuschieben.

Die Geschichte des Vernon Subutex zerfällt hier ebenso wie der Protagonist selbst, der stoisch dem eigenen Niedergang zusieht, in Trümmer, in kurze Episoden, in denen der Cartoonist seine Stärke, die der Pointe und der Kürze, voll entfalten kann.

Dem ehemaligen, vor Jahren bereits pleite gegangenen Plattenhändler Vernon Subutex trachtet niemand nach dem Leben, er verliert es, ohne zu sterben. Vernon, einst eine Art subkultureller König in einem Reich aus Vinyl und Memorabilia und vor allem aus den Träumen und Hoffnungen, die sich damit verknüpften, ist gezwungen, nach Ablauf seines Verfallsdatums weiterzuexistieren. Bei einem Zwischenstopp auf dem Weg nach ganz unten zupft ihm Émilie, in besseren Tagen Bassistin einer Punkband, nun Friseurin, die weißen Haare aus und färbt die angegraute Tolle – doch das ändert nichts an Vernons Schicksal, die soziale Hinrichtung vollzieht sich in quälenden Raten: Er bleibt in den späten nuller Jahren allein übrig, unwillig oder unfähig (das macht auch keinen großen Unterschied), den Wegen seiner ehemaligen Freunde, Kunden und Bewunderinnen zu folgen: raus aus Paris, in die Provinz, wegen der Kosten und der Arbeit, hinein in die Werbeagenturen – wie die, die Vernon von seinem Küchenfenster aus ­sehen konnte, als er noch eine Wohnung hatte –, oder in den frühen Tod, wie der beinharte Clash-Fan Bertrand, den der Lungenkrebs dahinrafft, und der Rockstar Alex Bleach, der den Jim-Morrison-Tod in der Badewanne stirbt.

Konsequenterweise ist es denn auch der Sensenmann in (Un-)Person, der in der Geschichte vom unaufhaltsamen Abstieg des Vernon Su­bu­tex den Erzähler gibt und den ­Leser immer wieder unmittelbar anspricht. Der Tod setzt den konsequent schwarzen Rahmen, in den Luz (bürgerlich: Rénald Luzier) seine Comic-Adaption des ersten Bandes der Romantrilogie von Virginie ­Despentes stellt. Luz hat dabei seinen konsequent harten und erbarmungslosen Strich, wie man ihn von Charlie Hebdo kennt, in keiner Weise gemäßigt, wie es eigentlich nötig wäre, um eine konventionelle Graphic Novel zu zeichnen, die ihre Figuren chronologisch entwickelt, ihre räumlichen und zeitlichen Hintergründe erklärend ins Bild setzt. Das ist Luz’ Sache nicht: Die Geschichte des Vernon Subutex zerfällt hier ebenso wie der Protagonist selbst, der stoisch dem eigenen Niedergang zusieht, in Trümmer, in kurze Episoden, in ­denen der Cartoonist seine Stärke, die der Pointe und der Kürze, voll entfalten kann. Bisweilen alptraumhaft gehen Vernons Hirngespinste, Erinnerungsfetzen, sexuelle Phantasien und Sequenzen seines Alltags in bitterer Armut, deren seltene Höhepunkte es sind, mal eine Filter­zigarette zu rauchen und nicht die Kippen vom Vortag aufbröseln und wieder drehen zu müssen, inein­ander über.

Die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Zeit- und Sinnebenen werden hier nicht durch Unterschiede in der Koloration oder in der Anordnung der Panels angezeigt, denn da lässt Luz sich nur von der jeweiligen Episodenstimmung und -dramaturgie leiten und spielt dabei durch, was nur irgend auf ein rechteckiges Blatt zu bringen ist. Albencover und Songfetzen, Ausschnitte aus Konzerten und Fernsehsendungen oder ­typische Kleidung oder Haarschnitte sind es, die anzeigen, wo man sich befindet, auf der Zeitreise von etwa 1980, als der junge Vernon in dem Plattenladen anheuert, der sein Schicksal bestimmen sollte – sein damaliger Chef erklärt hier gerade ­einem Kunden, was ihn auf dem Album »Ace of Spades« der aufstrebenden Band Motörhead erwartet –, bis ans Ende der nuller Jahre – Rihanna säuselt ihren Hit »Umbrella« von 2007 auf einem Bildschirm in der Wohnung, in die sich Vernon ­gerade einzuquartieren versucht (von wegen komm’ unter meinen Regenschirm ).

Dass sich nicht nur die Zeiten, sondern die Zeit selbst, sprich die Weise, wie man sie erlebt und empfindet, im Lauf dieser 30 Jahre von Tempo­beschleunigung und Aufmerksamkeitsverkürzung verändert hat, auch das deutet Luz in einer Tagtraumsequenz an: Aus Plattenkisten steigen Vernons wichtigste Alben auf, Alben, die samt und sonders aus dem Jahrzehnt stammen, das dem Auftakt der Geschichte vorausgeht, etwa Soft Machines »Third« (1969) oder Black Sabbaths »Vol. 4« (1972). Samt und sonders vertonen sie auch ein anders Zeitempfinden, man muss anhören und kann nicht nur zuhören, wenn Soft Machine über vier Albenseiten hinweg instrumental Grundthemen in wahre Klang­labyrinthe verwandeln, oder Black Sabbath durch bleischwere Riffs und abstruse Geschichten wanken. Gewiss, es waren die Musikbörsen und Streaming-Dienste, die Vernons Laden und Soziotop den Garaus machten, doch hätten beide auch Jahrzehnte von Popmusik, die nur noch allerprimitivste Hörererwartungen haargenau getunt bedient, wohl ebenso wenig überleben können.

Den, wenn man so will, dazu passenden programmatischen Teil nehmen die Zwiegespräche ein, die Vernon in verschiedenen Zuständen der Entrückung mit seinem verstorbenen Freund Alex Bleach führt, der als Pubertierender in Vernons Laden die LP »Rock for Light« der schwarzen Hardcore-Pioniere Bad Brains entdeckt hatte (also etwa 1983) und zum Rockstar wurde. Er bezahlte Vernon, nachdem sein Laden pleite gegangen war, eine Weile die Miete, Alex’ Tod hat entsprechend Vernons Obdachlosigkeit zur direkten Folge, beider rock dreams sind ausgeträumt. Eine Wutrede Alex’, die Vernon zur einen Hälfte in kollabiertem Zustand in der Badewanne einer Bekannten hört, zur anderen auf einem Laptop stierend (Zeitstempel des Videos: »15. Januar 2010«), der im Wohnzimmer läuft, läutet scheinbar das Finale ein. »Heute treffe ich Leute, die mit zwanzig Konkurrenzdenken in der Schule oder Marketing in der Firma gelernt haben und mir einreden wollen, wir hätten die gleiche Jugend gehabt. Ich sag nichts dazu. Vergiss es, Alter, vergiss es!« ruft Alex. Vernon verschwindet daraufhin, man sieht ihn schlafend auf einer Parkbank neben Alex’ Geist sitzen – tot? Gewiss nicht: In Frankreich soll im September der zweite Band der Subutex-Trilogie, gezeichnet von Luz, erscheinen.

Luz-Despentes: Vernon Subutex. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Lilian Pithan, Handlettering von Olav Korth. Reprodukt, Berlin 2022, 304 Seiten, 39 Euro