Das französische Coming-of-Age-Drama »Der Gymnasiast«

Mit sanfter Wucht

Der schwule Lucas hat seinen Vater verloren und versucht, in der großen Stadt auf Abstand zu gehen: Christophe Honorés Film zeigt in beeindruckender Weise das Erwachsenwerden eines jungen Mannes.

Autos passieren ein am Straßenrand aufgestelltes Kreuz, das an ein Unfallopfer erinnert. Schnitt. Ein Wagen steht vor einem ländlichen, bürgerlichen Haus in einer bergigen Gegend der französischen Provinz. Auf dem Beifahrersitz sitzt ein Jugendlicher, nachdenklich in sich zusammengesunken, den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt. Seine Mutter, gespielt von Juliette Binoche, streicht ihm durchs Haar, fragt: »Willst du nicht fahren?« Er will nicht.

So stellt Regisseur Christophe Honoré dem Zuschauer Lucas (Paul Kircher) vor, den Protagonisten seines neuen Coming-of-Age-Dramas »Der Gymnasiast«. Direkt danach stellt dieser sich selbst vor, denn der Film ist durchsetzt mit authentisch scheinenden Monologen von Lucas, die er vor einem schwarzen Hintergrund in die Kamera spricht.

Unfalltod des Vaters
Das Leben des 17jährigen ist durch den Unfalltod seines Vaters aus den Fugen geraten, an diesen erinnert das Kreuz aus der ersten Einstellung. ­Honoré erzählt zunächst im Stil einer an Claude Sautets »Die Dinge des ­Lebens« erinnernden Collage von diesem Unfall. Die Monologe, Szenen der Trauer in der erzählerischen Gegenwart, und Rückblenden auf Lucas’ Zeit im Internat sowie Gespräche mit seinem Vater, gespielt vom Regisseur selbst, gehen ineinander über.

Die Kamera tastet Lucas, seine Mutter Isabelle und seinen Bruder Quentin (Vincent Lacoste) in den Momenten des ersten Schocks unruhig ab, aufdringlich und zärtlich intim zugleich. Lucas ist seine Überforderung anzusehen. Seine anlässlich des Unfalls versammelten Angehörigen fragt er lächelnd, wie es ihnen gehe, und erst, als er sich in sein Zimmer zurückzieht, bricht er zusammen.

Honoré erzählt seine Geschichte mit einer melancholischen und zugleich lebensnahen Verträumtheit.

Der Verlust des Vaters trifft Lucas an der Schwelle zwischen Jugend und Erwachsenwerden, und der für seine Darstellung mehrfach ausgezeichnete Paul Kircher schafft es auf beeindruckende Weise, seiner Figur etwas Jugendliches ebenso wie etwas Erwachsenes zu verleihen. Sein Gesicht schillert. Mal wirkt es kindlich, unsicher, verspielt, im nächsten Moment tauchen in seinen Zügen Härte, Abgeklärtheit und auch Lüsternheit auf. Lucas ist schwul, auf seinem Internat pflegt er eine intime Beziehung zu einem Mitschüler, der offenbar in ihn verliebt ist. Doch Lucas weist ihn zurück – er ist sich der Brüchigkeit und Vorläufigkeit der ersten Erfahrungen sehr bewusst.

Nach dem Tod des Vaters soll für ihn alles anders werden. Er ist überzeugt, dass sein altes Leben vorbei ist, und will nicht zurück ins Internat, seine Mutter möchte er nicht allein lassen. Ein übereiltes Erwachsenwerden, das Übernehmen der väterlichen Verantwortung, kommt auch nicht in Frage – darauf weist schon Lucas’ Weigerung aus der Eröffnungsszene hin, den Fahrersitz einzunehmen. Es ist sein Bruder, der Lucas einen vorläufigen Ausweg vorschlägt: Er soll für eine Woche mit ihm nach Paris kommen, wo Quentin versucht, als Künstler Fuß zu fassen. Isabelle ist einverstanden und Lucas von der Idee begeistert.

Schwul, schwarz und Künstler
In Paris lernt er Quentins Mitbewohner Lilio (Erwan Kepoa Falé) ­kennen. Dieser ist schwul, schwarz und ebenfalls Künstler, wirkt angesichts seines ausbleibenden Erfolgs aber eher resigniert und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Zwischen den beiden entsteht eine ambivalente Nähe: Lucas scheint sich in Lilio zu verlieben, dieser empfindet Verantwortungsgefühle für den deutlich jüngeren Schwulen. Schnell wird deutlich, dass Lucas in dieser Freundschaft etwas findet, was der brüderlichen Liebe abgeht: Trotz der körperlichen Nähe, die in Rangeleien ebenso ihren Ausdruck findet wie in Zärtlichkeiten, herrscht zwischen dem heterosexuellen großen und dem homosexuellen kleinen Bruder eine gewisse Verständnislosigkeit, die schließlich im vorzeitigen Rauswurf des Jüngeren endet.

Immer mehr treibt Lucas die Frage um, ob sein Vater mit Absicht den Tod fand. Als er seine Mutter bei einer Pause von der Autofahrt zurück ins Internat mit dieser Frage konfrontiert, reagiert diese wütend und zwingt ihn, in einem Akt schwarzer Pädagogik, in den Fahrersitz. Lucas ­reagiert mit äußerster Verzweiflung, verfällt schließlich in beständiges Schweigen und wird in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht. Erst als Lilio ihn besuchen kommt und mit ihm offen über seine eigene Verlorenheit und Erschöpfung spricht, findet er seine Sprache wieder.

 Lucas und Quentin kommen beim Künstler Lilio (Erwan Kepoa Falé, links) in Paris unter

In der großen Stadt. Lucas und Quentin kommen beim Künstler Lilio (Erwan Kepoa Falé, links) in Paris unter

Bild:
Jean Louis Fernandez

Honoré erzählt diese Geschichte mit einer melancholischen und zugleich lebensnahen Verträumtheit. Lucas’ Monologe sind so poetisch und klug, dass sie nur aus dem Mund eines französischen Teenagers glaubwürdig wirken können. Die Frage nach der Möglichkeit und Unmöglichkeit der Wahrheit in einer Welt ohne Vater wird wie beiläufig mit ihrer ganzen psychoanalytischen und zivilisationsgeschichtlichen Wucht gestellt. Nicht nur das wiederholte Auftauchen von Fragen der Kirche und des Glaubens verweist darauf, dass hier mehr als der individuelle Vater gemeint ist. Als Lucas in dem Stärksten seiner Monologe gesteht, er habe in dem Tod seines Vaters einen Sinn gesucht, spricht er nebenbei die Formel des fortwährenden Scheiterns der Zivilisation aus: Er habe das Schlimmste mit dem Besten verwechselt.

»Der Gymnasiast« ist politisch ein kluger Film.

Die kluge Art und Weise, wie der Film die Dynamiken in Lucas’ Fa­milie zeigt, offenbart einen ebenso klaren wie zarten Blick. Wenn Isabelle, Quentin und Lucas zusammen »Electricity« von Orchestral Manoeuvres in the Dark hören, ein Lied, zu dem Isabelle und ihr Mann gerne ­getanzt haben, werden das Glück der Erinnerung und der Schmerz des Verlusts geradezu physisch erfahrbar. Lucas’ Verständnis für die Depression des Vaters, den sein Leben als Landzahnarzt offenbar nicht erfüllen konnte, trifft den Zuschauer mit sanfter Wucht, ebenso wie Lucas’ Angst vor subtilen väterlichen Vorbehalten gegen seine Homosexualität, die Quentin verständnislos als unbegründet abwehrt.

Und »Der Gymnasiast« ist auch politisch ein kluger Film. Als Lucas, Quentin und Lilio in Paris mit einer woken Galeristin etwas trinken, schlägt diese Lilio vor, sich an einer Ausstellung über »Kunst in Afrika im Zeichen der Diaspora« zu beteiligen. Lilio wird wütend, seine Familie stammt aus Italien, nicht aus Afrika. Quentin versteht das nicht und nimmt die Galeristin in Schutz, sagt, sie habe sich in zahlreichen antirassistischen Gruppen engagiert – er, der junge Linke, kann den progressiven Tribalismus, und was er anrichtet, nicht verstehen.

Großzügiger ­Gebrauch von Farbfiltern
Allerdings wird Quentin auch als humorvoller und mitfühlender ­Bruder gezeigt, und Honorés Drehbuch macht selbst seine partiellen Verhärtungen nachvollziehbar: Als sich nach der Beerdigung des Vaters der weitere Familienkreis versammelt und schnell Diskussionen über Einwanderung und die Thesen des rechtsextremen Politikers Éric Zemmour ausbrechen, scheint er weniger gegen seine politischen Kontrahenten anzuschreien als gegen den Skandal, dass das Leben der anderen nach dem Tod des einen weitergeht.

Die einzige größere Schwäche des Films ist der etwas zu großzügige ­Gebrauch von Farbfiltern. Meist sind die Bilder in ein schwelgendes Violett getaucht, unterbrochen von Szenen in Neonblau, grellem Rot oder überzeichneten Stadtlichtern. Das ist zwar oft schön anzusehen und wirkt hip, macht den Film aber insgesamt ästhetisch kleiner und zeitgebundener, als er es sein müsste. Auch hätte hie und da ein etwas beherzterer Schnitt dem Aufbau der Erzählung gutgetan. Durch die lebendige, teilnehmende Kamera, die entwaffnenden schauspielerischen Leistungen und vor allem Honorés kluges Drehbuch werden diese Schwächen jedoch allemal wettgemacht.

Der Gymnasiast (F 2022). Buch und Regie: Christophe Honoré. Darsteller: Paul Kircher, Vincent Lacoste, Juliette Binoche, Erwan Kepoa Falé